Es gab viele weitere Artikel, die sie hatte aufrufen konnen (o allmachtiges Google), aber zu welchem Zweck? Der su?e Traum von einem weiteren gewohnlichen Abend in einem gewohnlichen Leben war in einem Albtraum untergegangen. Wurde er sich vertreiben lassen, indem sie mehr uber Beadie las? Die Antwort darauf lag auf der Hand.

Ihre Magennerven verkrampften sich. Sie rannte ins Bad - in dem es trotz des Ventilators noch immer schlecht roch; meistens konnte man ignorieren, was fur eine ubelriechende Sache das Leben war, aber eben nicht immer -, sank vor dem WC auf die Knie und starrte mit offenem Mund in das blau gefarbte Wasser. Einen Augenblick lang glaubte sie, sich doch nicht ubergeben zu mussen, dann dachte sie an Stacey Moore, deren Kopf mit schwarz angelaufenem Gesicht im Mais steckte und deren Gesa?backen mit angetrocknetem Blut von der Farbe von Schokoladenmilch bedeckt waren. Das gab ihr den Rest. Sie ubergab sich zweimal so heftig, dass ihr Gesicht Spritzer des blauen Desinfektionsmittels Ty-D-Bol und von ihrem eigenen Erbrochenen abbekam.

Weinend und keuchend, betatigte sie die Klospulung. Das WC wurde geputzt werden mussen, aber vorerst schloss sie nur den Deckel und legte ihre hei?e Wange auf den kuhlen beigefarbenen Kunststoff.

Was soll ich nur tun?

Der naheliegende erste Schritt ware ein Anruf bei der Polizei gewesen, aber was war, wenn sich nach diesem Anruf alles als Irrtum herausstellte? Bob war immer der gro?zugigste und am wenigsten nachtragende aller Manner gewesen - als sie mit ihrem alten Van einen Baum am Rand des Parkplatzes vor der Post gerammt hatte, so dass die Windschutzscheibe zersplittert war, hatte er nur besorgt gefragt, ob sie Schnittwunden im Gesicht habe -, aber wurde er ihr verzeihen, dass sie ihm elf grausame Morde zutraute, die er

Darcy raffte sich auf, nahm die Kloburste aus dem Stander und machte das WC sauber. Sie arbeitete langsam. Ihr Rucken schmerzte. Anscheinend hatte sie sich so heftig ubergeben, dass sie sich eine Muskelzerrung zugezogen hatte.

Wahrend sie arbeitete, traf die nachste Erkenntnis sie wie ein Keulenschlag. Nicht nur Bob und sie wurden in Pressespekulationen und den schmutzigen Spulzyklus von 24-stundigen Kabelnachrichten hineingezogen werden; sie musste auch an die Kinder denken. Donnie und sein Freund Ken hatten eben die ersten Kunden gewonnen, aber die Bank und der Autohandler auf der Suche nach neuen Ideen wurden binnen drei Stunden abspringen, wenn diese Schei?ebombe platzte. Die Firma Anderson & Hayward, die heute ihren ersten richtigen Atemzug getan hatte, wurde morgen tot sein. Darcy wusste nicht, wie viel Ken Hayward investiert hatte, aber Donnie hatte alles eingebracht, was er besa?. Das war zwar nicht allzu viel Kapital, aber man investierte auch andere Dinge, wenn man die eigene Lebensreise begann. Sein Herz, seinen Verstand, sein ganzes Selbstwertgefuhl.

Au?erdem gab es Petra und Michael, die vielleicht in diesem Augenblick die Kopfe zusammensteckten und weitere Heiratsplane schmiedeten, ohne zu ahnen, dass ein Zweitonnengeldschrank an einem stark ausgefransten Seil uber ihnen hing. Pets hatte ihren Vater immer vergottert. Was wurde sie tun, wenn sie erfuhr, dass die Hande, die sie fruher auf der Gartenschaukel angesto?en hatten, elf Frauen erwurgt hatten? Dass sich unter den Lippen, die ihr Gutenachtkusse gegeben hatten, Zahne verbargen, die elf Frauen gebissen hatten, in einigen Fallen bis auf die Knochen?

Als Darcy wieder am Computer sa?, stieg vor ihrem inneren Auge eine schreckliche Schlagzeile auf. Darunter war ein Foto abgebildet, das Bob mit seinem Halstuch, absurden Khakishorts und braunen Kniestrumpfen zeigte. Die Schlagzeile war so deutlich, als ware sie schon gedruckt:

MASSENMORDER »BEADIE«

17 JAHRE LANG PFADFINDERFUHRER

Darcy schlug sich eine Hand vor den Mund. Sie konnte spuren, wie ihre Augen in den Hohlen pulsierten. Sie dachte an Selbstmord, und einige Augenblicke lang (die ihr endlos vorkamen) erschien ihr diese Idee vollig rational, die einzig vernunftige Losung. Sie konnte in einem Abschiedsbrief behaupten, sie habe gefurchtet, Krebs zu haben. Oder fruh einsetzende Alzheimer-Krankheit, das war noch besser. Nur warfen auch Selbstmorde tiefe Schatten uber eine Familie - und was war, wenn sie sich geirrt hatte? Wenn Bob die drei Ausweiskarten irgendwo am Stra?enrand gefunden hatte?

Wei?t du, wie unwahrscheinlich das ist?, hohnte die Clevere Darcy.

Okay, ja, aber unwahrscheinlich war nicht das Gleiche wie unmoglich, oder? Und es gab noch etwas, was den Kafig, in dem sie steckte, endgultig ausbruchssicher machte: Was war, wenn sie recht hatte? Wurde ihr Selbstmord Bob nicht die Moglichkeit geben, noch mehr zu morden, weil er dann kein Doppelleben mehr wurde fuhren mussen? Darcy wusste nicht genau, ob sie an eine bewusste Existenz nach dem Tod glaubte, aber wenn es eine gab? Und wenn dort nicht elysisches Grun und Flusse, in denen Milch und Honig floss, auf sie warteten, sondern ein gespenstisches Empfangskomitee aus erwurgten Frauen mit Bissspuren von Bobs Zahnen, die ihr alle vorwarfen, an ihrem Tod

Sie dachte: Ich wollte, ich ware tot.

Aber das war sie nicht.

Zum ersten Mal seit Jahren glitt Darcy Madsen Anderson von ihrem Stuhl auf die Knie und begann zu beten. Das half nichts. Sie blieb im Haus ganz allein.

7

Sie hatte nie Tagebuch gefuhrt, aber in ihrem Schreibtisch bewahrte sie noch alle Terminkalender der letzten zehn Jahre auf. Und Bobs Reiseunterlagen, die Jahrzehnte zuruckreichten, fullten mehrere Ordner in dem Aktenschrank, der in seinem Buro hier im Haus stand. Als Wirtschaftsprufer und Steuerberater (noch dazu mit einer ordnungsgema? als Firma eingetragenen Nebenbeschaftigung) fuhrte er seine Aufzeichnungen pedantisch genau und nahm jede Moglichkeit, etwas steuerlich abzusetzen, jeden Freibetrag und jeden Cent an Autoabschreibung mit, den er bekommen konnte.

Sie stapelte seine Ordner mit ihren Terminkalendern neben dem Computer. Sie rief nochmals Google auf, zwang sich zu den erforderlichen Recherchen und notierte sich die Namen und den Todeszeitpunkt (manchmal notwendigerweise blo? geschatzt) von Beadies Opfern. Wahrend die Digitaluhr in der Taskleiste ihres Computers lautlos die

Sie hatte zehn Jahre ihres Lebens dafur gegeben, irgendetwas zu finden, was ihn auch nur in einem Fall unwiderlegbar als moglichen Tater eliminierte, aber ihre Terminkalender machten alles noch schlimmer. Kellie Gervais aus Keene, New Hampshire, war am 15. Marz 2004 im Wald hinter der ortlichen Mulldeponie aufgefunden worden. Seit drei bis funf Tagen tot, wie der Leichenbeschauer in seinem Bericht festgestellt hatte. In Darcys Terminkalender fur 2004 war fur den 10. bis 12. Marz gro? eingetragen: Bob bei Fitzwilliam, Brat. George Fitzwilliam war ein reicher Mandant von Benson, Bacon & Anderson. Brat war ihre Abkurzung fur Fitzwilliams Wohnort Brattleboro. Von dort aus war Keene, New Hampshire, mit dem Auto leicht zu erreichen.

Helen Shaverstone und ihr Sohn Robert waren am 11. November 2007 am Rand der Kleinstadt Amesbury im Newrie Creek aufgefunden worden. Die beiden hatten ungefahr zwolf Meilen entfernt in Tassel Village gelebt. Auf dem Novemberblatt ihres Terminkalenders fur 2007 hatte sie den Zeitraum vom 8. bis 10. November markiert und dazugeschrieben: Bob in Saugus, 2 Nachlassversteigerungen plus Munzauktion Boston. Und erinnerte sie sich nicht, an einem dieser Abende in seinem Motel in Saugus angerufen zu haben, ohne ihn zu erreichen? Hatte sie nicht vermutet, er sei mit irgendeinem Munzhandler beim Abendessen, auf der Jagd nach Schnappchen oder unter der Dusche? Daran schien sie sich zu erinnern. Aber war er dann an diesem Abend mit dem Auto unterwegs gewesen? War er auf der Ruckfahrt von einem Job (eine kleine Auslieferung) in der Kleinstadt Amesbury gewesen? Oder falls er unter der Dusche gestanden hatte, was um Himmels willen hatte er von sich abgespult?

Als die Taskleistenuhr uber 23 Uhr hinausging und sich der Mitternacht naherte - der Geisterstunde, in der sich angeblich die Graber offneten -, wandte sie sich seinen Reiseunterlagen und -abrechnungen zu. Sie arbeitete sorgfaltig und kontrollierte vieles mehrfach. Das Zeug aus den spaten Siebzigerjahren war luckenhaft und nicht sehr aussagekraftig - Bob war damals nur ein kleiner Mitarbeiter seiner Firma gewesen -, aber ab den Achtzigerjahren war alles da, und die Ubereinstimmungen mit den Beadie-Morden der Jahre 1980 und 1981 waren eindeutig und unwiderlegbar. Er war zur passenden Zeit in den richtigen Gebieten unterwegs gewesen. Und wenn man in jemands Haus genugend Katzenhaare fand, argumentierte die Clevere Darcy, dann musste man fast zwangslaufig annehmen, dort gebe es irgendwo eine Katze.

Was soll ich jetzt tun?

Die Antwort schien zu lauten: Nimm deinen angstvoll verwirrten Kopf mit nach oben. Sie bezweifelte, dass

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