Wir waren nicht allein. Halb verborgen im Dunkel sah ich eine wei?e Gestalt um den Turm kreisen. Sie gab seltsame Laute von sich, mit kehliger Stimme, die sich immer wieder zu einem kreischenden Gesang erhob. Und als die Gestalt immer schneller an mir vorbeiglitt, sah ich noch etwas – pechschwarze Flugel, die ihren Kopf umflatterten, wirbelnde Leuchtkafer.
Noch nie hatte ich solche Angste ausgestanden. Ich ruckte naher zu Lucilia heran, starrte mit heftig klopfendem Herzen auf das wei?e Ding, das immer wieder an uns vorbeiraste. Es war Betts. Ich wu?te, da? er es war. Doch diese Erkenntnis beruhigte mich nicht, denn diese Kreatur war ein splitternackter Wahnsinniger, in den Klauen einer ubernaturlichen Macht, die ich nicht begriff.
Ich starrte in Lucilias Augen. »Wieso – sind Sie hier?« wurgte ich hervor. »Hat er…«
»Er kam zuruck, als Sie die Hutte verlassen hatten, Lyle. Er war nackt – und vollig von Sinnen. Er packte mich, schleppte mich hierher…«
Der Klang ihrer Stimme gab mir neue Kraft. Ich wu?te, da? sie mich brauchte. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um an Liebe zu denken, und doch hatte ich
in diesem Augenblick erkannt, da? ich sie liebte, da? sie meine Liebe erwiderte. Das Leid hatte uns verbunden, hatte uns gezeigt, wie es in unseren Herzen aussah.
Ich hob den Kopf und schrie das schreckliche Ding an, das an uns vorbeirannte. »Betts! Besinnen Sie sich doch! Sie sind verruckt!«
Der nackte Mann blieb stehen und stie? ein ha?liches Gelachter aus. Er zeigte auf den aufsteigenden Mond. Hinter Betts, am Waldrand, sah ich das Unterholz schwanken. Es raschelte, als hatte sich dort eine Horde lauernder Gestalten verborgen. Mit einem ohrenbetaubenden Heulen nahm der Wahnsinnige seine Rundwanderung wieder auf.
Erneut erfa?te mich kalte Angst. Ich starrte auf die rasende wei?e Gestalt und fragte mich, wie mein Ende aussehen wurde. Ich spurte, da? Betts nicht allein war. Die Bakanzenzi, die Angehorigen der grauenvollen Sekte, die ihre Kultfeiern auf dieser Lichtung abhielten, im Schein des Vollmonds, waren ganz in der Nahe – irgendwo im Dschungel, warteten nur darauf, da? das silberwei?e Licht den heiligen Turm erreichte.
Und dann beruhrte ein Mondstrahl den Fu? der Saule. Die gro?e wei?e Gestalt blieb stehen, starrte sekundenlang reglos zum Himmel auf, dann trat sie in das volle Licht des Mondes. Nun konnte ich Betts zum erstenmal klar und deutlich sehen – den grausigen nackten Korper, ubersat mit Wunden, die er sich selbst zugefugt hatte.
Er kam auf uns zu, mit ruckartigen Schritten und ausgebreiteten Armen. »Betts!« schrie ich. »Um Gottes willen…« Er ignorierte mich. Mit schriller, kreischender Stimme begann er zu reden, wandte den blutuberstromten Kopf in alle Richtungen, als sprache er zu einer un sichtbaren Versammlung. Eine schreckliche Halluzination hatte ihn in der Gewalt. Er sah Dinge, die nicht existierten – oder vielleicht existierten sie und gingen uber mein menschliches Fassungsvermogen.
»Die Zeit ist gekommen«, sagte er. »Der Mond ist aufgegangen uber dem heiligen Turm. Die Unglaubigen mussen sterben, wie es die Gottin des Turms befohlen hat. Die Zeit ist – jetzt!«
Er sprang auf uns zu, hob einen Arm, und im bleichen Mondlicht sah ich ein langes Messer in seiner Faust blitzen. Schaudernd schlo? ich die Augen, Lucilia druckte sich an mich, stohnte und versuchte meine Hand zu ergreifen.
Aber Betts warf sich nicht auf uns. Ein wilder Larm lie? ihn mitten in der Bewegung erstarren. Von allen Seiten der Lichtung drangen donnernde Trommelschlage zu uns, kamen aus der Tiefe des Dschungels. Es klang, als wurde ein heftiger Regengu? auf ein Zeltdach prasseln. Immer lauter schwollen die Trommelschlage an, zu einem ohrenbetaubenden Krach. Und dann schlang sich ein behaarter wei?er Arm von hinten um meine Taille und hob mich hoch. Ein tierischer Gestank stieg mir in die Nase, so stark, da? mir ubel wurde. Ich spurte, wie ich davongetragen wurde, mit seltsamen, schaukelnden Bewegungen, auf den Waldrand zu. Und dort, im schutzenden Schatten der Facherpalmen, wurde ich zu Boden geworfen. Lucilia Betts fiel neben mir herab. Als ich wieder soweit zu mir gekommen war, um mich umzublicken, war das behaarte Wesen verschwunden. So wie Kodagi verschwunden war, nachdem er noch einen Augenblick zuvor im Schlamm vor meiner Veranda gelegen hatte.
Und dann brach der Larm erst richtig los. Ein wildes Trommeln klang auf, ohne Rhythmus, ein Tosen und Drohnen, das aus dem Nichts zu kommen schien. Betts’
kreischender Gesang mischte sich in die Hollenmusik. Er hatte sein Messer fallen lassen und umkreiste nun wieder den wei?en Turm, im schwankenden Gang eines Riesengorillas. Rings um ihn sah ich die Leiber der Eingeborenen, glanzend schwarz im Mondlicht. Geduckt sa?en sie im Gras, die Gesichter hinter dreieckigen Masken aus geschnitztem schwarzem Holz verborgen. Die Masken der Bakanzenzi…
Atemlos schienen sie Betts zu beobachten, als ob sie auf irgend etwas warteten. Er sah sie, und sein schaukelnder Gang steigerte sich zu einem seltsamen, wilden Hupfen.
Es kann kein gro?eres Entsetzen geben, dachte ich. Das einzige, was mich vor dem Wahnsinn bewahrte, war die Beruhrung von Lucilias Fingern, die ich auf meinen gefesselten Handgelenken spurte. Dann horte ich ihren entsetzten Schrei.
»Der Turm! Sieh doch!«
Sie druckte sich zitternd an mich, und ich starrte in fasziniertem Grauen auf die Turmspitze. Dort schwebte ein Gesicht, das in wilder Lust auf Betts herabblickte - ein ha?liches, wei?es behaartes Gesicht, mit triefenden Fangen, die im Mondlicht glitzerten. Das Gesicht eines Affen – eines wei?en Affen, eines riesenhaften Monsters, gro?er als die Gorillas.
Er sprang hinter Betts herab, trottete ihm nach, machte aber keine Anstalten, ihn einzuholen. Wieder schrie Lucilia auf, und ich sah, wie ein zweiter wei?er Affe auf der Turmspitze auftauchte, herabsprang und sich seinen beiden Vorgangern anschlo?. Einer nach dem anderen kam herab, reihte sich ein in die Prozession der Ungeheuer, die von Betts angefuhrt wurde. Als ich endlich die Augen schlo?, uberwaltigt von dem grausigen Anblick, umkreisten mehr als zwanzig Affen den Turm.
Ich schlug die Augen erst wieder auf, als ein seltsam vibrierender Gesang ertonte, und sah, da? das Mondlicht die Turmspitze erreicht hatte. Der Gesang schwoll auf und ab, wie Meereswogen. Flammen schossen rings um die Lichtung empor, flackerten und knisterten, warfen Funken in das Dunkel. Die Bakanzenzi begannen zu tanzen und zu kreischen und schlugen dazu auf ihre infernalischen Trommeln.
Und plotzlich waren die Eingeborenen verschwunden. Die Bewohner des Dschungels hatten ihren Platz eingenommen. Ich sah Leoparden durch das Unterholz springen, gro?e Pythonschlangen wiegten sich im Feuerschein, ihre Stimmen vereinten sich zu zischenden Gesangen. Krokodile rasten uber die Lichtung, mit weit geoffneten Rachen. Und der Trommelwirbel schwoll immer lauter an.
Lucilia war in Ohnmacht gefallen. Ich pre?te sie an mich, starrte auf die grausige Szene, gebannt vor Entsetzen. Die gro?en Affen schlugen sich auf die Brust, wahrend sie unablassig den Turm umkreisten, mit weit aufgerissenen Maulern. Speichel tropfte von den Fangen. Betts fuhrte die Prozession nicht mehr an. Er hupfte nicht mehr um den Turm herum. Er rannte davon, so schnell ihn seine schwitzenden Beine trugen, schreiend, von Todesangst gejagt, die Arme hilfeflehend zum Mond erhoben.
Ich konnte die Augen nicht schlie?en. Jede Einzelheit der schrecklichen Szene brannte sich tief in mein Gedachtnis ein: Die Flammen, die auf ihre kannibalistischen Opfer warteten, die Dschungeltiere, die auf der Lichtung umhersprangen, die gro?en Affen, die ihre Beute gnadenlos einkreisten.
Und dann hatten sie ihn gefangen. Ich horte einen herzzerrei?enden Schrei, der immer schriller wurde, bis er, auf seinem Hohepunkt angelangt, abrupt abri?. Dann klang ein Triumphgeheul auf, und die riesigen Mafui-Affen sturzten sich auf ihr Opfer.
Als ich die Augen wieder offnete, blickte ich in das angstliche Gesicht meines Hausdieners Njo. Ich lag auf meiner Veranda, im Dorf Kodais, und Lucilia Betts lag neben mir auf der Turschwelle. Njo bemuhte sich gerade, ein paar Tropfen Brandy zwischen meine zusammengebissenen Zahne zu pressen. Ich umklammerte seinen Arm. »Wer – wer hat mich hergebracht?«
Der Jopalou erschauerte. »Du warst hier, Bwana«, flusterte er. »Ich habe euch beide gefunden, als der Tag anbrach – als mich die Schreie der Leoparden und die Trommelschlage weckten.«
Mehr konnte ich nicht aus ihm herausbringen, so sehr ich ihn auch mit Fragen besturmte. Er blieb dabei, da? er uns bei Tagesanbruch gefunden hatte. Mehr wollte er nicht dazu sagen.
Als ich wieder einigerma?en bei Kraften war, lie? ich Lucilia in seiner Obhut und ging auf unsicheren Beinen durch den Dschungel, zur Lichtung der Bakanzenzi. Ich war entschlossen, die Wahrheit herauszufinden.