»Ramona«, sagte sie, »im Augenblick fuhle ich eine gewisse Verwandtschaft mit Richard Widmark. So machen wir’s mit Verratern, Schatzchen.«

Norville stand in einer Lache aus eigenem Blut, und auf ihrem Morgenmantel waren schlie?lich blutige Mohnbluten erschienen. Sie war kreidebleich im Gesicht. Ihre unnaturlich geweiteten Augen glitzerten vor Schock. Die Zungenspitze erschien und glitt langsam uber die Unterlippe.

»Jetzt konnen Sie sich lange rumwalzen und daruber nachdenken - wie finden Sie das?«

Norville sackte zusammen. Ihre Mannerschuhe machten in der Blutlache quatschende Gerausche. Sie tastete nach einem der anderen Regale und riss es dabei von der Wand. Ein Trupp Glucksbarchis kippte nach vorn und verubte Selbstmord.

Obwohl Tess nach wie vor weder Reue noch Bedauern empfand, merkte sie, dass sie trotz ihres gro?spurigen Geredes wenig von Tommy Udo in sich hatte; sie verspurte keinen Drang, Norvilles Leiden zu beobachten oder zu verlangern. Der Strickclub Willow Grove macht eine Fahrt ins Blaue geschrieben hatte.

Man wusste nie, wann Recherchen sich als nutzlich erweisen wurden.

»Sie verstehen das nicht.« Norvilles Stimme war ein heiseres Flustern. »Das durfen Sie nicht tun. Sie machen einen Fehler. Bringen Sie mich … Krankenhaus.«

»Den Fehler haben Sie gemacht.« Tess zog den Topfhandschuh uber den Revolver in ihrer rechten Hand. »Als Sie Ihren Sohn nicht haben kastrieren lassen, sobald Sie wussten, wie er veranlagt ist.« Sie presste den Handschuh an Ramona Norvilles Schlafe, drehte den Kopf leicht zur Seite und druckte ab. Dabei war ein dumpfes, nachdruckliches Plah! zu horen, so als rausperte sich ein gro?er Mann energisch.

Das war alles.

35

Nach Al Strehlkes Adresse hatte sie nicht gegoogelt; sie hatte erwartet, sie von Ramona Norville zu erfahren. Aber wie sie sich schon selbst mahnend gesagt hatte, liefen solche Dinge nie nach Plan ab. Fur sie kam es jetzt darauf an, einen kuhlen Kopf zu bewahren und den Job zu Ende zu bringen.

Norvilles Arbeitszimmer lag im Obergeschoss, ein Raum, der vermutlich als Gastezimmer gedacht gewesen war. Dort

Mich hat sie nicht gebeten, mein Foto zu signieren, dachte Tess. Naturlich nicht, weshalb sollte sie den Wunsch haben, an eine beschissene Schreiberin wie mich erinnert zu werden? Ich war im Prinzip nur eine Sprechpuppe, die eine Lucke in ihrem Veranstaltungskalender fullen sollte. Von Fleisch fur den Fleischwolf ihres Sohns ganz zu schweigen. Was fur ein glucklicher Zufall fur die beiden, dass ich genau zur rechten Zeit aufgekreuzt bin.

Auf Norvilles Schreibtisch stand unter einer Pinnwand voller Rundschreiben und Bibliotheksnotizen ein Mac, der Tess’ Computer sehr ahnlich sah. Der Bildschirm war dunkel, aber das Signallampchen des Rechners zeigte ihr, dass der Mac sich nur im Ruhezustand befand. Sie tippte mit einer behandschuhten Fingerspitze auf eine der Tasten. Der Bildschirm wurde neu aufgebaut, und sie hatte Norvilles elektronischen Schreibtisch vor sich. Ganz ohne diese verdammten Passworter, wie nett.

Sie klickte das Adressbuch-Icon an, scrollte zum Buchstaben R hinunter und fand einen Eintrag fur Red Hawk Trucking. Die Anschrift war 7 Transport Plaza, Township Road, Colewich. Sie scrollte zum Buchstaben S weiter und fand nicht nur ihren ubergro?en Bekannten von Freitagnacht, sondern auch Lester, den Bruder ihres Bekannten. Big Driver und Little Driver. Beide wohnten in der Township Road in der Nahe der Firma, die sie von ihrem Vater geerbt haben mussten: Alvin in Nummer 23, Lester in Nummer 101.

Gabe es einen dritten Bruder, dachte Tess, waren sie die Drei Kleinen Trucker. Einer in einem Haus aus Stroh, einer in einem Haus aus Stocken, einer in einem Haus aus Ziegeln. Aber leider sind’s nur zwei.

Unten im Erdgeschoss nahm sie ihre Brillantohrringe aus der Glasschale und steckte sie in eine Tasche ihrer Lederjacke. Dabei sah sie die in sitzender Haltung an der Wand lehnende Tote an. In ihrem Blick lag kein Mitleid, nur die Befriedigung, mit der man zum Abschied ein hartes Stuck Arbeit musterte, das nun vollbracht war. Wegen belastender Spuren brauchte sie sich keine Sorgen zu machen; Tess war davon uberzeugt, keine hinterlassen zu haben - nicht mal ein einziges Haar. Der Topfhandschuh - jetzt mit einem Schussloch - steckte wieder in ihrer Tasche. Bisher war sie clean, aber der schwierige Teil stand ihr vielleicht erst noch bevor. Sie verlie? das Haus, stieg in den Expedition und fuhr davon. Eine Viertelstunde spater hielt sie kurz auf dem leeren Parkplatz eines Einkaufszentrums, um 23 Township Road, Colewich, in ihr Navi einzugeben.

36

Unter Toms Fuhrung gelangte Tess wenige Minuten nach neun Uhr abends in unmittelbare Nahe ihres Ziels. Der Dreiviertelmond stand noch immer tief am Himmel. Der Nachtwind hatte noch mehr aufgefrischt.

Auch die Township Road zweigte von der US 47 ab - allerdings mindestens sieben Meilen vor dem Stagger Inn und noch weiter vor der Innenstadt von Colewich. Die Transport Plaza lag an der Kreuzung zweier Stra?en. Den Firmenschildern nach hatten sich dort drei Fuhrunternehmen und eine Mobelspedition angesiedelt. Untergebracht waren

An die Parkflache schloss sich ein Rasthof an. Die Zapfsaulen, bestimmt uber ein Dutzend, wurden von den gleichen strahlend hellen Bogenlampen beleuchtet. Aus der rechten Halfte des Hauptgebaudes fiel grellwei?es Neonlicht; die linke Seite war dunkel. Im Hintergrund lag ein U-formiges, ebenerdiges weiteres Gebaude. Dort parkten einige wenige Autos und Trucks. Das riesige Schild an der Stra?e war eine mit Informationen in leuchtendem Rot vollgepackte elektronische Anzeigetafel.

RICHIE’S RASTHOF TOWNSHIP ROAD

»IHR FAHRT SIE, WIR BETANKEN SIE«

NORMAL $ 2.99/GALLONE

DIESEL $ 2.69/GALLONE

NEUESTE LOTTERIELOSE IMMER VORRATIG

RESTAURANT SONNTAGABEND GESCHLOSSEN

SORRY, SONNTAGABEND KEINE DUSCHEN

SHOP & MOTEL »STANDIG GEOFFNET«

WOHNMOBILE »IMMER WILLKOMMEN«

Und ganz unten:

UNTERSTUTZT UNSERE SOLDATEN!

SIEGT IN AFGANDISTAN!

Mit ankommenden und wegfahrenden Truckern, die ihre Fahrzeuge und sich selbst versorgten (auch wenn das Restaurant jetzt dunkel dalag, erriet Tess, dass es zu denen gehorte, die immer Steak, Fritten, Hackbraten und Mama’s Brotpudding auf der Speisekarte hatten), ging es hier an Wochentagen vermutlich zu wie in einem Taubenschlag, aber jetzt am Sonntagabend herrschte gahnende Leere, weil es hier drau?en nichts gab, nicht mal ein Rasthaus wie das Stagger Inn.

An den Zapfsaulen stand nur ein einziges Fahrzeug - mit dem Kuhlergrill zur Stra?e, die Zapfpistole im Tank. Es war ein alter Pick-up, ein Ford F-150, mit Bondo-Spachtel um die Scheinwerfer. In dem grellen Licht war die Lackfarbe unmoglich zu erkennen, aber darauf war Tess nicht angewiesen. Sie hatte diesen Pick-up ganz aus der Nahe gesehen und wusste, welche Farbe er hatte. Der Platz am Steuer war leer.

»Du scheinst nicht uberrascht zu sein, Tess«, sagte Tom, als sie am Stra?enrand hielt und mit zusammengekniffenen Augen zu dem Tankstellenshop hinubersah. Obwohl die Au?enbeleuchtung sie blendete, konnte sie darin ein paar Leute erkennen, von denen einer ziemlich gro? zu sein schien. War er gro? oder richtig gro??, hatte Betsy Neal sie gefragt.

»Naturlich bin ich das nicht«, sagte sie. »Er wohnt hier drau?en. Wohin sollte er sonst zum Tanken fahren?«

»Vielleicht bereitet er sich auf einen Trip vor.«

»So spat am Sonntagabend? Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass er zu Hause war und sich Meine Lieder - meine Traume angesehen hat. Ich glaube, dass ihm das Bier ausgegangen ist, so dass er hergekommen ist, um sich neues zu besorgen. Dabei ist ihm eingefallen, dass er auch

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