ich bestimmt jede Menge Fische fangen.«

»Prima Idee, Tom«, meinte Vernon. Seine Stimme klang angespannt.

»Wir geben namlich nicht auf.«

»Nein«, sagte Sally.

Vernon schuttelte den Kopf. »Ich frage mich, was Vater wohl dachte, wenn er uns jetzt sehen konnte.«

Tom schuttelte den Kopf. Er hatte es langst aufgegeben, Gedanken an Maxwell Broadbent zu verschwenden. Wenn er gewusst hatte, was er angerichtet hatte ... dass er seine drei Sohne in den Tod geschickt hatte ... Es war unertraglich, daruber nachzudenken. Sie hatten ihn zeit seines Lebens enttauscht, und nun enttauschten sie ihn nach seinem Tod.

Tom stierte eine Weile ins Feuer. »Bist du wutend auf ihn?«, fragte er.

Vernon zogerte. »Ja.«

Tom machte eine hilflose Handbewegung. »Glaubst du, wir sind fahig, ihm zu verzeihen?«

»Spielt das eine Rolle?«

Tom erwachte noch vor dem Morgengrauen mit einem eigenartigen Druckgefuhl am Hinterkopf. Es war dunkel und regnete. Das Prasseln des Regens schien in seinen Kopf hi-neinzukriechen. Er drehte sich zweimal auf dem klammen Boden herum, und aus dem Druck wurden Kopfschmerzen.

Er schwang die Beine uber den Rand der Hangematte, setzte sich hin und bemerkte zu seiner gro?en Uberraschung, dass er sich kaum aufrecht halten konnte. Er sank zuruck.

In seinem Kopf drehte sich alles. Er stierte in die Finsternis hinauf. Sie schien von wirren rotbraunen Wirbeln und flu-sternden Stimmen erfullt zu sein. In der Nahe ertonte Knilchs leises, besorgtes Geschnatter. Tom schaute sich um und lokalisierte schlie?lich in der Finsternis das Affchen. Es hockte neben ihm am Boden und stie? angstliche Schnalzgerausche aus. Und nun wusste er, dass etwas nicht in Ordnung war.

Es war mehr als nur eine Auswirkung des Hungers. Ihm wurde bewusst, dass er krank war. Oh, Gott, dachte er.

Nicht jetzt. Er drehte den Kopf und versuchte, Sally oder Vernon in der wirbelnden Dusternis zu erkennen. Doch er sah nichts. Seine Nase witterte den widerlichen Geruch von fauliger Vegetation, Regen und Lehm. Das Gerausch des auf die Blatter des Waldes trommelnden Regens bohrte sich ihm in den Schadel. Er merkte, dass er wieder einzuschla-fen drohte, und offnete die Augen. Sally leuchtete ihn in der Dunkelheit mit der Taschenlampe an.

»Ich gehe heute angeln«, sagte Tom.

»Du gehst nirgendwo hin«, erwiderte sie. Sie streckte eine Hand aus und beruhrte seine Stirn. Es gelang ihr nicht, die Angst zu verbergen, die sich auf ihrem Gesicht zeigte. »Ich bringe dir einen Tee.«

Sie kehrte mit einem dampfenden Becher zuruck und half Tom, ihn zu leeren. »Schlaf weiter«, sagte sie.

Tom schlief weiter.

Als er erwachte, war es heller, aber es regnete noch immer. Sally beugte sich uber ihn. Als sie sah, dass er die Augen offnete, versuchte sie zu lacheln.

Tom frostelte trotz der erstickenden Hitze, die unter dem Baum in der Lagerstatt herrschte. »Philip?«, brachte er hervor.

»Wie immer.«

»Vernon?«

»Er ist auch krank.«

»Verdammt.« Tom schaute Sally an. Panik packte ihn.

»Und du? Wie geht's dir?« Ihr Gesicht sah gerotet aus.

»Wirst du auch krank?«

Sally legte ihm eine Hand auf die Wange. »Ja, ich werde auch krank.«

»Ich werde wieder gesund«, sagte Tom. »Dann kummere ich mich um dich. Wir kommen schon aus diesem Dreck raus.«

Sally schuttelte den Kopf.

»Nein, Tom. Daraus wird nichts.«

Die einfache Behauptung dieser Tatsache schien Toms pulsierenden Schadel zu klaren. Das war es dann also gewesen. Sie wurden im Regen unter einem faulenden Baum krepieren. Raubtiere wurden sie zerrei?en. Und niemand wurde je erfahren, was aus ihnen geworden war. Er versuchte sich einzureden, dass das Fieber aus ihm sprach, dass die Lage so schlimm nun doch nicht sei, aber insgeheim wusste er, dass es stimmte. In seinem Kopf drehte sich alles. Er versuchte sich zu konzentrieren. Sie wurden sterben. Er offnete die Augen.

Sally war noch bei ihm. Ihre Hand lag auf seiner Wange.

Sie schaute ihn lange an. Ihr Gesicht war schmutzig, zerkratzt und von Insekten zerstochen. Ihr Haar verfilzt und stumpf, ihre Augen lagen tief in den Hohlen. Wenn man von der leuchtenden Farbe ihrer Augen und der leicht vorstehenden Unterlippe absah, hatte sie keine Ahnlichkeit mehr mit der jungen Frau, die in Utah ohne Sattel hinter ihm hergeritten war. »Wir haben nicht mehr viel Zeit«, meinte Sally schlie?lich. Sie verharrte und schaute ihn konzentriert an. »Ich muss dir was sagen, Tom.«

»Was denn?«

»Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.«

Die Realitat kehrte mit unvermittelter Klarheit zu ihm zuruck. Tom brachte kein Wort heraus.

»Nun ja«, fuhr sie rasch fort. »Jetzt ist es raus.«

»Und was ist mit ...?«

»Julian? Er ist der perfekte Traummann. Er sieht gut aus und ist intelligent. Au?erdem hat er zu allen Themen die richtige Meinung. Er ist der Mann, den sich alle Eltern als Schwiegersohn wunschen. Er ist meine Sarah. Aber wer will die schon haben? Was ich fur ihn empfunden habe, ist nicht das, was ich fur dich empfinde - trotz all deiner ...« Sie lachelte zogernd. »Unzulanglichkeiten?«

Nachdem sie alles gesagt hatte, waren samtliche Komplikationen fortgewischt. Nun war alles klar und einfach. Tom wollte etwas erwidern. Schlie?lich gelang es ihm, die Worte zu krachzen: »Ich liebe dich auch.«

Sarah lachelte. Ein winziges Aufflackern ihrer fruheren Ausstrahlung zeigte sich. »Ich wei?. Und es freut mich. Tut mir Leid, dass ich so rotzig zu dir war. Es war purer Trotz.«

Sie schwiegen einen Augenblick.

»Ich glaube, ich habe dich von dem Augenblick an geliebt, als du mein Pferd geklaut und in Utah hinter mir hergeritten bist«, sagte Tom. »Aber richtig mitgekriegt habe ich's erst, als du den Jaguar nicht toten wolltest. Dafur werde ich dich immer lieben.«

»Als du mich ins Freie geholt hast, um mir den leuchtenden Wald zu zeigen«, sagte Sally, »da wurde mir klar, dass ich im Begriff war, mich in dich zu verlieben.«

»Du hast nie was gesagt.«

»Ich hab 'ne Weile gebraucht, um es zu verarbeiten. Wie dir vielleicht aufgefallen ist, bin ich stur. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass ich mich geirrt hatte.«

Tom schluckte. In seinem Kopf drehte sich allmahlich alles. »Aber ich bin doch nur ein ganz normaler Typ. Ich bin nicht mit sechzehn nach Stanford gegangen ...«

»Normal? Ein Mann, der sich mit Jaguaren und Anakondas rauft? Wer fuhrt schon Expeditionen mit Mut und Humor ins Herz der Finsternis an?«

»Ich hab's nur getan, weil ich dazu gezwungen war.«

»Auch das ist eine deiner positiven Eigenschaften. Du bist bescheiden. Das Zusammensein mit dir hat mir verdeut-licht, was Julian fur ein Mensch ist. Er wollte nicht mitkommen, weil er befurchtete, es konnte unbequem werden.

Es hatte seine Arbeit gestort. Au?erdem glaube ich, dass er Angst hatte. Mir ist bewusst geworden, dass er zu jenen Menschen zahlt,

die nichts riskieren, solange nicht von vornherein feststeht, dass sie gewinnen. Du hingegen wurdest das Unmogliche versuchen.«

Tom empfand nun ein Schwindelgefuhl. Er strengte sich an, um bei Sinnen zu bleiben. Sallys Worte gefielen ihm.

Sie legte ihm mit einem traurigen Lacheln eine Hand auf den Brustkorb. »Schade, dass die Zeit uns davonlauft.«

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