Sie frottierte sich die Haare, dann rieb sie den beschlagenen Spiegel ein Stuck weit frei. Das Spiegelbild erwiderte ihren Blick mit Augen, in denen Zorn und Vernunft glosten. Das Glas beschlug rasch wieder, blieb jedoch lange genug klar, um Tess zweifelsfrei erkennen zu lassen, dass sie diese Sache wirklich ohne Rucksicht auf Konsequenzen durchziehen wollte.

Zu dem schwarzen Rollkragenpullover zog sie eine schwarze Cargohose mit geraumigen aufgesetzten Taschen an. Dann fasste sie ihr Haar zu einem Knoten zusammen und stulpte eine gro?e schwarze Baseballmutze daruber. Der Haarknoten beulte die Mutze hinten etwas aus, aber wenigstens wurde kein potenzieller Zeuge sagen konnen: Ihr Gesicht hab ich nicht richtig erkannt, aber sie hatte langes blondes Haar. Es war hinten mit einem dieser Haargummis zusammengefasst. Sie wissen schon, die Dinger, die man bei J. C. Penney kriegt.

Sie ging in den Keller hinunter, in dem ihr Kajak seit Anfang September lagerte, und nahm die Rolle mit gelber Bootsleine aus dem Regal daruber. Mit der Heckenschere schnitt sie zwei Meter davon ab, wickelte die Leine uber dem Unterarm auf und verstaute das Bundel dann in einer ihrer geraumigen Hosentaschen. Oben in der Kuche steckte sie ihr Schweizer Messer in dieselbe Tasche - die linke. In die rechte Tasche kam der Smith & Wesson Kaliber.38 … und ein weiterer Gegenstand, den sie aus der Schublade neben dem Herd nahm. Dann fullte sie Fritzys Fressnapf mit einer doppelten Portion. Bevor sie ihn fressen lie?, druckte sie ihn jedoch erst noch an sich und kusste ihn oben auf den Kopf. Der alte Kater legte die Ohren an (wahrscheinlich mehr aus Uberraschung als aus Widerwillen; sie war normalerweise kein kussendes Frauchen) und lief zu seinem Napf, sobald sie ihn absetzte.

»Teil dir das gut ein«, ermahnte Tess ihn. »Falls ich nicht zuruckkomme, sieht zwar Patsy irgendwann nach dir, aber das kann ein paar Tage dauern.« Sie lachelte schwach und fugte hinzu: »Ich liebe dich, du klappriges altes Ding.«

Fritzy gab keine Antwort. Er war zu sehr mit Fressen beschaftigt.

Tess uberflog noch einmal ihren NICHT ERWISCHEN LASSEN-Merkzettel, uberprufte in Gedanken ihre Ausrustung und rekapitulierte die Schritte, die sie unternehmen wollte, sobald sie die Lacemaker Lane erreichte. Vor allem wurde sie darauf gefasst sein mussen, dass bei weitem nicht alles so ablief, wie erhofft. Bei solchen Sachen enthielt der Kartenstapel immer ein paar Joker. Ramona war vielleicht nicht zu Hause. Oder sie war da, hatte Besuch von ihrem Saw. Der jungere Bruder - in Colewich bestimmt als Little Driver bekannt - konnte ebenfalls dort sein. Vielleicht war Ramona an diesem Abend Gastgeberin einer Tupperparty oder eines Literaturzirkels. Wichtig war vor allem, sich nicht durch unerwartete Ereignisse verwirren zu lassen. Wenn sie nicht entsprechend improvisieren konnte, hielt Tess es fur sehr wahrscheinlich, dass sie ihr Haus in Stoke Village heute zum letzten Mal verlassen wurde.

Sie verbrannte den NICHT ERWISCHEN LASSEN-Merkzettel im Kamin, verteilte die Asche mit dem Schureisen, zog dann ihre Lederjacke an und streifte dunne schwarze Lederhandschuhe uber. Die Jacke hatte eine tiefe Innentasche. Tess steckte eines ihrer Kuchenmesser hinein, nur als Ruckversicherung, und ermahnte sich dann, nicht zu vergessen, dass es dort war. Das Letzte, was sie an diesem Wochenende brauchte, war eine versehentliche Brustamputation.

Kurz bevor sie aus der Haustur trat, schaltete sie die Alarmanlage ein.

Der Wind fiel sofort uber sie her und lie? ihren Jackenkragen und die Beine der Cargohose flattern. Minizyklone wirbelten Laub auf. An dem nicht ganz dunklen Himmel uber ihrem geschmackvollen kleinen Stuck des vorstadtischen Connecticut zogen Wolken vor einem Dreiviertelmond vorbei. Eine wundervolle Nacht fur einen Horrorfilm, fand Tess.

Sie stieg in den Expedition und knallte die Fahrertur zu. Ein Blatt fiel auf die Windschutzscheibe, wurde aber gleich wieder fortgeweht. »Ich habe den Verstand verloren«, sagte sie nuchtern. »Er ist rausgefallen und in der Wellblechrohre gestorben - oder als ich im Kreis um den Laden geirrt bin.

Sie lie? den Motor an. Tom das TomTom wurde hell und sagte: »Hallo, Tess. Wie ich sehe, machen wir einen Trip.«

»Richtig, mein Freund.« Tess beugte sich nach vorn und gab die Adresse 75 Lacemaker Lane, Brewster, in Toms aufgeraumtes elektronisches Gedachtnis ein.

33

Sie hatte sich Ramonas Wohnviertel mit Google Earth angesehen, und als sie hinkam, sah dort alles unverandert aus. So weit, so gut. Brewster war eine Kleinstadt in Neuengland, die Lacemaker Lane lag am Ortsrand, und die Hauser standen auf gro?en Grundstucken. Tess fuhr mit gemachlichen kleinstadtischen zwanzig Meilen in der Stunde an der Nummer 75 vorbei und stellte fest, dass im Haus Licht brannte und in der Einfahrt nur ein Auto stand: ein fast neuer Subaru, der formlich »Bibliothekarin« schrie. Nirgends eine Spur von einem Frontlenker-Pete oder einem anderen gro?en Sattelschlepper. Auch von keinem alten blauen Pick-up.

Die Stra?e endete an einer Wendeflache. Tess benutzte sie, kam zuruck und bog in Norvilles Einfahrt ab, ohne sich eine Chance zu geben, es sich noch einmal anders zu uberlegen. Sie schaltete die Scheinwerfer aus, stellte den Motor ab und atmete lange und tief durch.

»Komm heil wieder, Tess«, sagte Tom von seinem Platz auf dem Instrumentenbrett aus. »Komm heil wieder, dann leite ich dich zu deinem nachsten Ziel.«

»Okay, ich tue mein Bestes.« Sie griff nach ihrem Notizblock (auf dem jetzt nichts mehr stand) und stieg aus. Den Notizblock hielt sie an ihre Jacke gedruckt, wahrend sie zu

34

Norvilles Haustur war auf beiden Seiten mit stark facettierten Glasstreifen eingefasst. Obwohl das dicke Glas den Blick verzerrte, konnte Tess eine hubsche Tapete und einen Flur mit Parkettboden erkennen. Auf einem Beistelltisch lag ein Stapel Zeitschriften. Vielleicht waren es auch Kataloge. Der Flur ging in einen gro?en Raum uber, in dem ein Fernseher lief. Sie horte singende Stimmen, also sah Ramona sich vermutlich nicht Saw an. Viel eher - wenn Tess recht hatte und der Song »Climb Ev’ry Mountain« hie? - sah sie sich Meine Lieder - meine Traume an.

Tess klingelte. Drinnen ertonte ein Dreifachgong, der die ersten drei Noten von »Dixie« zu spielen schien - eine fur Neuengland seltsame Wahl, aber wenn Tess sie richtig beurteilte, war Ramona Norville ja auch eine seltsame Frau.

Sie horte das Trampeln gro?er Fu?e und drehte sich halb zur Seite, damit das durchs Glas fallende Licht ihr Gesicht nur teilweise erhellte. Sie hielt den leeren Notizblock nun leicht schrag und machte mit einer behandschuhten Hand Schreibbewegungen. Dabei lie? sie die Schultern etwas hangen. Sie war eine Frau, die irgendeine Umfrage machte. Es war Sonntagabend, sie war mude, sie wollte nur noch die Lieblingszahncreme der Hausherrin erfragen (oder vielleicht ob sie Prince Albert in der Dose habe) und dann heimfahren.

Keine Sorge, Ramona, Sie konnen ruhig aufmachen, jeder kann sehen, dass ich harmlos bin, dass ich keiner Fliege etwas zuleide tun konnte.

Aus den Augenwinkeln heraus sah sie hinter dem facettierten Glas ein verzerrtes Fischgesicht in ihr Blickfeld schwimmen. Dann folgte eine Pause, die ihr sehr lang erschien, bevor Ramona Norville die Haustur offnete. »Ja? Was kann ich fur Sie …«

Tess wandte sich ihr zu. Das durch die Tur fallende Licht beleuchtete ihr Gesicht. Und der Schock, den sie auf Norvilles Gesicht sah, dieser starke Schock, der ihr die Kinnlade herabsacken lie?, sagte ihr alles, was sie wissen musste.

»Sie? Was machen Sie h…«

Tess zog den Smith & Wesson Kaliber.38 aus der rechten Vordertasche. Auf der Fahrt von Stoke Village hierher hatte sie sich ausgemalt, wie er sich darin verhakte - hatte sich das mit albtraumhafter Klarheit vorgestellt -, aber der Revolver kam glatt heraus.

»Weg von der Tur! Wenn Sie sie zuzumachen versuchen, erschie?e ich Sie.«

»Das werden Sie nicht«, sagte Norville. Sie trat nicht zuruck, aber sie machte auch keine Anstalten, die Haustur zu schlie?en. »Sind Sie ubergeschnappt?«

»Zuruck!«

Norville trug einen weiten blauen Morgenmantel, und als Tess ihn vorn gewaltig anschwellen sah, hob sie den Revolver. »Beim ersten Laut schie?e ich. Glauben Sie mir lieber, Sie Miststuck, das ist mein voller Ernst.«

Norvilles uppiger Busen verlor schlagartig die Luft. Ihre Lippen waren von den Zahnen zuruckgezogen, und

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