»Ich hoffe doch nicht, dass du ihn verteidigen willst.«

»Ich bemuhe mich nur, ihn zu verstehen.«

»Ich verstehe ihn nur zu gut. Dieser Grabrauber-Schei? ist nur eine weitere Herausforderung auf seiner langen Liste.

Erinnert ihr euch noch an unsere Sportlehrer, den Kunstgeschichte-Unterricht, die Reit-, Musik- und Schachstunden, die Ermahnungen, Reden und Drohungen? Wisst ihr noch, wie es war, wenn wir unsere Zeugnisse kriegten? Wir sind Nieten fur ihn, Tom. Er hat uns immer fur Nieten gehalten.

Und vielleicht hat er ja Recht. Schaut mich an: Ich bin sie-benunddrei?ig Jahre alt und noch immer Assistent am Durchschnittsheimer-College. Du verarztest Indianerpferde in Hinterwald, Utah, und Vernon verbringt die reifste Zeit seines Lebens damit, Swami Wu-Wu Liedchen zu singen.

Wir sind Verlierer.« Er brach in ein heiseres Lachen aus.

Borabay stand auf. Die Handlung an sich war einfach, aber er tat es mit solch langsamer Bedachtigkeit, dass es alle zum Schweigen brachte. »Das keine gute Rede.«

»Du warst auch nicht gemeint, Borabay«, sagte Philip.

»Keine schlechte Rede mehr.«

Philip ignorierte ihn. Er wandte sich an Tom: »Vater hatte uns wie jeder andere normale Mensch sein Geld hinterlassen konnen. Er hatte es auch verschenken konnen. Schon.

Ich hatte damit leben konnen. Es ist schlie?lich sein Geld.

Aber nein, er musste sich einen Plan ausdenken, um uns zu qualen.«

Borabay musterte ihn finster.

»Bruder halten Klappe.«

Philip wandte sich zu ihm um. »Auch wenn du uns das Leben gerettet hast - halt dich aus unseren Familienangelegen-heiten raus!« Auf seiner Stirn pochte eine Ader. Tom hatte ihn nur selten so wutend gesehen.

»Du mir zuhoren, Bruderchen, oder ich dir Arsch versoh-len«, sagte Borabay trotzig. Er reckte seine ganzen ein Meter sechzig in die Hohe und ballte die Fauste.

Eine Sekunde verstrich, dann fing Philip an zu lachen und schuttelte den Kopf. Er entspannte sich. »Gott im Himmel, ist der Bursche echt?«

»Wir sind alle ein wenig angespannt«, sagte Tom. »Aber Borabay hat Recht. Hier ist nicht der Ort, um sich zu streiten.«

»Heute Abend«, sagte Borabay, »wir reden uber wichtige Dinge.«

»Und woruber?«, erkundigte sich Philip.

Borabay wandte sich wieder dem Kochtopf zu und ruhrte erneut in ihm herum. Sein bemaltes Gesicht war undurchdringlich. »Ihr werden sehen.«

48

Lewis Skiba lehnte sich in den Ledersessel seiner holzgeta-felten Bude zuruck und blatterte im Journal die Seite mit dem Leitartikel auf. Trotz seiner Bemuhungen, ihn zu lesen, beeintrachtigte doch das ferne Quaken und Bloken seines Trompete ubenden Sohnes seine Konzentration. Seit Hausers letztem Anruf waren fast zwei Wochen vergangen. Der Kerl spielte eindeutig mit ihm, hielt ihn in standiger Spannung. Oder war etwas passiert? Hatte Hauser es ... getan?

Skibas Blick fiel auf den Leitartikel. In dem Bemuhen, den Ansturm an Selbstvorwurfen zu verdrangen, richtete er die Augen auf den Artikel, doch die Worte huschten durch seinen Verstand, ohne dass irgendetwas von ihrer Bedeutung hangen geblieben ware. Mittelhonduras war eine gefahrliche Gegend. Es war gut moglich, dass Hauser irgendwo auf die Schnauze gefallen war, etwas falsch eingeschatzt, sich ein Fieber zugezogen hatte ... Ihm konnte alles Mogliche zugesto?en sein. Hauptsache, er war verschwunden. Zwei Wochen waren eine lange Zeit. Vielleicht hatte er versucht, die Broadbents zu toten, doch sie hatten sich als zu klug fur ihn erwiesen und ihn stattdessen selbst umgebracht?

Trotz aller Unwahrscheinlichkeit hoffte Skiba, dass genau dies passiert war. Hatte er Hauser wirklich gesagt, er solle die Broadbents toten? Was war ihm damals nur durch den Kopf gegangen? Ein unfreiwilliges Stohnen entrang sich seiner Kehle. Hoffentlich hatte Hauser ins Gras gebissen.

Skiba wusste nun - auch wenn es zu spat war -, dass er lieber alles verlor, als an einem Mord schuld zu sein. Er war ein Morder. Er hatte gesagt: Bringen Sie sie um. Er fragte sich, wieso Hauser derma?en darauf beharrt hatte, dass er den Satz aussprach. Herrgott. Wie war es nur dazu gekommen, dass er, Lewis Skiba, Football-Star an der High School, Stanford- und Wharton-Absolvent, Fulbright-Stipendiat, Geschaftsfuhrer eines der funfhundert umsatz-trachtigsten Unternehmen der Welt ... Wie war es nur dazu gekommen, dass er sich von einem billigen Polyester-Kriminellen so hatte unter Druck setzen und manipulieren lassen? Er hatte sich immer fur einen Menschen von morali-schem und intellektuellem Gewicht gehalten, fur einen Ethiker, einen guten Menschen. Er war ein guter Vater. Er betrog seine Frau nicht. Er ging in die Kirche. Er sa? in Vorstanden und spendete einen dicken Batzen seines Einkommens fur wohltatige Zwecke. Und doch war es einem ge-schniegelten Schleicher gelungen, ihm irgendwie die Dau-menschrauben anzulegen, ihm die Maske vom Gesicht zu rei?en, ihn als das vorzufuhren, was er wirklich war. Er wurde es Hauser niemals verzeihen. Er wurde es nie vergessen. Und sich selbst wurde er es schon gar nicht vergeben.

Erneut trieb sein Geist in die Sommer seiner Kindheit am See zuruck, zu dem Ferienhaus aus Holz, dem schiefen, ins stille Wasser hineinragenden Anlegeplatz, dem Geruch von Holzrauch und Fichten. Hatte er die Zeit doch nur zuruckdrehen und zu einem dieser Sommer zuruckkehren konnen, um ein neues Leben anzufangen. Was hatte er nicht alles getan, um noch einmal von vorn anfangen zu konnen.

Er zwang sich mit einem schmerzhaften Stohnen, diese Gedanken zu verdrangen, und trank einen Schluck aus dem neben ihm stehenden Scotch-Glas. Es war weg, alles weg.

Er musste aufhoren, daran zu denken. Was getan war, war getan. Er konnte die Zeit nicht zuruckdrehen. Sie wurden den Codex kriegen, dann gab es vielleicht einen Neuanfang fur Lampe, und niemand wurde es je erfahren. Wenn Hauser tot war, kriegten sie den Codex nicht, aber auch dann wurde niemand etwas erfahren. Niemand wurde es erfahren. Damit konnte er leben. Er wurde damit leben mussen.

Er wurde es nur nicht mehr vergessen konnen. Dass er in der Lage gewesen war, einen Mord zu begehen.

Skiba schuttelte wutend die Zeitung und nahm sich erneut den Leitartikel vor.

Im gleichen Moment klingelte das Telefon. Es war der Firmenapparat, die abhorsichere Leitung. Skiba faltete die Zeitung zusammen, trat an den Apparat und nahm ab.

Er horte eine Stimme, die wie aus weiter Ferne sprach, aber so deutlich war wie ein Glockchen. Es war seine eigene.

Tun Sie es! Bringen Sie sie um, verdammt! Bringen Sie die Broadbents um!

Skiba fuhlte sich wie nach einem Tiefschlag. Er verlor im Nu jegliche Haltung. Er bekam keine Luft mehr. Dann horte er ein Zischen. Dann war seine Stimme wieder da, wie ein Gespenst aus der Vergangenheit.

Tun Sie es! Bringen Sie sie um, verdammt! Bringen Sie die Broadbents um!

Schlie?lich wurde Hausers Stimme horbar, der Verschlussler war wieder eingeschaltet. »Haben Sie's mitgekriegt, Skiba?«

Skiba schluckte. Er keuchte. Versuchte, seine Lunge wieder zum Arbeiten zu kriegen.

»Hallo?«

»Rufen Sie mich nie wieder zu Hause an«, krachzte Skiba.

»Davon haben Sie nie was gesagt.«

»Woher haben Sie diese Nummer?«

»Ich bin Privatdetektiv, haben Sie das vergessen?«

Skiba schluckte. Eine Antwort war sinnlos. Nun wusste er, warum Hauser so erpicht darauf gewesen war, dass er den Satz aussprach. Er hatte ihn reingelegt.

»Wir sind da. Wir sind in der Wei?en Stadt.«

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