Tom legte ihr eine Hand aufs Haar. »Was fur ein beschissener Ort, um sich zu verlieben ...«

»Das kann man wohl sagen.«

»Vielleicht in einem anderen Leben ...« Er riss sich zusammen, um nicht den Halt in der Wirklichkeit zu verlieren.

»Vielleicht haben wir irgendwo noch mal eine Chance ...«

In seinem Kopf ging alles durcheinander. Was wollte er noch mal sagen? Er schloss die Augen und versuchte, gegen den Schwindel anzugehen, doch vor ihm war nur ein grunbrauner Wirrwarr. Er fragte sich kurz, ob alles vielleicht nur ein Traum war: die Krebserkrankung seines Vaters, die Reise, der Dschungel, Sally, sein im Sterben liegender Bruder. Ja, nun wurde es ihm klar. Es war tatsachlich ein Traum gewesen, ein langer, bizarrer Traum. Er wurde gleich in seinem Bett aufwachen, wieder ein kleiner Junge sein und seinen Vater aus dem ersten Stock rufen horen:

»Guten Morgen, guten Morgen -der neue Tag vertreibt die Sorgen!«

Mit diesem Gedanken sank er glucklich ins Vergessen zuruck.

46

Marcus Hauser sa? auf einem Campinghocker im Turrahmen der Tempelruine und blickte in den Morgen hinaus.

Ein Tukan hupfte kreischend in einem Baum in der Nahe herum und schuttelte seinen riesigen Schnabel. Es war ein prachtiger Tag, der Himmel hellblau, der Dschungel ein gedampftes Grun. Hier in den Bergen war es kuhler, und die Luft wirkte frischer. Der Duft einer unbekannten Blute wehte an ihm vorbei. Hauser hatte ein Gefuhl von zuruck-kehrendem Frieden. Hinter ihm lag eine lange Nacht. Er fuhlte sich ausgelaugt, leer und enttauscht.

Schritte lie?en den Blatterteppich rascheln. Ein Soldat brachte ihm das Fruhstuck - Speck, Eier, Kaffee, gebratene Bananen - auf einem emaillierten Teller. Die Portion war sogar mit irgendeinem Kraut garniert. Hauser balancierte den Teller auf den Knien. Die Garnierung passte ihm nicht, also schnippte er sie fort. Dann griff er nach der Gabel und begann zu essen. Seine Gedanken galten den Ereignissen der vergangenen Nacht. Es war Zeit gewesen, die Sache mit dem Hauptling voranzutreiben oder aufzugeben. Er hatte zwar schon nach zehn Minuten gewusst, dass er den Willen des alten Burschen nicht brechen wurde, aber aufgegeben hatte er nicht. Es war wie beim Betrachten pornographi-scher Filme: Man konnte sie nicht abschalten, aber am Ende verwunschte man die Zeit und die Energie, die man mit ihnen vergeudet hatte. Hauser hatte sich wirklich Muhe gegeben. Er hatte sein Bestes getan. Nun musste er sich eine andere Losung fur sein Problem einfallen lassen.

Zwei Soldaten tauchten im Turrahmen auf. Die Leiche hing schlaff zwischen ihnen. »Was sollen wir mit ihm machen, Jefe?«

Hauser wies ihnen mit der Gabel die Richtung, denn er hatte den Mund voller Ei. »In die Schlucht.«

Sie gingen hinaus, und er setzte sein Fruhstuck fort, bis zum letzten Bissen. Die Wei?e Stadt war gro? und uberwuchert. Max konnte fast uberall bestattet worden sein. Das Problem bestand darin, dass die Indianer nun so aufgebracht waren, dass keine gro?e Chance bestand, sich eine neue Geisel zu holen und die Lage der Gruft aus ihr her-auszupressen. Andererseits hatte Hauser keine Lust, in den nachsten zwei Wochen selbst in den von Ratten wimmeln-den Ruinen herumzugraben.

Er beendete seine Mahlzeit, kramte in seinen Taschen und zog einen schlanken Aluminiumbehalter hervor. Nach einer Minute war dem Ritual Genuge getan: die Zigarre brannte.

Hauser inhalierte tief und spurte die beruhigende Wirkung des sich von seiner Lunge in seinem Korper ausbreitenden Nikotins. Es lie? sich jedes Problem in Optionen und Un-teroptionen zerlegen. Er hatte zwei: Er konnte die Grabkammer allein ausfindig machen oder sie von jemand aufspuren lassen. Wenn er sie suchen lie?, wer konnte dies sein?

»Teniente?«

Der Leutnant, der drau?en auf seine Tagesbefehle wartete, kam herein und salutierte. »Si, Senor?«

»Ich mochte, dass Sie einen Mann zuruckschicken, um in Erfahrung zu bringen, wie weit die Gebruder Broadbent gekommen sind.«

»Jawohl, Sir.«

»Er soll sie nicht belastigen. Au?erdem durfen sie ihn nicht bemerken. Ich mochte wissen, in welchem Zustand sie sind -ob sie weiterziehen oder aufgegeben haben. Er soll so viel rauskriegen wie moglich.«

»Jawohl, Sir.«

»Heute nehmen wir uns die Pyramide vor. Wir offnen das eine Ende mit Dynamit und arbeiten uns dann voran. Teilen Sie den Sprengstoff und die Manner ein. Sie sollen in einer Stunde fertig sein.« Er stellte den Teller auf dem Boden ab, stand auf und hangte sich die Steyr AUG uber die Schulter. Dann trat er in den Sonnenschein hinaus, warf einen Blick auf die Spitze der Pyramide und berechnete, wo die Ladungen befestigt werden mussten. Ob er Max in der Pyramide fand oder nicht: Die Arbeit wurde die Soldaten zumindest beschaftigen und unterhalten. Laute Explosionen horte schlie?lich jeder gern.

Sonnenschein. Es war der erste, den er seit Wochen zu Gesicht bekam. Zur Abwechslung wurde es mal Spa? machen, im Sonnenschein tatig zu werden.

47

Der Tod kam zu Tom Broadbent, doch er war nicht in eine schwarze Kutte gehullt und hatte auch keine Sense. Er kam in Form eines abscheulich barbarischen, rotgelb gestreiften Gesichts und einer Gestalt, an der sich grune Federn straub-ten. Sie hatte grune Augen, schwarzes Haar und spitze wei?e Zahne. Die Gestalt blickte Tom ins Gesicht und beruhrte ihn mit den Fingern. Doch der Tod, den Tom erwartet hatte, lie? sich nicht blicken. Vielmehr zwang die grasslich anzusehende Gestalt ihn pausenlos, eine hei?e Flussigkeit zu trinken. Tom setzte sich schwach zur Wehr, dann ergab er sich seinem Schicksal und schlief wieder ein.

Als er erwachte, hatte er ein trockenes Gefuhl in der Kehle und pochende Kopfschmerzen. Er lag in einer trockenen Hangematte in einem Unterstand mit einem Schilfdach und trug ein frisches T-Shirt und Shorts. Vor dem Unterstand schien die Sonne. Der Dschungel lie? allerlei Gerausche horen. Eine ziemliche Weile wusste Tom nicht einmal mehr, wer er war und was er hier machte. Dann fiel ihm eins nach dem anderen wieder ein: das Verschwinden seines Vaters; das seltsame Testament; die Fahrt flussaufwarts; Don Alfonsos Scherze und Spruche; die kleine Lichtung mit dem Ausblick auf die Sierra Azul - und das Sterben unter dem Riesenbaum im Regen.

Alles schien vor unendlich langer Zeit passiert zu sein.

Tom fuhlte sich erfrischt, wie neu geboren - und so schwach wie ein Saugling.

Er hob vorsichtig den Kopf, doch nur so weit, wie der hammernde Kopfschmerz es erlaubte. Die Hangematte neben ihm war leer. Sein Herz tat einen Sprung. Wer hatte in ihr gelegen? Sally? Vernon? Wer war gestorben?

»Hallo?«, fragte er und versuchte sich aufzusetzen. »Ist hier jemand?«

Drau?en ertonte ein Gerausch, dann hob Sally die Klappe hoch und trat ein. Sie wirkte wie ein plotzlicher Strahl aus Gold auf ihn. »Tom! Wie schon, dass es dir besser geht!«

»Ach, Sally ... Ich hab die leere Hangematte gesehen und dachte schon ...«

Sally kam zu ihm und nahm seine Hand. »Wir sind noch alle da.«

»Philip auch?«

»Er ist zwar noch krank, aber es geht ihm viel besser. Vernon durfte morgen wieder auf dem Damm sein.«

»Was ist passiert? Wo sind wir?«

»Noch immer am gleichen Ort. Du kannst Borabay danken, wenn er zuruckkommt. Er ist auf der Jagd.«

»Borabay?«

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