konnte nicht mehr gehen. Also hab ich mich unter den Baum gesetzt und aufs Ende gewartet.«
»Du hast drei Tage lang unter dem Baum gesessen?«
»Drei oder vier Tage. Nur Gott allein wei? es. Ich war vollig durcheinander.«
»Mein Gott, Philip, wie furchtbar.«
»Ganz im Gegenteil. Es war ein erfrischendes Gefuhl. Weil ich mir namlich uber nichts mehr Sorgen zu machen brauchte. Mich hat uberhaupt nichts mehr interessiert. Ich hab mich nie im Leben so frei gefuhlt wie unter diesem Baum. Ich glaube, hin und wieder war ich sogar glucklich.«
Das Feuer war heruntergebrannt. Tom warf noch ein paar Aste hinein und erweckte es zu neuem Leben.
»Hast du die Wei?e Stadt gesehen?«, fragte Vernon.
»Ich bin entwischt, bevor wir sie erreicht haben.«
»Wie weit ist es von hier zur Sierra Azul?«
»Ungefahr funfzehn Kilometer bis zum Vorgebirge, dann noch mal funfzehn oder zwanzig zur Stadt.«
Schweigen. Das Feuer knisterte und knackte. In einem fer-
nen Baum sang ein Vogel ein klagendes Lied. Philip schloss die Augen und murmelte voller Ironie: »Lieber alter Vater, was hast du deinen dich liebenden Kindern doch fur ein schones Erbe hinterlassen.«
43
Der Tempel war unter Lianen vergraben. Der vordere Sau-lengang wurde von rechteckigen Kalksteinsaulen getragen, auf denen grunes Moos wuchs. Sie hielten einen Teil des steinernen Daches aufrecht. Hauser stand davor und musterte die eigenartigen, in die Saulen gehauenen Hieroglyphen, Fratzen, Tiere, Punkte und Striche. Sie erinnerten ihn an den Codex.
»Bleibt drau?en«, sagte er zu seinen Mannern und schlug ein Loch in die wild wuchernden Pflanzen. Es war finster.
Hauser leuchtete mit der Taschenlampe um sich. Er sah weder Schlangen noch Jaguare; in einer Ecke hockte nur ein Haufen Spinnen. Ein paar Mause ergriffen die Flucht. Der Raum war trocken und uberdacht - ein geeigneter Ort, um das Hauptquartier aufzuschlagen.
Hauser schlenderte tiefer in den Tempel hinein. Am anderen Ende ragte noch eine Reihe quadratischer Saulen auf.
Sie rahmten einen verfallenen Turrahmen ein, der auf einen dusteren Hinterhof fuhrte. Er trat ins Freie. Ein paar Statuen lagen am Boden herum. Der Zahn der Zeit hatte ihnen heftig zugesetzt, und sie waren nass vom Regen. Riesige Baumwurzeln schlangelten sich wie dicke Anakondas uber das Gestein. Sie hatten Wande und Dacher durchbrochen, bis auch die Baume zu einem integralen Bestandteil dessen geworden waren, was das Gebaude zusammenhielt. Am Ende des Hofes fuhrte eine weitere Tur in eine kleine Kammer. Dort stie? er auf eine Statue von einem Mann, der auf dem Rucken lag und eine Schale in die Hohe hielt.
Hauser kehrte zu den wartenden Soldaten zuruck. Zwei der Manner bewachten den gefangenen Hauptling, einen gebeugten Greis, der bis auf seinen Lendenschurz und einen uber die Schulter laufenden, an der Taille befestigten Lederriemen nackt war. Sein Korper war eine einzige faltige Masse. Er schien wahrlich der alteste Mensch zu sein, dem Hauser je begegnet war - doch er wusste, dass er hochstens sechzig Jahre zahlte. Der Dschungel lie? einen schnell altern.
Hauser wandte sich an den Teniente: »Wir bleiben hier. Die Manner sollen den Raum dahinten fur mich reinigen und meine Koje und meinen Tisch aufstellen.« Er deutete mit einem Nicken auf den Hauptling. »Kettet ihn in dem kleinen Raum hinter dem Hof fest und bewacht ihn.«
Die Soldaten schubsten den alten Hauptling in den Tempel hinein. Hauser lie? sich auf einem Steinblock nieder, nahm eine frische Zigarrenrohre aus der Hemdtasche, schraubte das Kappchen ab und zog die Zigarre heraus. Sie war noch in eine Schicht aus Zedernholz verpackt. Er roch an der Verpackung, zerdruckte sie mit der Hand, roch erneut daran, inhalierte den erlesenen Wohlgeruch und nahm dann das Ritual in Angriff, das er so liebte: das Anzunden der Zigarre.
Wahrend er rauchte, begutachtete er die Ruine der gleich vor ihm aufragenden Pyramide. Im Vergleich zu Chichen Itza oder Copan stellte sie zwar nichts Besonderes dar, aber als Maya-Pyramide war sie mit ihren funfundzwanzig Metern Hohe doch recht beeindruckend. In Pyramiden fanden sich oftmals wichtige Grabkammern. Hauser war davon uberzeugt, dass der alte Max sich in einer Gruft niederge-lassen hatte, die er irgendwann einmal selbst geplundert hatte. Wenn dem so war, musste es eine wichtige Grabkammer sein; sein ganzer Krempel musste schlie?lich hineinpassen.
Baumwurzeln hatten die Stufen der zur Pyramide hinauffuhrenden Treppe teilweise auseinander geschoben, eine gro?e Zahl von Steinblocken ausgehebelt und zu Boden sturzen lassen. Ihre Spitze beherbergte einen kleinen, von vier Saulen umgebenen, vierturigen Raum mit einem Steinaltar, auf dem die Mayas ihre Opfer dargebracht hatten.
Hauser inhalierte. Er hatte gern mal gesehen, wie ein Ho-hepriester das Brustbein seines Opfers aufschlitzte, den Brustkorb auseinander zog, das schlagende Herz heraus-schnitt und es mit einem Triumphschrei in die Hohe hielt, wahrend der Leichnam die Treppe hinunterfiel, sodass die wartenden Edelleute ihn zu Hackfleisch verarbeiten konnten.
Was fur Barbaren!
Hauser rauchte mit Genuss. Auch wenn die Vegetation die Wei?e Stadt fast verschluckt hatte - sie war durchaus beeindruckend. Max hatte ihre Oberflache kaum angekratzt. Hier gab es noch eine Menge zu holen. Selbst ein simpler Steinklotz mit einem gemei?elten Jaguarkopf konnte einem leicht hundert Riesen einbringen. Er musste also sorgfaltig darauf achten, dass dieser Ort niemandem zu Ohren kam.
In ihrer Blutezeit war die Wei?e Stadt sicher wirklich bemerkenswert gewesen. Hauser stellte sie sich vor: die neuen, strahlend wei?en Tempel, die hier veranstalteten Ballspiele (bei denen die Verlierer ihres Kopfes verlustig gingen), die brullende Zuschauermenge, die Umzuge der mit Gold, Federn und Jade behangten Priester. Und was war passiert? Ihre Nachfahren lebten jetzt in Rindenhutten, ihr Oberpriester war in Lumpen gekleidet. Komisch, wie die Dinge sich veranderten.
Hauser fullte seine Lunge erneut mit Rauch. Es stimmte - nicht alles war nach Plan verlaufen. Egal. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass jedes Unternehmen eine Ubung in Sachen Improvisation war. Wer ein Unternehmen fur plan-bar und makellos durchfuhrbar hielt, starb immer dann, wenn er sich an seine Richtlinien klammerte. Improvisationstalent war seine gro?te Starke. Denn der Mensch war nun mal nicht berechenbar.
Da war zum Beispiel Philip. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er in seinem teuren Anzug, mit seinem affektierten Gehabe und dem aufgesetzt klingenden Oberklassenakzent wie ein Angeber gewirkt. Hauser konnte auch jetzt noch nicht richtig glauben, dass ihm die Flucht gegluckt war.
Philip wurde sein Leben wahrscheinlich im Dschungel aus-hauchen - er hatte schlie?lich schon vor seiner Flucht aus dem letzten Loch gepfiffen -, aber Hauser machte sich dennoch Gedanken. Er war auch beeindruckt. Vielleicht war ja doch ein Tick von Max auf diesen miesen kleinen Schwachling abgefarbt. Max. Er hatte sich wirklich als durchgeknall-ter alter Armleuchter entpuppt.
Die Hauptsache war jetzt, dass er die Prioritaten richtig setzte. Zuerst der Codex, der restliche Krempel kam dann spater dran. Und dann Punkt drei: die Wei?e Stadt an sich.
Hauser hatte im Laufe der Jahre mit Interesse die Plunde-rung der Ausgrabungsstatte Q verfolgt. Die Wei?e Stadt wurde
Er begutachtete das Ende der Zigarre und hob sie hoch, damit die Rauchkringel seine Nasenlocher kitzelten. Die Zigarren hatten die Reise durch den Regenwald gut uberstanden -man konnte fast sagen, sie hatte ihnen gut getan.
Der Teniente trat ins Freie und salutierte: »Wir sind fertig, Sir.«
Hauser folgte ihm in die Tempelruine. Die Soldaten brachten gerade den au?eren Teil in Ordnung, harkten den tieri-schen Kot zusammen, verbrannten die Spinnweben, ver-spritzten Wasser, damit es nicht staubte, und bedeckten den Boden mit abgeschnittenen Farnen. Hauser zog den Kopf ein, als er durch den niedrigen Turrahmen in den Innenhof ging und an den umgekippten Statuen vorbei in den hinteren Raum trat. Der faltige alte Indianer war an eine Steinsaule gekettet. Hauser richtete die Lampe auf ihn. Er war ein alter Sack, doch er hielt seinem