Dann konnte sie was? Alles vergessen?
Nicht sehr wahrscheinlich.
Sie schlang das Gummiband um die Ausweiskarten, merkte, dass der Fuhrerschein irgendwie wieder obenauf gelangt war, und schalt sich eine blode Schlampe … ein beleidigender Ausdruck, fur den sie Bob geohrfeigt hatte, wenn er jemals versucht hatte, ihn ihr anzuhangen. Aber das hatte er naturlich nie getan.
»Eine blode Schlampe, aber keine Bondage-Schlampe«, murmelte sie, und dann durchzuckte ein Krampf ihren Bauch. Sie sank auf die Knie und erstarrte in dieser Haltung, wahrend sie darauf wartete, dass er abklang. Hatte es hier eine Toilette gegeben, ware sie hingeflitzt, aber es gab keine. Als der Krampf nachlie? - widerstrebend -, ordnete sie die Karten in der wahrscheinlich richtigen Reihenfolge an (Blutspender, Bibliothek, Fuhrerschein) und legte sie dann in das Kastchen fur MANSCHETTENKNOPFE zuruck. Kassette wieder in das Versteck. Drehbarer Fu?leistenabschnitt fest angedruckt. Karton mit Katalogen dorthin zuruck, wo sie uber ihn gestolpert war: ein bisschen unter der Werkbank hervorstehend. Bob wurde nie etwas merken.
Aber konnte sie sich dessen sicher sein? Wenn er war, was sie dachte - ungeheuerlich, dass sie an so etwas uberhaupt denken konnte, wenn sie vor kaum einer halben Stunde nur ein paar Batterien fur die verflixte Fernbedienung hatte holen wollen -, wenn er das
Das war ein Wort, das sie bis zum heutigen Abend niemals mit Bob in Verbindung gebracht hatte.
»Nein«, erklarte sie der Garage. Sie schwitzte, ihr Haar klebte in unschonen Strahnen an ihrem Gesicht, sie litt
Sie ging ins Haus zuruck.
5
Sie beschloss, sich einen Tee zu machen. Tee war beruhigend. Als sie den Teekessel fullte, begann das Telefon wieder zu klingeln. Sie lie? den Kessel in den Ausguss fallen - sein Scheppern war so laut, dass sie einen kleinen Schrei ausstie? -, ging dann ans Telefon und wischte sich die nassen Hande am Hausmantel ab.
Ach, wirklich?
Darcy nahm den Horer ab und sagte munter: »Wenn du’s bist, Hubscher, dann kannst du gleich ruberkommen. Mein Mann ist verreist.«
Bob lachte. »He, Schatz, wie geht’s dir?«
»Aufrecht und die Luft schnuffelnd. Und dir?«
Darauf folgte langes Schweigen. Es fuhlte sich jedenfalls lange an, obwohl es nicht langer als ein paar Sekunden gedauert haben konnte. In diesem Zeitraum horte Darcy das irgendwie schreckliche Summen des Kuhlschranks, das Wasser, das auf den Teekessel im Ausguss tropfte, und den Puls des eigenen Herzens, dessen Schlage nicht aus der Brust, sondern aus Kehle und Ohren zu kommen
»Deine Stimme klingt komisch«, sagte er. »Irgendwie ganz belegt. Alles in Ordnung, Su?e?«
Sie hatte geruhrt sein sollen. Stattdessen war sie verangstigt. Marjorie Duvall: Dieser Name stand ihr nicht nur vor Augen, sondern schien wie die Neonreklame einer Bar zu blinken. Sie war einen Augenblick lang sprachlos, und zu ihrem Entsetzen schwankte die Kuche, die sie so gut kannte, vor ihren Augen, als ihr abermals die Tranen kamen. Auch die krampfartige Schwere im Unterleib kehrte zuruck. Marjorie Duvall. Blutgruppe A Rhesus positiv. 17 Honey Lane. Nach dem Motto:
»Ich musste nur gerade an Brandolyn denken«, horte sie sich selbst sagen.
»Oh, Baby«, sagte er, und das Mitgefuhl in seiner Stimme war typisch fur Bob. Sie kannte es gut. Hatte sie sich seit 1984 nicht oft darauf verlassen? Sogar schon vorher, als er noch um sie geworben und sie allmahlich erkannt hatte, dass er der Richtige war? Gewiss hatte sie das getan. Wie er sich auf sie gestutzt hatte. Die Idee, solches Mitgefuhl konnte nichts als Zuckerguss auf einer vergifteten Torte sein, war verruckt. Die Tatsache, dass sie ihn in diesem Augenblick belog, war noch verruckter. Das hei?t, falls es uberhaupt Abstufungen von Verrucktheit gab. Oder vielleicht war »verruckt« ein Begriff wie »einzigartig«, fur den es keine Steigerungsformen gab. Und was dachte sie wirklich? Was, um Himmels willen?
Aber er redete, und sie hatte keine Ahnung, was er eben gesagt hatte.
»Erzahl’s mir noch mal. Ich habe gerade nach meinem Tee gegriffen.« Noch eine Luge, ihre Hande waren viel zu zittrig, um nach irgendetwas greifen zu konnen, aber eine plausible Notluge. Und ihre Stimme zitterte nicht. Wenigstens glaubte sie das.
»Ich habe gefragt: Wie bist du darauf gekommen?«
»Donnie hat angerufen und nach seiner Schwester gefragt. Dabei habe ich an meine denken mussen. Ich bin rausgegangen und ein bisschen herumgelaufen. Ich bin ins Schniefen gekommen, aber daran war zum Teil auch die Kalte schuld. Das hast du wahrscheinlich in meiner Stimme gehort.«
»Ja, sofort«, sagte er. »Hor zu, ich konnte morgen Burlington auslassen und gleich nach Hause kommen.«
Darcy hatte beinahe
»Wenn du das tust, verpasse ich dir ein blaues Auge«, sagte sie und war erleichtert, als er lachte. »Charlie Frady hat dir erzahlt, dass es sich lohnt, zu dieser Nachlassversteigerung in Burlington zu fahren, und er hat gute Kontakte. Und einen guten Riecher. Das hast du immer selbst gesagt.«
»Genau, aber mir gefallt es nun mal nicht, wenn du so deprimiert klingst.«
Dass er gespurt hatte (und zwar sofort!
»Ich war ein bisschen down, aber das ist vorbei«, sagte sie. »Nur eine vorubergehende Anwandlung. Sie war meine
»Ja, ich wei?«, sagte er. Wohl wahr. Der Tod ihrer Schwester war zwar nicht der Grund dafur gewesen, dass sie sich in Bob Anderson verliebt hatte, aber sein Verstandnis fur ihren Kummer hatte ihren Zusammenhalt gestarkt.
Brandolyn Madsen war beim Langlaufen von einem betrunkenen Schneemobilfahrer angefahren und todlich verletzt worden. Er hatte Fahrerflucht begangen und die Tote eine halbe Meile vom Haus der Familie Madsen entfernt im Wald liegen lassen. Als Brandi um acht Uhr abends noch nicht zuruck war, waren zwei Polizeibeamte und die ortliche Burgerwehr zu einer Suchaktion aufgebrochen. Darcys Vater hatte die Leiche gefunden und durch den Wald nach Hause getragen. Darcy, die im Wohnzimmer stationiert war, um das Telefon zu uberwachen und ihre Mutter zu beruhigen, hatte ihn als Erste gesehen. Er hatte wei?e Atemwolken ausgesto?en, als er im harten Licht des Wintervollmonds uber den Rasen gekommen war. Darcys erster Gedanke (der ihr noch heute peinlich war) war eine Erinnerung an die kitschigen Liebesfilme in Schwarz-Wei? gewesen, die manchmal auf dem TCM- Spielfilmkanal gezeigt wurden - in denen irgendein Kerl seine Frischangetraute uber die Schwelle ihres Flitterwochenhauschens trug, wahrend funfzig Violinen Sirup auf die Tonspur gossen.
Bob Anderson, das hatte Darcy entdeckt, konnte sich in andere hineinversetzen, wie es nur wenige Menschen konnten. Er hatte zwar keinen Bruder, keine Schwester verloren, aber seinen besten Freund. Der Junge war auf die Stra?e gelaufen, um einen beim Pick-up-Baseball danebengegangenen Ball zu fangen (wenigstens nicht Bobs Wurf; da er
»Bleib in Vermont, Bob. Geh zu der Nachlassversteigerung. Ich liebe dich dafur, dass du besorgt bist, aber wenn du jetzt heimgerannt kommst, komme ich mir kindisch vor. Und dann werde ich wutend.«
»Okay. Aber ich rufe dich morgen fruh um halb acht an. Du bist gewarnt!«