»Ein Bergindianer. Er hat uns gefunden und gerettet. Er hat uns alle gesund gepflegt.«

»Warum?«

»Ich wei? nicht.«

»Wie lange war ich weg?«

»Wir waren alle ungefahr eine Woche krank. Wir haben uns ein Fieber eingefangen, das er Bisi nennt. Er ist ein Cu-randero. Nicht so einer wie ich, sondern ein echter. Er hat uns Medizin eingeflo?t, uns gefuttert und uns das Leben gerettet. Er spricht au?erdem ein ziemlich seltsames Englisch.«

Tom versuchte, sich hinzusetzen.

»Noch nicht.« Sally druckte ihn wieder nach unten. »Trink das hier.«

Sie reichte ihm einen Becher, der mit einem su?en Getrank gefullt war. Tom leerte ihn bis auf den Grund und spurte, wie sein Hunger zunahm. »Ich rieche, dass da etwas kocht, das ungeheuer lecker duftet.«

»Schildkroteneintopf a la Borabay. Ich bring dir eine Portion.« Sie streichelte ihm die Wange. Tom schaute zu ihr auf. Nun erinnerte er sich an alles. Sally beugte sich uber ihn und gab ihm einen Kuss. »Wir haben noch immer einen weiten Weg vor uns, bevor alles vorbei ist.«

»Ja.«

»Gehen wir also schrittweise vor.«

Tom nickte. Sie reichte ihm eine Portion Schildkrotensup-pe. Tom verzehrte sie, dann fiel er in einen gesunden Schlaf. Als er das nachste Mal erwachte, war der Kopfschmerz weg. Er konnte die Hangematte verlassen und trat leicht wankend ins Freie. Seine Beine fuhlten sich wie Gummi an. Sie befanden sich auf der alten Lichtung mit dem umgekippten Baum, doch das nasskalte Dickicht hatte sich in ein vergnugtes offenes Lager verwandelt. Ausge-rupfte Farne bedeckten den schlammigen Boden und bildeten einen angenehm federnden Teppich. Tom erblickte zwei ordentliche Unterstande aus Palmwedeln und ein Lager-

feuer mit Baumstammen, auf denen man sitzen konnte.

Sonnenlicht stromte zwischen den Wipfeln hindurch. Die Sierra Azul schaute in dunklem Violett vor dem blauen Himmel durch die Lucke. Sally sa? am Feuer, und als Tom ins Freie trat, sprang sie auf, nahm ihn am Arm und half ihm, sich hinzusetzen.

»Wie spat ist es?«

»Zehn Uhr morgens«, sagte Sally.

»Wie geht's Philip?«

»Er liegt in der Hangematte. Er ist zwar noch schwach, aber er wird gesund. Vernon schlaft gerade das letzte Sta-dium des Fiebers aus. Nimm noch von dem Eintopf. Borabay hat gesagt, wir sollen so viel essen, wie wir nur konnen.«

»Wo ist dieser geheimnisvolle Borabay?«

»Auf der Jagd.«

Tom a? noch etwas Schildkrotenfleisch. Uber dem Feuer blubberte ein gro?er Topf, der nicht nur mit Fleischbrocken, sondern auch mit vielen eigenartigen Wurzeln und Gemuse gefullt war. Als er fertig war, machte er sich zum anderen Unterstand auf, um nach Philip zu sehen. Er zog die Tur aus Palmwedeln auf, duckte sich und trat ein.

Philip lag rauchend in einer Hangematte. Er war zwar noch immer erschreckend dunn, aber seine Wunden hatten Schorf gebildet und seine Augen lagen nicht mehr so tief in den Hohlen.

»Freut mich, dass du wieder auf den Beinen bist, Tom«, sagte er.

»Wie geht's dir?«

»Bin zwar noch ein bisschen schwach in den Knien, aber sonst so fit wie ein Turnschuh. Ich fuhle mich fast gesund.

In ein, zwei Tagen kann ich wieder laufen.«

»Hast du diesen Borabay schon gesehen?«

»Oh, ja. Ein irrer Typ, voll angemalt. Hat kleine Scheiben in den Ohrlappchen, ist tatowiert, das ganze Programm.

Sally wollte ihn schon zur Seligsprechung nominieren, aber ich bezweifle, dass er katholisch ist.«

»Du wirkst wie ein neuer Mensch, Philip.«

»Du auch, Tom.«

Verlegenes Schweigen machte sich breit, das ein Ruf von drau?en unterbrach: »Hallo, Bruder!«

»Ah, Borabay ist wieder da«, sagte Philip.

Tom huschte aus dem Unterstand und sah einen erstaunlichen kleinen Indianer uber die Wiese kommen. Sein Oberkorper und sein Gesicht waren rot angemalt. Schwarze Kreise umgaben seine Augen; wilde Streifen liefen ihm quer uber den Brustkorb. Federn raschelten an Bandern an seinen Oberarmen, und er war bis auf einen Lendenschurz nackt. Zwei riesige Stopsel steckten in seinen lang gezoge-nen Ohrlappchen, die bei jedem Schritt wippten. Ein kompliziertes Narbenmuster verlief uber seinen Bauch. Seine Vorderzahne waren spitz zugefeilt, er hatte stumpf abgeschnittenes schwarzes Haar, und seine Augen waren von einem sehr ungewohnlichen Haselnussbraun, fast grun.

Sein Gesicht war uberraschend schon und fein geschnitten, seine Haut glatt und wie gemei?elt.

Er blieb wurdevoll am Feuer stehen. In der einen Hand hielt er ein zwei Meter langes Blasrohr, in der anderen den Kadaver eines Tieres unbekannter Spezies.

»Ich Fleisch bringen, Bruder«, sagte Borabay grinsend auf Englisch. Er lie? seine Beute zu Boden fallen, kam zu Tom heruber, umarmte ihn zweimal und kusste ihn auf beide Wangen. Es war wohl irgendein indianischer Ritualgru?.

Dann trat er zuruck und legte eine Hand auf seinen Brustkorb. »Mein Name Borabay, Bruder.«

»Ich bin Tom.«

»Ich Jane«, sagte Sally.

Borabay drehte sich um. »Jane? Du nicht Sally?«

Sally lachte. »Das war ein Witzchen.«

»Du, ich, ihm, wir Bruder.« Borabay umarmte Tom noch einige Male und kusste ihn seitlich auf den Hals.

»Danke, dass du uns das Leben gerettet hast«, sagte Tom.

Er hatte es kaum ausgesprochen, als ihm auffiel, wie schwach er klang. Aber Borabay wirkte erfreut.

»Danki. Danki. Du essen Suppe?«

»Ja. Kostlich.«

»Borabay guter Koch. Du essen mehr.«

»Wo hast du Englisch gelernt?«

»Meine Mutter mir beibringen.«

»Du sprichst es gut.«

»Ich sprechen schlecht. Aber ich von euch lernen, dann sprechen guter.«

»Besser«, sagte Sally.

»Danke. Ich irgendwann geh nach Amerika mit dir, Bru-

der.«

Es erstaunte Tom, dass hier drau?en, so fern von jeglicher Zivilisation, jedermann nach Amerika auswandern wollte.

Borabay warf einen Blick auf Knilch, der an seinem ublichen Platz in Toms Hemdtasche sa?.

»Das Affchen immer schreien, wenn du krank. Was sein Name?«

»Knilch«, sagte Tom.

»Warum du nicht essen Affchen, wenn du verhungern?«

»Tja, ich kann es eben gut leiden«, sagte Tom. »Au?erdem ist er doch nur ein Happchen.«

»Warum du ihn nennen Knilch? Was ist Knilch?«

»Ahm ... Es ist nur ein Kosename fur so ein kleines Kerl-chen. «

»Gut. Ich lerne neues Wort. Knilch. Ich mochte lernen Englisch.«

»Ich mochte Englisch lernen«, sagte Sally.

»Danki! Ihr mir immer sagen, wenn ich mache Fehler.«

Borabay hielt dem Affchen einen Finger hin. Knilch ergriff ihn mit seiner winzigen Hand und begaffte ihn. Dann quakte er und duckte sich in Toms Tasche.

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