sterbe und euch allein lassen muss.«
»Dann sterben Sie einfach nicht! Wir lieben Sie, Don Alfonso. Und die Hexe soll zur Holle fahren!«
Don Alfonso nahm ihre Hand und lachelte. »In einem hat sie sich ubrigens geirrt, Curandera. Sie hat gesagt, ich wurde unter Fremden sterben. Aber das stimmt nicht. Ich sterbe unter Freunden.«
Don Alfonso schloss die Augen und murmelte etwas.
Dann war er tot.
45
Sally weinte. Tom stand auf und schaute weg. Er merkte, wie seine unerklarliche Verargerung zunahm. Er spazierte ein Stuck in den Wald hinein. Dann setzte er sich auf einer stillen Schneise auf einen Baumstamm und ballte die Fauste. Der alte Mann hatte kein Recht, sie zu verlassen. Er hatte sich seinem Aberglauben vollig hingegeben. Er hatte sich das Sterben selbst eingeredet - und das nur, weil er die blauen Berge gesehen hatte.
Tom dachte an den Tag zuruck, an dem sie Don Alfonso begegnet waren: wie er auf dem kleinen Hocker in seiner Hutte gesessen, die Machete geschwungen und sie auf den Arm genommen hatte. Es schien ihm ein ganzes Leben her zu sein.
Sie hoben in dem schmutzigen Boden ein Grab aus. Es war eine langsame, erschopfende Arbeit, und sie waren so schwach, dass sie die Schaufel kaum heben konnten. Tom dachte fortwahrend:
»Ich wurde gern ein paar Worte sagen«, lie? Vernon verlauten.
Er stand leicht wankend da. Die Kleider hingen ihm in Fetzen am Leib; sein Bart und sein Haar standen wild ab. Er wirkte wie ein Bettelmonch.
»Don Alfonso ...« Vernons Stimme versagte. Er musste husten. »Falls Sie noch irgendwo in der Nahe sind, bevor Sie zum Himmelstor gehen, tun Sie uns den Gefallen und legen Sie ein gutes Wort fur uns ein, okay? Wir sind in einem ziemlich ublen Zustand.«
»Amen«, sagte Sally.
Uber ihnen bildeten sich finstere Wolken und beendeten das kurze sonnige Intervall. Donner grollte. Aus den Wipfeln uber ihnen tonte das Gerausch fallender Tropfen.
Sally kam zu Tom. »Ich gehe noch mal auf die Jagd.«
Tom nickte. Er nahm die Angelschnur und beschloss, sein Gluck an dem Fluss zu versuchen, den sie vor etwa einem Kilometer uberquert hatten. Vernon blieb zuruck und kummerte sich um Philip.
Am fruhen Nachmittag waren die beiden wieder da. Sally hatte nichts erwischt. Tom trug einen Fisch bei sich, der es gerade mal auf zweihundert Gramm brachte. Wahrend ihrer Abwesenheit war Philips Fieber stark gestiegen. Er lag nun im Delirium. Seine Augen waren offen und glitzerten erhitzt. Pausenlos bewegte er den Kopf hin und her und murmelte zusammenhanglose Satze. Tom war sich ziemlich sicher, dass er es nicht mehr lange machen wurde. Als sie einen Versuch unternahmen, Philip den Tee einzuflo?en, den Sally gekocht hatte, schrie er etwas Unverstandliches und schlug ihr den Becher aus der Hand. Sie brieten den Fisch mit etwas Maniokwurzel in einem Topf und futterten Philip damit. Nachdem er um sich geschlagen und Verwunschungen ausgesto?en hatte, akzeptierte er die Nahrung schlie?lich. Dann teilten sie den Rest unter sich auf.
Nach dem Essen blieben sie in ihrem Quartier unter dem Stamm, lauschten dem prasselnden Regen und warteten auf die Nacht.
Tom erwachte kurz vor Morgengrauen als Erster. In der Nacht hatte Philips Fieber sich verschlimmert. Er warf sich phantasierend umher und zupfte sinnlos an seinem Kragen.
Sein Gesicht wirkte eingefallen und ausgezehrt. Tom empfand zunehmende Verzweiflung. Sie hatten weder Arznei noch diagnostische Mittel, nicht einmal einen Erste-Hilfe-Kasten. Sallys Krautermedizin zeigte angesichts von Philips hohem Fieber keinerlei Wirkung.
Vernon zundete ein Feuer an, und sie setzten sich in finsterem Schweigen um die Flammen. Die dunklen Farne ragten wie eine bedrohliche Menschenmenge um sie auf, wiegten sich unter dem prasselnden Regen vor und zuruck und warfen grune Dusternis uber ihr Lager.
Schlie?lich sagte Tom: »Wir mussen hier bleiben, bis Philip sich erholt hat.«
Sally und Vernon nickten, obwohl sie wussten, dass Philip sich nicht erholen wurde.
»Wir mussen jede Anstrengung unternehmen, um zu angeln, zu jagen und essbare Pflanzen zu sammeln. Wir mussen die Zeit nutzen, um selbst wieder zu Kraften zu kom-
men, damit wir fit fur den langen Heimweg sind.«
Wieder waren alle einverstanden.
»Na schon«, sagte Tom und stand auf. »Machen wir uns an die Arbeit. Sally geht auf die Jagd. Ich nehme Angelschnur und Haken. Vernon, du bleibst hier und kummerst dich um Philip.« Er schaute sich um. »Wir geben nicht auf.«
Alle kamen mit zittrigen Knien auf die Beine. Tom freute sich, als er sah, dass sich neue Energie in ihnen breit machte. Er holte die Schnur und die Angelhaken und schlug sich durch den Urwald. Er entfernte sich in gerader Linie von der Sierra Azul, hinterlie? Kerben in den Farnblattern, um seinen Weg zu markieren, und hielt die Augen standig nach essbarem Grunzeug offen. Der Regen rauschte noch immer herab. Zwei Stunden spater erreichte er erschopft eine schlammige Wasserkaskade und fing eine kleine Eidechse als Koder. Er befestigte das zappelnde Reptil an dem Haken und warf es in die brodelnde Stromung.
Funf Stunden spater, das Licht reichte gerade noch aus, um das Lager zu finden, gab er auf. Er hatte drei der sechs Angelhaken und ein ganzes Stuck Schnur verloren, ohne etwas zu fangen. Vor Einbruch der Dunkelheit kam er ins Lager zuruck, wo Vernon das Feuer am Brennen hielt. Sally war noch nicht da.
»Wie geht's Philip?«
»Nicht gut.«
Tom schaute sich seinen Bruder an und stellte fest, dass er sich in ruhelosem Schlaf hin und her walzte. Er schien zu traumen und murmelte Satzfetzen vor sich hin. Die Schlaff-
heit seines Gesichts und seiner Lippen versetzte Tom in Angst. Sie erinnerte ihn an Don Alfonsos letzte Minuten.
Allem Anschein nach fuhrte Philip im Traum ein Gesprach mit ihrem Vater, dem er eine Menge Vorwurfe zu machen hatte. Dann fielen auch die Namen Toms und Vernons und der von Philips Mutter, die er seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Offenbar befand Philip sich auf einem Kindergeburtstag. Es war sein eigener Geburtstag, vermutlich sein funfter: Er packte seine Geschenke aus und freute sich uber jedes einzelne.
Tom trollte sich niedergeschlagen und traurig davon. Er nahm neben Vernon am Feuer Platz. Vernon schlang einen Arm um ihn. »So ist er schon den ganzen Tag.« Er reichte Tom einen Becher Tee.
Tom nahm ihn an sich und trank. Seine Hand sah aus wie die eines Greises. Die Adern traten hervor, die Haut war fleckig. Sein Magen fuhlte sich hohl an, aber ein Hungerge-fuhl empfand er nicht.
»War Sally zwischendurch mal hier?«
»Nein, aber ich habe ein paar Schusse gehort.«
Und wie aufs Stichwort vernahmen sie ein Rascheln im Gebusch, und Sally tauchte auf. Sie sagte nichts, sie nahm nur das Gewehr von der Schulter und setzte sich ans Feuer.
»Kein Gluck gehabt?«, fragte Tom.
»Hab ein paar Baumstumpfe umgenietet.«
Tom lachelte und ergriff ihre Hand. »Kein Baumstumpf in diesem Wald ist sicher, solange die gro?e Jagerin Sally ihrer Beute auf der Fahrte ist.«
Sally wischte sich Schlamm aus dem Gesicht. »Tut mir Leid.«
»Morgen«, sagte Tom. »Wenn ich fruh aufbreche, schaffe ich es vielleicht bis zu dem Fluss, an dem wir Philip gefunden haben. Ich werde vielleicht 'ne Nacht wegbleiben mussen, aber der Fluss war gro?, und da werde