durch eine Wand aus Farnen und Lianen, die so dicht war, dass sie den Eindruck erweckte, sie wolle sie schier zurucksto?en. Sie krochen unter ihr her, kletterten uber umgesturzte Baume hinweg und wateten durch sumpfige Tumpel, wobei ihnen der Schlamm gelegentlich bis zur Taille reichte. Die Vegetation wimmelte von Ameisen und Stechmucken, die sich, sobald man sie storte, wutend auf einen sturzten, einem durchs Haar krabbelten, in den Kragen fielen und stachen und bissen. Philip kriegte am meisten ab, da seine Matte durch dichtes Gestrupp gezerrt wurde. Don Alfonso bestand weiterhin darauf, den Pfad zu meiden.
Es war die reine Holle. Regen fiel ohne Unterlass. Alle paar hundert Meter wechselten sie sich ab, um eine Gasse in das dichte Gestrupp zu schlagen; dann trugen sie Philip zu zweit uber den Pfad. Anschlie?end hielten sie an, und der Nachste schlug einen hundert Meter langen Pfad durch das Gestrupp. Auf diese Weise legten sie an zwei Tagen im pausenlos prasselnden Regen hundert Meter pro Stunde zuruck. Sie wateten durch kniehohen Schlamm und glitten aus. Manchmal krabbelten sie bergauf, fielen hin und rutschten zuruck. Tom hatte die meisten Hemdknopfe verloren. Seine Schuhe waren so auseinander gefallen, dass er sich mehrmals an spitzen Stocken schnitt. Die anderen befanden sich in einem ahnlichen Zustand der Zerlumptheit.
Im Wald gab es keinerlei Wild. Die Tage verschmolzen zu einer einzigen langen Plackerei, die sie durch schlecht einsehbares Dickicht und von Regengeprassel erfullte Sumpfe fuhrten. Sie wurden pausenlos gestochen, sodass ihre Haut fast die Beschaffenheit von rauer Jute annahm. Nun waren vier Personen notwendig, um Philip zu heben, und manchmal mussten sie eine Stunde lang rasten, um ihn nur ein Dutzend Schritte weiterzubefordern.
Tom verlor allmahlich jegliches Zeitgefuhl. Ihm wurde klar, dass das Ende nicht mehr fern war - der Augenblick, an dem er nicht mehr weiter konnte. Er fuhlte sich eigenartig leer im Kopf. Tage und Nachte gingen ineinander uber.
Einmal klatschte er in den Schlamm und blieb liegen, bis Sally ihn hochhievte. Eine halbe Stunde spater, tat er das Gleiche fur sie.
Sie erreichten ein freies Gebiet, auf dem ein umgesturzter Riesenbaum eine gro?e Schneise ins Blatterdach gerissen hatte. Der Boden, der ihn umgab, war relativ eben. Der Baum war so gefallen, dass man unter seinem gewaltigen Stamm ein Quartier aufschlagen konnte.
Tom konnte kaum noch gehen. Alle kamen stillschwei-gend uberein, hier Rast zu machen. Tom fuhlte sich so schwach, dass er sich fragte, ob er uberhaupt je wieder wurde aufstehen konnen, wenn er sich jetzt hinlegte. Mit letzter Kraft schlugen sie Aste von dem Baum ab, richteten sie gegen den Stamm gelehnt auf und bedeckten sie mit Farn. Es schien gegen Mittag zu sein. Sie krochen unter das Schutzdach, hockten sich hin und legten sich auf dem nassen Boden in eine funf Zentimeter dicke Schlammmasse.
Spater unternahmen Sally und Tom einen weiteren Versuch, etwas zu erjagen, doch sie kehrten vor Einbruch der Dunkelheit mit leeren Handen zuruck. Sie hockten sich unter den Stamm, wahrend die lange Dunkelheit sich auf sie herabsenkte.
Im sterbenden Licht untersuchte Tom Philip. Er war in einem jammerlichen Zustand. Inzwischen fieberte und phantasierte er. Seine Wangen waren stark eingefallen; er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Seine Arme sahen aus wie dunne Stecken, und seine Ellbogen waren verschwollen. Einige der sorgfaltig behandelten Infektionen hatten sich erneut geoffnet. Die Maden waren wieder da. Tom hatte das Gefuhl, dass ihm das Herz brach. Sein Bruder lag im Sterben.
Irgendwie wusste er auch, dass keiner von ihnen die elen-de kleine Lichtung je lebend wieder verlassen wurde.
Die teilnahmslose Apathie des beginnenden Hungertodes bemachtigte sich eines jeden. Tom lag den gro?ten Teil dieser Nacht wach, da er keinen Schlaf fand. In dieser Nacht horte der Regen auf, und als der Morgen graute, schien uber den Baumwipfeln die Sonne. Zum ersten Mal seit Wochen konnte man den blauen Himmel sehen - er war makellos. Sonnenstrahlen fielen durch die Lucken zwischen den Baumwipfeln. Flutende Sonne fing Insektenschwarme ein und lie? sie wie wirbelnde Lichttornados wirken. Vom Stamm des Riesenbaumes stieg Dampf auf.
Welch eine Ironie das doch war: Die Lucke zwischen den Baumkronen lie? ein vollkommenes Abbild der Sierra Azul sehen. Da bewegten sie sich seit einer Woche in die entge-gengesetzte Richtung, und die Berge schienen naher denn je zuvor: Ihre Gipfel ragten uber die Wolkenfetzen und waren so blau wie geschliffene Saphire. Tom empfand nun keinen Hunger mehr. So
Er spurte eine Hand auf seiner Schulter. Sie gehorte Sally.
»Komm mal her«, sagte sie mit ernster Stimme.
Tom empfand plotzlich Angst. »Geht's um Philip?«
»Nein. Um Don Alfonso.«
Tom stand auf und folgte ihr unter dem Stamm zu der Stelle, an der Don Alfonsos Hangematte direkt uber dem feuchten Boden baumelte. Ihr Fuhrer lag auf der Seite und musterte die Sierra Azul. Tom hockte sich neben ihn und nahm seine welke alte Hand. Sie war hei?.
»Tut mir Leid, Tomasito, aber ich bin ein nutzloser alter Mann. Ich bin so nutzlos, dass ich sterbe.«
»Sagen Sie nicht so was, Don Alfonso.« Tom legte seine Hand auf die Stirn des Indianers und bekam einen Schreck, denn sie war sehr hei?.
»Der Tod ruft mich. Da kann man nicht sagen: >Komm nachste Woche wieder; ich muss noch was erledigen^«
»Haben Sie in der letzten Nacht wieder von Petrus oder dergleichen getraumt?«, fragte Sally.
»Man braucht nicht von Petrus zu traumen, wenn man wei?, wann das Ende gekommen ist.«
Sally schaute Tom kurz an. »Hast du irgendeine Ahnung, was er hat?«
»Ohne richtige Diagnose, ohne Blutbild oder ein Mikros-kop ...« Tom murmelte eine Verwunschung, dann stand er auf und kampfte gegen eine Woge des Schwindels an.
Er verdrangte die nutzlosen Gedanken und schaute sich Philip an. Sein Bruder schlief. Er hatte, wie Don Alfonso, hohes Fieber. Tom war sich keinesfalls sicher, ob er je wieder erwachen wurde. Vernon zundete inzwischen ein Feuer an. Er ignorierte Don Alfonsos Einwande. Sally braute einen medizinischen Tee fur den Sterbenden. Sein Gesicht war eingefallen und schien nach innen zu sinken; seine Haut verlor ihre Farbe und nahm einen wachsernen Ton an.
Er atmete schwer, war aber noch bei Bewusstsein. »Ich werde Ihren Tee zwar trinken, Curandera«, sagte er, »aber Ihre Medizin wird mich nicht retten.«
Sally hockte sich hin. »Sie reden sich ein, dass Sie sterben, Don Alfonso. Sie konnen es sich aber auch wieder ausre-den.«
Don Alfonso nahm ihre Hand. »Nein, Curandera, meine Zeit ist gekommen.«
»Das konnen Sie doch gar nicht wissen.«
»Mein Tod wurde mir prophezeit.«
»Horen Sie doch mit diesem absurden Unsinn auf. Sie konnen doch nicht in die Zukunft sehen!«
»Als ich ein kleiner Junge war, hatte ich mal starkes Fieber. Da nahm meine Mutter mich mit zu einer
»Vielleicht hat sie ja irgendwelche anderen blauen Berge gemeint.«
»Sie hat
Sally blinzelte eine Trane fort. »Horen Sie mit dem Quatsch auf, Don Alfonso.«
Don Alfonso lachelte plotzlich. »Ist es nicht wunderbar, wenn eine schone Frau am Sterbebett eines alten Zausels weint.«
»Das ist nicht Ihr Sterbebett. Au?erdem weine ich gar nicht.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Curandera. Es kommt nicht uberraschend fur mich. Als ich zu dieser Reise aufbrach, wusste ich, dass es meine letzte sein wurde. In Pito Solo war ich ein nutzloser Greis. Ich wollte aber nicht als schwacher alter Trottel in meiner Hutte sterben. Ich, Don Alfonso Boswas, wollte als
»Ich habe mir naturlich nicht vorgestellt, dass ich unter einem verfaulten Baum im stinkenden Schlamm