Tom Broadbent betrachtete das langsam scharfer werdende lebensgro?e Abbild seines Vaters auf dem Bildschirm. Die Kamera fuhr schrittweise zuruck und enthullte, dass Maxwell Broadbent in seinem Buro hinter einem riesigen Schreibtisch sa? und einige Papiere in seinen gro?en Handen hielt. Das Zimmer war noch nicht leer geraumt; das Lippi-Gemalde der Madonna hing noch hinter ihm an der Wand. In den Regalen stapelten sich Bucher, und die restlichen Bilder und Statuen waren ausnahmslos dort, wo sie hingehorten. Tom zuckte zusammen: Sogar die elektroni-sche Aufzeichnung seines Vaters schuchterte ihn ein.
Nach der Begru?ung machte Maxwell Broadbent eine Pause. Dann rausperte er sich und richtete den Blick seiner blauen Augen genau auf die Kamera. Die Blatter, die er in der Hand hielt, zitterten leicht. Er schien unter starker Anspannung zu stehen. Dann schaute er auf die Papiere und las vor:
Lieber Philip, lieber Vernon, lieber Tom, um die Sache kurz zu machen: Ich habe meinen Reichtum mit ins Grab genommen. Ich habe mich und meine Sammlung in einer Grabkammer bestatten lassen. Sie ist irgendwo auf der Welt versteckt - an einem nur mir bekannten Ort.
Er hielt inne, rausperte sich noch einmal, schaute kurz mit seinen blitzenden blauen Augen auf und las weiter. Seine Stimme hatte nun den leicht pedantischen Tonfall, an den Tom sich von den Tischgesprachen noch so gut erinnerte.
Seit uber hunderttausend Jahren haben sich Menschen zusammen mit ihren kostbarsten Besitztumern bestatten lassen. Die Bestattung von Toten mitsamt ihren Schatzen hat eine ehrwurdige Geschichte und reicht von den Neandertalern uber die alten Agypter bis fast in die Gegenwart. Menschen haben sich mit ihrem Gold und Silber, mit Kunstwerken, Buchern, Medizin, Mobeln, Skla-ven, Pferden und manchmal sogar mit ihren Konkubinen und Ehefrauen begraben lassen. Sie haben alles mitgenommen, von dem sie glaubten, es konne ihnen im jenseits nutzlich sein. Erst in den letzten beiden Jahrhunderten hat man aufgehort, sterbliche Uberreste mit Grabbeigaben zu bestatten, und somit eine alte Tradition gebrochen.
Ich mochte diese Tradition gern neu aufleben lassen.
Es ist eine Tatsache, dass fast alle unsere Kenntnisse uber die Vergangenheit aus Grabbeigaben stammen. Einige Menschen haben mich als Grabrauber bezeichnet. Stimmt nicht. Ich bin kein Rauber, sondern Wiederverwerter. Ich bin durch den Reichtum, den torichte Menschen mit ins jenseits genommen haben, zu einem Vermogen gelangt. Ich habe beschlossen, das Gleiche zu tun wie sie und mich mit meinem ganzen weltlichen Hab und Gut bestatten zu lassen. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und mir besteht darin, dass ich kein Trottel bin. Ich wei?, dass es kein jenseits gibt, in dem ich meinen Wohlstand genie?en kann. Im Gegensatz zu meinen Vorgangern sterbe ich ohne Illusionen. Wer tot ist, ist tot. Wer stirbt, ist nur noch ein Matchbeutel voller verdorbenem Fleisch, Schmalz, Hirn und Knochen - weiter nichts.
Ich nehme meinen Reichtum aber auch noch aus einem anderen Grund mit ins Grab. Aus einem sehr wichtigen Grund sogar.
Und dieser Grund betrifft euch drei.
Broadbent legte erneut eine Pause ein. Seine Hande zitterten leicht. Seine Kinnmuskeln spannten und entspannten sich.
»Gutiger Gott«, sagte Philip leise. Er richtete sich halb in seinem Sessel auf und ballte die Fauste. »Es ist einfach unfassbar.«
Maxwell Broadbent hob die Papiere hoch, um weiter vor-zulesen, doch da verhaspelte er sich. Er zogerte, dann stand er abrupt auf und warf sein Manuskript auf den Tisch.
Schei? drauf, sagte er und schob den Stuhl mit einer unge-duldigen Gebarde zuruck. Was ich zu sagen habe, ist zu wichtig fur eine Schei?rede. Er umrundete mit mehreren gro?en Schritten den Schreibtisch. Seine gewaltige Prasenz fullte den Bildschirm und aufgrund der Vergro?erung auch den Raum, in dem sie sa?en. Er ging aufgewuhlt vor der Kamera auf und ab und strich sich uber seinen gestutzten Bart.
Es ist nicht leicht. Ich wei? einfach nicht, wie ich es euch dreien erklaren soll.
Er wandte sich um, ging zuruck.
Als ich in eurem Alter war, hatte ich nichts. Gar nichts. Ich kam aus Erie in Pennsylvania nach New York und hatte nur funfunddrei?ig Dollar und den alten Anzug meines Vaters. Keine Familie, keine Freunde, keinen hoheren Schulabschluss. Nichts. Papa war ein tuchtiger Mann, aber er war Maurer. Mama war tot. Ich war ziemlich allein auf der Welt.
»Nicht schon wieder diese alte Leier«, stohnte Philip.
Es war im Herbst neunzehnhundertirgendwas. Ich hab mir die Fu?e wund gelaufen, bis ich einen Job kriegte. Es war ein Schei?-job. Ich hab im Mama Ginas Restaurant in der East 88th, Ecke Lexington Avenue, Geschirr gespult. Fur eins zwanzig pro Stunde.
Philip schuttelte den Kopf. Tom fuhlte sich wie betaubt.
Broadbent blieb stehen. Er baute sich vor dem Schreibtisch auf, schaute leicht gebuckt in die Kamera und funkelte sie an. Ich sehe euch drei formlich vor mir. Philip - du schuttelst jetzt zweifellos den Kopf. Du, Tom, stehst vermutlich da und fluchst.
Und Vernon halt mich einfach fur durchgedreht. Gott, mir ist fast so, als konnte ich euch drei sehen. Ihr tut mir wirklich Leid. Was ich hier mache, fallt mir nicht leicht.
Er nahm seinen Schritt wieder auf. Mama Gina war nicht weit weg vom Metropolitan Museum of Art. Eines Tages bin ich aus einer Laune heraus da reingegangen, und von da an war mein heben nicht mehr das gleiche, lch hab meinen letzten Dollar fur eine Mitgliedskarte ausgegeben und bin von da an jeden Tag ins Museum gegangen. Ich hab mich in den Laden verliebt. Was fur eine Offenbarung! Ich hatte noch nie so schone Dinge gesehen, solche ... Er schwenkte seine gro?e Hand. Na ja, ihr wisst schon.
»Und ob«, sagte Philip trocken.
Es geht darum, dass ich mit nichts angefangen habe. Nada. Ich habe schwer gearbeitet. Ich hatte eine Vorstellung, wie mein Leben weitergehen sollte - ein Ziel. Ich habe alles gelesen, was mir in die Hande fiel. Uber Schliemann und die Entdeckung Trojas. Uber Howard Carter und die Entdeckung des Grabes von Konig Tutenchamun. Uber John Lloyd Stephens und die Stadt Copan, die Ausgrabung der Villa der Ratsel in Pompeji. Ich habe davon getraumt, selbst Schatze dieser Art aufzustobern, sie auszugraben, zu besitzen. Ich habe mich umgesehen: Wo auf der Welt gab es versunkene Grabstatten und Tempel, die man noch entdecken konnte? Die Antwort war: in Mittelamerika. Dort konnte man noch versunkene Stadte finden. Dort gab es fur mich noch eine Chance.
Broadbent pausierte und offnete ein auf seinem Schreibtisch stehendes Kastchen. Er entnahm ihm eine Zigarre, schnitt sie ab und zundete sie an.
»Herrgott«, sagte Philip. »Der Alte ist unverbesserlich.«
Broadbent schuttelte das Zundholz aus, warf es auf den Schreibtisch und grinste. Er hatte ansehnliche Zahne, sie glitzerten wei?. Ich werde ohnehin sterben. Warum soll ich meine letzten Monate also nicht