»Sally ist Krauterheilerin«, erklarte Vernon.
»Ich hatte lieber 'ne Amoxycillin-Spritze«, sagte Philip.
»Wir haben keine.«
Philip legte sich auf die Blatter zuruck und schloss die Augen. Tom verarztete seine wunden Stellen, kratzte das brandige Fleisch heraus und spulte die Maden ab. Sally bestaubte die Wunden mit einem Krauterantibiotikum und verband sie mit Streifen aus zerstampfter Rinde, die sie zuvor in kochendem Wasser sterilisiert und im Feuer rauchge-trocknet hatte. Sie wuschen und trockneten Philips zerfetzte Kleidung und zogen sie ihm wieder an, da er ja nichts anderes hatte. Als die Sonne unterging, waren sie fertig. Sie setzten Philip aufrecht hin. Sally brachte ihm einen Becher Krautertee.
Philip nahm ihn an sich. Er sah schon besser aus. »Drehen Sie sich mal um, Sally«, sagte er. »Ich wurde gern mal Ihre Schwingen sehen.«
Sally errotete.
Philip trank einen Schluck, dann noch einen. Don Alfonso hatte inzwischen ein halbes Dutzend Fische geangelt und grillte sie an einem Spie? uber dem Feuer. Der Geruch wehte zu ihnen heruber.
»Komisch, dass ich keinen Appetit habe«, meinte Philip.
»Wenn man verhungert, ist das nicht ungewohnlich«, erklarte Tom.
Don Alfonso servierte den Fisch auf Blattern. Sie verzehrten schweigend ihre Mahlzeit, dann ergriff Philip das Wort.
»Tja, jetzt sind wir also hier. Ein kleines Familientreffen im Urwald von Honduras.« Er schaute sich um, seine Augen funkelten. Dann sagte er:
Stille. Dann sagte Vernon: »E.«
Eine noch langere Stille, dann sagte Vernon:
»Vernon muss das Geschirr spulen!«, krahte Philip.
Tom wandte sich zu Sally um, um ihr zu erklaren, was da ablief: »Das Spiel haben wir fruher immer gespielt«, sagte er mit einem verlegenen Lacheln.
»Ich schatze, ihr seid wirklich Bruder.«
»Sozusagen«, sagte Vernon. »Auch wenn Philip ein
Philip lachte schallend. »Der arme Vernon. Du hast aber auch immer Kuchendienst, nicht wahr?«
»Freut mich zu sehen, dass es dir besser geht«, sagte Tom.
Philips hohlwangiges Gesicht wandte sich ihm zu. »Es geht mir wirklich besser.«
»Geht's dir gut genug, um uns zu erzahlen, was passiert ist?«
Philips Miene wurde wieder ernst und verlor jegliche Blasiertheit. »Es ist 'ne Geschichte wie
Mochtet ihr sie auch ganz bestimmt horen?«
»Ja«, sagte Tom. »Wir mochten sie horen.«
42
Philip stopfte seine Pfeife sorgfaltig mit Dunhill-Early-Morning-Tabak. Seine Bewegungen waren langsam und uberlegt. »Das Einzige, das sie mir - Gott sei Dank - nicht weggenommen haben, ist meine Pfeife.« Er paffte langsam.
Seine Augen waren halb geschlossen. Er uberlegte.
Tom nutzte die Gelegenheit, um Philips Gesicht zu betrachten. Nun, da es sauber war, erkannte er die aristokra-tisch schmalen Zuge seines Bruders wieder. Der Bart verlieh ihm etwas Vulgares und lie? ihn eigenartigerweise ihrem Vater ahneln. Doch sein Gesicht wirkte anders: Seinem Bruder war irgendetwas zugesto?en; etwas so Grassliches, dass es seine Zuge grundlegend verandert hatte.
Als Philip den Pfeifentabak angezundet hatte, offnete er die Augen und begann zu erzahlen.
»Nachdem ich euch verlassen hatte, flog ich wieder nach New York und suchte Vaters alten Partner Marcus Aurelius Hauser auf. Ich hatte mir vorgestellt, er wusste vielleicht besser als jeder andere, wohin Vater gegangen sein konnte.
Hauser ist zufallig Privatdetektiv und fur meinen Geschmack ein zu pummeliger und zu parfumierter Bursche.
Er fand mit zwei schnellen Telefongesprachen heraus, dass Vater nach Honduras gegangen war; also hielt ich ihn fur kompetent und engagierte ihn. Wir flogen nach Honduras.
Er organisierte eine Expedition, heuerte ein Dutzend Soldaten an und besorgte vier Boote. Er hat alles finanziert, indem er mich zwang, das schone kleine Gemalde von Paul Klee zu verkaufen, das Vater mir einmal geschenkt hat ...«
»Ach, Philip«, warf Vernon ein, »wie konntest du nur!«
Philip schloss mude die Augen. Vernon verfiel in Schweigen. Dann fuhr Philip fort. »Wir sind also nach Brus geflogen, haben uns in Einbaume gezwangt und sind frohlich flussaufwarts gestakt. In irgendeinem Hinterwaldlerkaff haben wir einen Fuhrer engagiert und den Meambar-Sumpf durchquert. Dann hat Hauser einen Coup gelandet. Der po-madisierte Sack hatte es die ganze Zeit geplant - er ist einer von diesen bosartigen Kryptofaschisten. Sie haben mich wie einen Hund angekettet. Hauser hat unseren Fuhrer an die Piranas verfuttert und dann einen Hinterhalt gelegt, um euch umzubringen.«
Nun geriet er ins Stocken. Er zog mehrmals an der Pfeife, und seine knochige Hand zitterte. Philip erzahlte seine Geschichte mit einer humorvollen Tapferkeit, die nur gespielt war. Tom wusste, dass diese Art fur seinen Bruder typisch war.
»Als sie mich in Eisen gelegt hatten, lie? Hauser funf Kommisskopfe an der Schwarzen Lagune zuruck. Sie sollten euch umlegen. Mich und die anderen Soldaten nahm er mit den Macaturi hinauf, zu den Wasserfallen. Ich werde den Tag nie vergessen, an dem das Kommando zuruckkehrte. Es waren nur noch drei Mann, und im Oberschenkel des einen steckte ein meterlanger Pfeil. Ich hab nicht alles gehort, was sie gesagt haben. Hauser war wutend. Er hat den Mann beiseite genommen und ihm aus nachster Nahe einen Kopfschuss verpasst. Nun wusste ich, dass seine Leute zwei Menschen auf dem Gewissen hatten. Ich war mir sicher, dass einer von euch tot war - wenn nicht gar alle beide. Eines muss ich euch ehrlich sagen, Jungs: Als ihr plotzlich vor mir gestanden seid, da glaubte ich, ich ware tot und in der Holle gelandet. Ich dachte, ihr wart das Emp-fangskomitee.« Er stie? ein kurzes, trockenes Lachen aus.
»Wir haben die Boote an den Wasserfallen zuruckgelassen und sind Vaters Fahrte zu Fu? gefolgt. Dieser Hauser konnte eine Maus im Dschungel aufspuren, wenn er es wollte. Ich musste bei ihm bleiben, weil ihm die Idee gekommen war, er konnte mich als Druckmittel gegen euch verwenden. Dann ist er einer Gruppe Bergindianer begegnet, hat mehrere getotet und den Rest in ihr Dorf zuruckgejagt. Anschlie?end hat er das Dorf angegriffen und den Hauptling gefangen genommen. Ich hab zwar nichts davon gesehen, weil ich hinter der Front gefesselt war, aber ich kenne das Ergebnis.«
Er schuttelte sich. »Nachdem er den Hauptling als Geisel hatte, sind wir in die Berge raufgestiegen, zur Wei?en Stadt.«
»Hauser wei?, dass es die Wei?e Stadt ist?«
»Er hat es von einem indianischen Gefangenen erfahren.
Aber er kennt ihre Lage nicht. Offenbar wissen nur der Hauptling und einige Alteste, wo genau die Grabkammer sich befindet.«
»Und wie bist du entkommen?«, fragte Tom.
Philip schloss die Augen. »Die Entfuhrung des Hauptlings hat die Indianer gewaltig gegen ihn aufgebracht. Sie haben Hauser auf dem Weg zur Wei?en Stadt angegriffen. Trotz ihrer schweren Waffen hatten Hauser und seine Leute keinen leichten Stand. Er hatte mir die Ketten abgenommen, um den Hauptling zu fesseln. Als der Kampf dann seinen Hohepunkt erreichte, ist mir die Flucht gegluckt. Ich war zehn Tage zu Fu? unterwegs ... das hei?t, eigentlich bin ich eher gekrochen. Ich habe mich von Insekten und Eidechsen ernahrt. Vor drei Tagen erreichte ich diesen Fluss. Ich wusste nicht, wie ich ruberkommen sollte. Ich stand vor dem Verhungern und