Sally drehte sich auf den Bauch. Ihr Hemd war zerrissen.

Vier Schrammen liefen ihr uber die Schulter. Tom riss das, was von ihrem Hemd noch ubrig war, ab.

»He, mir fehlt nichts«, sagte Sally gedampft.

»Ruhe.« Tom zog sein Hemd aus und tauchte einen Zipfel in eine Pfutze. »Gleich wird's wehtun.«

Als er die Wunden reinigte, stohnte Sally in leisem Schmerz. Sie waren nicht tief - die gro?te Gefahr bestand in einer Infektion. Tom nahm etwas Moos, bastelte daraus ein Polster und band es dann mit seinem Hemd uber die Wunden. Schlie?lich half er Sally, ihr eigenes Hemd wieder an-zuziehen und sich hinzusetzen.

Als Sally ihn anschaute, zuckte sie erneut zusammen.

»Mein Gott, Sie sind ja in Blut gebadet.« Ihr Blick fiel auf den Jaguar, der in seiner ganzen goldenen Pracht mit halb geoffneten Augen auf dem Boden lag. »Haben Sie ihn mit der Machete getotet?«

»Ich hatte sie gerade gezuckt, da ist er praktisch reinge-sprungen und hat das selbst erledigt.« Er schlang einen Arm um sie. »Konnen Sie aufstehen?«

»Klar.«

Tom half ihr auf die Beine. Sally wankte leicht, erholte sich jedoch schnell. »Geben Sie mir das Gewehr.«

Tom packte es. »Ich werde es tragen.«

»Nein, ich hange es mir uber die andere Schulter. Sie tragen das Wildschwein.«

Tom stritt sich nicht mit ihr. Er nahm den Stab mit dem Wildschwein, schwang ihn sich uber die Schulter und hielt inne, um einen letzten Blick auf den Jaguar zu werfen. Er lag ausgestreckt auf der Seite, seine Augen wurden allmahlich glasig. Er ruhte in einer Pfutze aus Blut.

»Wenn wir hier je wieder rauskommen«, sagte Sally grinsend, »haben Sie auf der nachsten Cocktailparty ein tolles Abenteuer zu erzahlen.«

Als sie wieder im Lager waren, horten Vernon und Don Alfonso sich ihre Geschichte schweigend an. Als Tom fertig war, legte ihm Don Alfonso eine Hand auf die Schulter und schaute ihm in die Augen. »Sie sind wirklich ein verruckter Yanqui, Tomasito, wissen Sie das?«

Tom und Sally zogen sich in den stillen Unterstand zuruck, wo er ihre Verletzungen mit dem Krauterantibiotikum behandelte, das Sally, mit verschrankten Beinen und ohne Hemd auf dem Boden sitzend, mit der Rindensalbe Don Alfonsos mischte. Sie musterte ihn fortwahrend aus den Augenwinkeln und bemuhte sich, ein Lacheln zu unterdrucken. Schlie?lich sagte sie: »Habe ich mich eigentlich schon dafur bedankt, dass Sie mir das Leben gerettet haben?«

»Ich brauche keinen Dank.« Tom versuchte sein Erroten zu verbergen. Er sah Sally zwar nicht zum ersten Mal ohne Hemd - den Anspruch auf Intimsphare hatten sie langst aufgegeben -, doch diesmal fuhlte er sich stark erotisiert.

Ihm fiel auf, dass ihr Brustkorb sich rotete, dass die Rote sich zwischen ihren Brusten ausbreitete und ihre Brustwarzen hart werden lie?. Spurte sie etwa das Gleiche wie er?

»Doch, den brauchst du sehr wohl.« Sally legte das Hemd hin, das sie gerade flickte, drehte sich um, schlang die Arme um seinen Hals und kusste ihn sanft auf den Mund.

39

Hauser lie? seine Leute am Fluss anhalten. Dahinter erkannte er die blauen, in die Wolken aufragenden Flanken der Sierra Azul. Sie sahen so aus wie die vergessene Welt, die Arthur Conan Doyle in seinem Roman beschrieben hatte. Er uberquerte die Lichtung allein und schaute sich den verschlammten Pfad auf der anderen Seite an. Der standige Regen hatte die meisten Spuren zwar verwischt, doch er bot ihm den Vorteil der Erkenntnis, dass die Abdrucke der nackten Fu?e, die er erspahte, noch sehr frisch waren hochstens ein paar Stunden alt. Es schien eine sechskopfige Truppe zu sein - wahrscheinlich ein Jagdkommando.

Es mussten die Indianer sein, mit denen Broadbent sich verbundet hatte. Au?er ihnen lebte niemand in diesem gottverlassenen Dschungelgebirge.

Hauser erhob sich aus seiner knienden Haltung und uberlegte kurz. In diesem Dschungel wurde er jedes Katz-und-Maus-Spiel verlieren. Verhandlungen wurden auch nichts bringen. Somit blieb ihm nur eine vernunftige Vorgehensweise.

Er signalisierte den Soldaten, dass sie ihm folgen sollten, und ubernahm personlich die Fuhrung. Sie marschierten rasch uber den Pfad in die Richtung, die die Indianer genommen hatten. Philip blieb ganz hinten. Er war gefesselt und wurde von einem Soldaten bewacht. Er war inzwischen zu schwach, um mit den Mannern Schritt zu halten, und in einem Zustand, in dem er nicht mehr hatte fliehen konnen -schon gar nicht mit den Handschellen. Fur Hauser war es eine Schande, den Dienst eines Soldaten auf ihn zu verschwenden, schlie?lich verfugte er nur uber wenige kompetente Manner. Zum richtigen Zeitpunkt konnte Philip sich jedoch als wertvolles Handelsgut erweisen. Der Wert einer Geisel war nie zu unterschatzen.

Hauser wies seine Leute an, ihre Anstrengungen zu ver-doppeln.

Die Sache entwickelte sich exakt so, wie er es erwartet hatte. Die Indianer hatten ihren Vormarsch zwar bemerkt und waren im Wald untergetaucht, doch hatte Hauser zuvor erkannt, wohin sie unterwegs waren. Was das Spurenlesen im Urwald anbetraf, war er Experte. Er trieb die Verfolgung mit Hochdruck voran, eine Blitzkriegstrategie, die immer zum Erfolg fuhrte und auch den bestens vorbereiteten Gegner in Angst versetzte - von einer Gruppe nichts Boses ahnender Jager ganz zu schweigen. Seine Manner verteilten sich, und Hauser ging mit zwei Begleitern auf Spahtrupp, um den Indianern den Weg abzuschneiden.

Die Sache ging schnell, hektisch und ohrenbetaubend von-statten. Der Dschungel bebte. Hauser fuhlte sich lebhaft an zahlreiche Feuergefechte in Vietnam erinnert. In nicht einmal einer Minute war alles vorbei. Baume wurden zerfetzt und entlaubt, Busche qualmten, der Boden wurde pulveri-siert. Ein atzender Dunst stieg in die Luft. Das Geast eines kleinen Baumes war mit Orchideen und Gedarmen versehen.

Es war wirklich verbluffend, was ein paar einfache Granatwerfer ausrichten konnten.

Hauser zahlte die Leichenteile und stellte fest, dass vier Mann ums Leben gekommen waren. Zwei waren entkommen. Zum ersten Mal hatten seine Soldaten Kompetenz an den Tag gelegt. Wenn es ums Draufhauen und Toten ging, waren sie gut. Das durfte er nicht vergessen.

Ihm blieb nicht viel Zeit. Er musste das Dorf kurz nach den beiden Uberlebenden erreichen, um im Augenblick der gro?ten Verwirrung und des Entsetzens zuzuschlagen, bevor die Leute noch Gelegenheit hatten, sich zu organisieren.

Er drehte sich um und rief seinen Leuten zu: »Arriba! Va-mos!«

Die Manner jubelten. Sein Enthusiasmus spornte sie an.

Endlich waren sie in ihrem Element. »Zum Dorf!«

40

Es regnete eine Woche ohne Unterlass. Jeden Tag rafften sie sich auf, stiegen in Schluchten hinunter und wieder hinauf.

Sie kletterten uber gefahrliche Klippen, uberquerten tosende Flusse, und all das im dichtesten Urwald, den Tom sich nur vorstellen konnte. Wenn sie an einem Tag sechs Kilometer zurucklegten, waren sie schon zufrieden. Nach sieben Tagen dieser Art wurde Tom am Morgen wach und stellte fest, dass der Regen endlich aufgehort hatte. Don Alfonso war schon auf den Beinen und kummerte sich um ein gro?es Lagerfeuer. Seine Miene war ernst. Als sie das Fruhstuck verzehrten, verkundete er plotzlich: »Ich hatte in der letzten Nacht einen Traum.«

Sein ernster Tonfall lie? Tom innehalten. »Was war das fur ein Traum?«

»Ich habe getraumt, dass ich sterbe. Meine Seele fuhr zum Himmel hinauf und suchte nach Petrus. Ich fand ihn, denn er stand am Himmelstor. Als ich zu ihm ging, begru?te er mich. >Bist du nicht der alte Schlawiner Don Alfonso?<, fragte er. ->Stimmt<, erwiderte ich. >Ich bin's, Don Alfonso Boswas, der im Alter von hunderteinundzwanzig Jahren fern der Heimat im Dschungel gestorben ist. Ich mochte reinkommen und meine Rosita wiedersehen.< - >Was hast du im Dschungel gemacht, Don Alfonso?<, fragte er. - >Ich wollte

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