Au?erdem ist er selbst hier druntergekrochen, so dass keine Spinnweben entstehen konnten.

Stimmte das? Das wusste sie doch nicht wirklich, oder?

Aber sie glaubte es zu wissen.

Die Spalten befanden sich an beiden Enden eines zwanzig Zentimeter langen Abschnitts der Fu?bodenleiste, durch den eine senkrechte Mittelachse zu fuhren schien, so dass er sich drehen lie?. Sie hatte ihn mit dem Karton hinreichend angesto?en, dass er etwas aufgesprungen war, aber damit war das Poltern noch nicht erklart. Sie druckte gegen ein Ende des Abschnitts. Es schwang nach innen, und das andere Ende kam heraus, so dass ein Versteck sichtbar wurde, das zwanzig Zentimeter breit, drei?ig hoch und ungefahr

Sie griff hinein, bekam das Kastchen zu fassen - mit bosen Vorahnungen, die fast greifbar waren - und holte es heraus. Das Kastchen war die kleine Kassette aus Eichenholz, die sie ihm vor funf oder vielleicht mehr Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Oder war es zu einem Geburtstag gewesen? Das wusste Darcy nicht mehr, nur dass sie ein guter Kauf im Kunstgewerbeladen in Castle Rock gewesen war. Ihr Deckel war mit einer handgeschnitzten Kette im Flachrelief geschmuckt. Unter der Kette stand, ebenfalls in Flachrelief, der Verwendungszweck der Kassette: MANSCHETTENKNOPFE . Bob hatte eine Menge Manschettenknopfe, und obwohl er werktags lieber Hemden mit Knopfmanschetten trug, waren manche davon recht hubsch. Sie erinnerte sich, dass sie gedacht hatte, diese Kassette wurde ihm helfen, sie ordentlich aufzubewahren. Darcy wusste, dass das Kastchen noch eine Zeit lang auf der Kommode in seiner Halfte des Schlafzimmers gestanden hatte, nachdem das Geschenk ausgepackt und gebuhrend bewundert worden war, aber sie konnte sich nicht erinnern, es in letzter Zeit gesehen zu haben. Naturlich hatte sie das nicht. Es war hier drau?en, in diesem Versteck unter seiner Werkbank, und sie hatte Haus und Hof verwettet (wieder eine von Bobs Redensarten), dass sie keine Manschettenknopfe finden wurde, wenn sie den Deckel aufklappte.

Dann sieh nicht hinein.

Wieder ein guter Rat, aber sie war nun schon viel zu weit gegangen, um ihn zu beherzigen. Als sie das Holzkastchen

Lass sie leer sein. Bitte, Gott, wenn du mich liebst, lass sie leer sein.

Aber das war sie nicht. Sie enthielt drei von einem Gummiband zusammengehaltene Plastikkarten. Darcy nahm den kleinen Packen heraus und fasste ihn nur mit spitzen Fingern an - wie eine Frau einen Putzlappen anfassen wurde, von dem sie befurchtet, er konnte au?er Schmutz auch Keime enthalten. Dann streifte sie das Gummiband ab.

Es waren keine Kreditkarten, wie sie zunachst vermutet hatte. Obenauf lag ein Blutspenderausweis des Roten Kreuzes, der auf eine Marjorie Duvall ausgestellt war. Ihre Blutgruppe war A Rhesus positiv, ihre Region Neuengland. Darcy drehte die Karte um und sah, dass Marjorie - wer immer das war - zuletzt am 16. August 2010 Blut gespendet hatte. Vor drei Monaten.

Wer zum Teufel war Marjorie Duvall? Woher kannte Bob sie? Und weshalb hatte sie eine schwache, aber sehr deutliche Erinnerung an diesen Namen?

Die nachste Karte war Marjorie Duvalls Bibliotheksausweis fur die North Conway Library, auf dem auch ihre Adresse stand: 17 Honey Lane, South Gansett, New Hampshire.

Die letzte Plastikkarte war Marjorie Duvalls Fuhrerschein aus New Hampshire. Sie sah wie eine ganz durchschnittliche Amerikanerin Mitte drei?ig aus, nicht sehr hubsch (allerdings sah auf Fuhrerscheinfotos niemand besonders vorteilhaft aus), aber vorzeigbar. Zuruckgekammtes dunkelblondes Haar, zu einem Nackenknoten oder Pferdeschwanz zusammengefasst; auf dem Foto war das

Darcy merkte, dass sie ein trostloses wimmerndes Gerausch machte. Es war entsetzlich, einen solchen Laut aus ihrer Kehle kommen zu horen, aber sie konnte nicht damit aufhoren. Und ihr Magen war durch eine Bleikugel ersetzt worden; sie zog alle ihre inneren Organe herab und dehnte sie in neue, unangenehme Formen. Sie hatte Marjorie Duvalls Gesicht in der Zeitung gesehen. Auch in den Sechsuhrnachrichten.

Mit Handen, die absolut gefuhllos waren, schlang sie das Gummiband wieder um die Ausweiskarten, legte sie in die Kassette zuruck und schob sie in das Versteck zuruck. Sie war im Begriff, es wieder zu verschlie?en, als sie sich sagen horte: »Nein, nein, nein, das stimmt nicht. Ausgeschlossen!«

War das die Stimme der Cleveren Darcy oder der Dummen Darcy? Schwer zu sagen. Sicher wusste sie nur, dass die Dumme Darcy die Kassette geoffnet hatte. Und dank der Dummen Darcy sturzte sie jetzt ins Bodenlose.

Sie holte das Kastchen wieder heraus. Dachte dabei: Das ist ein Irrtum, es muss einer sein, wir sind uber die Halfte unseres Lebens miteinander verheiratet, ich wurde es wissen, ich wurde es wissen. Klappte den Deckel auf. Dachte: Kann man einen anderen wirklich kennen?

Vor diesem Abend hatte sie das fest geglaubt.

Marjorie Duvalls Fuhrerschein lag jetzt auf dem kleinen Stapel obenauf. Zuvor hatte er unten gelegen. Darcy tat ihn dorthin. Aber welche der beiden anderen Karten hatte oben gelegen, der Blutspender- oder der Bibliotheksausweis? Das war einfach, es musste einfach sein, wenn es nur zwei Moglichkeiten gab, aber sie war zu durcheinander, um sich erinnern zu konnen. Sie legte den Bibliotheksausweis obendrauf und wusste gleich, dass das falsch war, weil

Sie tat sie dorthin, und als sie das Gummiband wieder um die kleine Kartenkollektion schlang, klingelte im Haus auf einmal wieder das Telefon. Das war er. Das war Bob, der aus Vermont anrief, und ware sie in der Kuche gewesen, um den Anruf entgegenzunehmen, hatte sie seine frohliche Stimme (eine Stimme, die sie so gut kannte wie ihre eigene) fragen gehort: He, Schatz, wie geht’s dir?

Ihre Finger zuckten, und das Gummiband riss. Es flog weg, und sie schrie auf, ob aus Frustration oder Angst, konnte sie nicht sagen. Aber warum hatte sie Angst haben sollen? In siebenundzwanzig Ehejahren hatte er niemals die Hand gegen sie erhoben, au?er um sie zu liebkosen. Und nur ganz wenige Male war er im Streit laut geworden.

Das Telefon klingelte noch mal … noch mal … dann brach das Klingeln mitten im Ton ab. Jetzt wurde er eine Nachricht hinterlassen. Hab dich wieder verpasst! Verdammt! Ruf mich an, damit ich mir keine Sorgen mache, okay? Die Nummer ist …

Er wurde auch seine Zimmernummer angeben. Bob uberlie? nichts dem Zufall, setzte nichts als gegeben voraus.

Was sie dachte, konnte niemals wahr sein. Es glich einer dieser monstrosen Wahnvorstellungen, die manchmal grausig plausibel aus dem Bodensatz der menschlichen Psyche glitzernd auftauchten: dass ein Sodbrennen der Vorbote eines Herzanfalls war, Kopfschmerzen einen Tumor bedeuteten und Petras Sonntagnachmittagsanruf deshalb ausgeblieben war, weil sie einen Verkehrsunfall gehabt hatte und in irgendeinem Krankenhaus im Koma lag. Aber solche Wahnvorstellungen kamen gewohnlich um vier Uhr morgens,

Sie fand es schlie?lich hinter dem Karton mit den Katalogen, die sie sich nie mehr ansehen wollte. Darcy steckte es ein, wollte aufstehen, um ein anderes zu suchen, hatte vergessen, wo sie war, und schlug sich den Kopf an der Unterseite der Werkbank an. Sie begann zu weinen.

In keiner der Werkbankschubladen fanden sich Gummibander, und das lie? sie noch heftiger weinen. Sie hastete mit den schrecklichen, unerklarlichen Ausweiskarten in der Tasche ihres Hausmantels durch den Verbindungsgang zuruck und holte ein Gummiband aus der Kuchenschublade, in der sie allen moglichen halb nutzlichen Schei? aufbewahrte: Buroklammern, Bindedraht, Kuhlschrankmagnete, die den gro?ten Teil ihrer Magnetkraft verloren hatten: Einer davon, auf dem DARCY IST DER CHEF stand, war einmal eine zusatzliche Kleinigkeit von Bob zu Weihnachten gewesen.

Das Signallampchen des Telefons auf der Arbeitsplatte blinkte stetig, um Nachricht, Nachricht, Nachricht zu melden.

Sie lief in die Garage zuruck, ohne diesmal die Aufschlage des Hausmantels zuzuhalten. Die au?ere Kalte spurte sie nicht mehr, weil die innere gro?er war. Dazu kam die Bleikugel, die ihre Eingeweide nach unten zog. Sie in die Lange zog. Darcy war sich vage bewusst, dass sie auf die Toilette musste, sogar dringend.

Nicht jetzt! Rei? dich zusammen. Stell dir vor, du warst auf der Turnpike und hattest noch zwanzig Meilen bis zur nachsten Raststatte. Sieh zu, dass du fertig wirst. Lass alles so zuruck, wie es war. Dann kannst du …

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