die Augen irrlichterten von einer Seite zur anderen. So sah sie nicht wie eine Bibliothekarin aus, wirkte nicht jovial und herzlich. Tess fand eher, dass sie wie eine Ratte aussah, die au?erhalb ihres Lochs uberrascht worden war.

»Wenn Sie mit dem Ding schie?en, hort das die ganze Nachbarschaft.«

Das bezweifelte Tess, aber sie widersprach nicht. »Ihnen kann das egal sein, weil Sie dann tot sind. Los, rein mit Ihnen! Wenn Sie sich zusammenrei?en und meine Fragen beantworten, leben Sie morgen fruh vielleicht noch.«

Norville wich zuruck, und Tess, die den Revolver mit fast ausgestrecktem Arm hielt, trat in die Diele. Sowie sie die Haustur hinter sich schloss - was sie mit der Ferse tat -, blieb Norville neben dem Tischchen mit den Katalogen reglos stehen.

»Kein Grapschen, kein Werfen«, sagte Tess - und merkte an Ramonas zuckenden Mundwinkeln, dass die Frau genau das vorgehabt hatte. »Ich kann in Ihnen lesen wie in einem Buch. Weshalb ware ich sonst hier? Los, weiter! Ganz bis ins Wohnzimmer zuruck. Ich liebe die Trapp-Familie, wenn sie richtig rockt!«

»Sie sind verruckt«, sagte Ramona, aber sie setzte sich wieder in Bewegung. Sie trug Schuhe. Sogar zu ihrem Morgenmantel trug sie gro?e hassliche Schuhe. Herrenschnurschuhe. »Ich habe keine Ahnung, was Sie hier wollen, aber …«

»Erzahlen Sie mir keinen Schei?, Mama. Trauen Sie sich das blo? nicht. Alles hat auf Ihrem Gesicht gestanden, als Sie die Tur geoffnet haben. Restlos alles. Sie dachten, ich war tot, was?«

»Ich wei? nicht, was Sie …«

»Wir Madels sind hier unter uns, Schatzchen, warum nicht einfach alles zugeben?«

Jetzt waren sie im Wohnzimmer. An den Wanden hingen kitschige Olbilder - Clowns, Waisen mit gro?en Augen -, und viele der Tische und Regale waren mit Kitsch vollgestellt: Schneekugeln, Trollbabys, Hummel- Figuren, Glucksbarchis, ein Pfefferkuchenhaus a la Hansel und Gretel aus Porzellan. Obwohl Norville von Beruf Bibliothekarin war, waren nirgends Bucher zu sehen. Dem Fernseher gegenuber stand ein La-Z-Boy mit einem Lederkissen als Fu?hocker. TV Guide. Auf dem Fernseher stand ein gerahmtes Foto, das Ramona und eine weitere Frau zeigte, die sich umarmten und dabei die Wangen aneinanderlegten. Es schien auf einem Jahrmarkt oder in einem Vergnugungspark gemacht worden zu sein. Vor diesem Foto stand eine glaserne Konfektschale, die unter der Deckenleuchte von innen heraus glitzerte.

»Wie lange machen Sie das schon?«

»Ich wei? nicht, was Sie meinen.«

»Wie lange sind Sie schon Zuhalterin fur den Vergewaltiger und Morder, der Ihr Sohn ist?«

Norvilles Blick flackerte erneut, aber sie leugnete wieder … was Tess vor ein Problem stellte. Als sie hergekommen war, war ihr die Ermordung Ramona Norvilles nicht nur als Moglichkeit, sondern als wahrscheinlichstes Ende erschienen. Tess war sich ziemlich sicher gewesen, dass sie das hinbekam, dass die Bootsleine in der linken Vordertasche ihrer Cargohose unbenutzt bleiben wurde. Nun stellte sie jedoch fest, dass sie nicht weitermachen konnte, bevor die Frau ihre Komplizenschaft gestand. Was auf deren Gesicht gestanden hatte, als sie Tess vor der Haustur hatte stehen sehen - grun und blau geschlagen, aber sonst sehr lebendig -, reichte namlich nicht aus.

Nicht ganz.

»Wann hat es angefangen? Wie alt war er? Funfzehn? Hat er behauptet, er hatte ›nur Spa? gemacht‹? Das behaupten anfangs viele von denen.«

»Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen. Sie kommen in die Bibliothek, liefern eine ganz annehmbare Lesung ab - etwas glanzlos, Sie waren offenbar nur wegen des Geldes da, aber damit war wenigstens die Lucke im Veranstaltungsplan ausgefullt -, und als Nachstes stehen Sie vor meiner

»Sparen Sie sich die Muhe, Ramona. Ich habe sein Foto auf der Website von Red Hawk gesehen. Mitsamt dem roten Ring. Er hat mich vergewaltigt und wollte mich umbringen. Er dachte, er hatte mich umgebracht. Und Sie haben mich zu ihm geschickt.«

Norvilles Mund offnete sich in einer gruseligen Kombination aus Schock, Verzweiflung und Schuldgefuhlen. »Nein, das stimmt nicht! Du blode Fotze, du wei?t nicht, wovon du redest!« Sie setzte sich wieder in Bewegung.

Tess hob den Revolver. »Ahah, tun Sie das nicht. Nein.«

Norville machte halt, aber Tess glaubte nicht, dass die Frau lange stehen bleiben wurde. Sie sammelte ihren Mut, um zu fluchten oder zu kampfen. Und weil sie wusste, dass Tess sie verfolgen wurde, wenn sie tiefer ins Haus fluchtete, wurde sie wahrscheinlich kampfen.

Die Trapp-Familie sang wieder. In der Situation, in der Tess sich befand - in die sie sich selbst gebracht hatte -, war all dieser frohliche Choralschei? unertraglich. Tess lie? den Smith & Wesson mit der rechten Hand auf Norville gerichtet, griff mit der linken nach der Fernbedienung und stellte den Ton ab. Als sie die Fernbedienung wieder hinlegen wollte, erstarrte sie. Auf dem Fernseher standen zwei Dinge, aber anfangs hatte sie nur das Foto von Ramona und ihrer Freundin richtig wahrgenommen; die Konfektschale hatte sie lediglich mit einem Blick gestreift.

Jetzt sah sie, dass das Glitzern, das sie dem Kristallglasschliff der Schale zugeschrieben hatte, nicht von au?en kam. Es ruhrte von etwas her, das darin lag. In der Schale lagen ihre Ohrringe. Ihre Brillantohrringe.

Norville griff sich das Pfefferkuchenhaus aus dem Regal und warf es. Und zwar mit voller Kraft. Tess duckte sich, und das Pfefferkuchenhaus flog zwei Fingerbreit uber ihren

Beide sturzten sich darauf. Norville lie? sich auf die Knie fallen und rammte ihre Schulter gegen Tess’ Arm und Schulter wie ein Footballverteidiger, der einen Quarterback umnieten wollte. Sie griff sich den Revolver, jonglierte erst noch damit und bekam ihn dann richtig zu fassen. Tess griff in ihre Jacke, umklammerte den Griff des Kuchenmessers, das ihre Reservewaffe war, und wusste schon jetzt, dass sie damit nichts mehr wurde ausrichten konnen. Norville war zu gro? … und zu gluckenhaft. Ja, so war es! Sie hatte ihren verbrecherischen Sohn viele Jahre lang beschutzt und war entschlossen, das auch jetzt zu tun. Tess hatte sie in der Diele erschie?en sollen, sobald die Haustur hinter ihr ins Schloss gefallen war.

Aber ich konnte nicht, dachte sie, und selbst in diesem Augenblick war das Wissen, dass dies die Wahrheit war, ein kleiner Trost. Sie richtete sich Ramona Norville gegenuber auf den Knien auf.

»Sie sind eine beschissene Schreiberin, und Sie waren eine beschissene Rednerin«, sagte Norville. Sie lachelte und sprach immer schneller. Ihre Stimme hatte die naselnde Redeweise eines Versteigerers angenommen. »Sie haben Ihren Vortrag hingehauen, genau wie Sie Ihre damlichen Bucher hinhauen. Sie waren perfekt fur ihn, und er war kurz davor, wieder jemanden umzulegen, ich kenne die Anzeichen. Ich habe Sie zu ihm geschickt, und es hat geklappt, und ich bin froh, dass er Sie gefickt hat. Ich wei? nicht, was Sie sich erwartet haben, als Sie hier aufgekreuzt sind, aber jetzt mussen Sie mit dem hier vorliebnehmen.«

Norville druckte ab … und es war nichts als ein trockenes Klicken zu horen. Bei dem Schie?unterricht, den Tess

Ein Ausdruck fast komischer Uberraschung zog uber Norvilles Gesicht. Er machte sie wieder jung. Wahrend sie auf den Revolver in ihrer Hand hinunterstarrte, zog Tess das Messer aus der Jackeninnentasche, taumelte vorwarts und stie? es Norville bis zum Heft in den Bauch.

Die Frau lie? einen glasigen »OOO-OOOO«-Laut horen, der ein Schrei zu sein versuchte, es aber nicht schaffte. Tess’ Revolver fiel scheppernd zu Boden, und Ramona, die weiter auf den Messergriff hinabstarrte, torkelte ruckwarts gegen die Wand. Mit dem fuchtelnden Arm traf sie eine Reihe von Hummel-Figuren. Sie kippten vom Regal und zerschellten auf dem Fu?boden. Sie machte noch einmal diesen »OOO-OOOO«-Laut. Die Vorderseite des Morgenmantels war noch unbefleckt, aber unter dem Saum begann Blut auf Ramona Norvilles Mannerschuhe zu platschen. Sie umklammerte den Messergriff mit beiden Handen und wollte die Klinge herausziehen, wobei sie zum dritten Mal den »OOO- OOOO«-Laut horen lie?.

Sie sah unglaubig zu Tess auf. Tess erwiderte den Blick. Sie musste an etwas denken, das sich an ihrem zehnten Geburtstag ereignet hatte. Ihr Vater hatte ihr eine Steinschleuder geschenkt, und sie war losgezogen, um Dinge zu suchen, auf die sie damit schie?en konnte. Irgendwo, funf oder sechs Stra?en von ihrem Haus entfernt, hatte sie einen raudigen Stra?enkoter gesehen, der in einer Mulltonne wuhlte. Sie hatte einen kleinen Stein in die Schleuder gelegt und auf den Hund geschossen, nur um ihn zu verscheuchen (hatte sie sich eingeredet), aber dann hatte sie ihn am Rumpf getroffen. Der Koter hatte jammerlich aufgeheult und war

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