Das Geheimnis des blauen Kruges

Jack Hartingon war argerlich. Er hatte wieder einmal zu hoch geschlagen. Jetzt stand er neben dem Ball und blickte, die Entfernung abschatzend, zum Abschlagmal zuruck. Mit einem Seufzer zog er seinen metallenen Golfschlager aus dem Futteral, aber zwei weitere fehlerhafte Schlage vernichteten lediglich ein paar Lowenzahnbluten und ein Buschel Gras.

Mit funfundzwanzig Jahren seinen Stil im Golf zu verbessern war nicht leicht, besonders dann nicht, wenn man wie er, gezwungen war, die meiste Zeit damit zu verbringen, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Funf und einen halben Tag der Woche mu?te Jack in einem dusteren Buro schmachten. Die Wochenenden aber waren einzig und allein seiner Passion gewidmet. Um jedoch auch an den Wochentagen seinem geliebten Sport fronen zu konnen, hatte sich Jack in einem kleinen Hotel in der Nahe des Golfplatzes von Stourton Heath eingemietet. Taglich stand er um sechs Uhr fruh auf, um eine Stunde zu uben, bevor er den Zug um acht Uhr sechsundvierzig in die Stadt nehmen mu?te.

Auch mit seinem Spezialschlager hatte er kein Gluck. Es war zum Verzweifeln. Immer, wenn der Ball auf eine kurze Distanz geschlagen werden sollte, scho? er mindestens um das Vierfache uber sein Ziel hinaus. Jack seufzte, nahm seinen Schlager fest in die Hand und gab sich selber den Befehl: »Linker Arm ganz durchgedruckt, nicht hochschauen!«

Er holte aus und hielt sofort inne, als ein schriller Schrei die Stille des Sommermorgens durchbrach. Er war wie versteinert.

»Mord!« rief es, »Hilfe, Mord!« Es war eine Frauenstimme, die schlie?lich in einer Art gurgelndem Seufzer erstarb.

Jack schleuderte seinen Schlager hin und rannte in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Es mu?te ganz in der Nahe sein. Dieser Teil des Golfplatzes war unkultiviertes Land, und es gab hier nur wenige Hauser. Eigentlich stand nur ein einziges in der Nahe, ein kleines, malerisches Landhauschen, das Jack schon oft wegen seiner architektonischen Feinheit aufgefallen war. Es war durch einen heidekrautbewachsenen Abhang verborgen, er umging ihn, und in weniger als einer Minute stand er vor dem kleinen verschlossenen Tor.

Im Garten stand ein Madchen, und einen Augenblick lang glaubte Jack, da? sie um Hilfe gerufen hatte. Aber dann anderte er seine Meinung.

Sie hatte einen kleinen Korb mit Unkraut in der Hand. Offenbar hatte sie ihre Arbeit, ein gro?es Stiefmutterchenbeet zu jaten, gerade beendet. Ihre Augen, bemerkte Jack, waren selbst wie Stiefmutterchen, samtig, weich und dunkel und mehr violett als blau. In ihrem einfachen lila Leinenkleid sah sie selbst wie ein Stiefmutterchen aus.

Das Madchen blickte Jack mit einem Ausdruck zwischen Verargerung und Erstaunen an.

»Verzeihung«, sagte der junge Mann, »aber haben Sie eben geschrien?«

»Ich? Nein, wirklich nicht.«

Ihre Uberraschung war so echt, da? Jack seine Frage peinlich war. Ihre Stimme war weich und klang mit einem leichten auslandischen Akzent sehr reizvoll.

»Aber Sie mussen es gehort haben!« rief er aus. »Es kam von irgendwo hier in der Nahe.«

Sie sah ihn verwundert an. »Ich habe uberhaupt nichts gehort.«

Jetzt starte Jack sie an. Es war vollig unmoglich, da? sie diesen gequalten Hilferuf nicht gehort hatte. Und doch strahlte sie eine solche Ruhe aus, da? er nicht glauben konnte, da? sie ihn anlog.

»Was wurde denn gerufen?« fragte sie.

»Mord, Hilfe, Mord!«

»Mord, Hilfe, Mord«, wiederholte das Madchen. »Jemand hat sich einen Scherz mit Ihnen erlaubt, Monsieur. Wer konnte hier schon umgebracht werden?«

Jack sah sich um. Er hatte die fixe Idee, irgendwo auf dem Gartenweg eine Leiche zu finden. Er war immer noch uberzeugt davon, da? der Schrei, den er gehort hatte, echt gewesen und kein Produkt seiner Einbildung war. Er blickte zu den Fenstern des kleinen Landhauses empor. Alles schien vollig ruhig und friedlich zu sein.

»Wollen Sie vielleicht unser Haus durchsuchen?« erkundigte sich das Madchen ironisch.

Sie war so voller Skepsis, da? Jacks Verwirrung immer gro?er wurde. Er wandte sich ab.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Es mu? von hoher oben aus dem Wald gekommen sein.«

Er zog seine Mutze und ging. Wahrend er uber die Schulter zuruckblickte, sah er, da? das Madchen ruhig ihre Jatarbeit wieder aufgenommen hatte.

Einige Zeit durchstreifte er den Wald, aber er konnte nichts Ungewohnliches feststellen. Trotzdem war er so sicher wie zuvor, da? er diesen Schrei vernommen hatte. Schlie?lich gab er seine Suche auf, eilte zuruck nach Hause, um hastig sein Fruhstuck hinunterzusturzen und den Zug zu erwischen.

Sein Gewissen druckte ihn ein wenig, als er im Zug sa?. Hatte er nicht sofort der Polizei melden mussen, was er gehort hatte? Da? er es nicht tat, war einzig und allein der Reaktion des Madchens zuzuschreiben. Sie hatte ihn ganz sicher verdachtigt, da? er anbandeln wollte. Wahrscheinlich hatte die Polizei dasselbe vermutet. Hatte er den Schrei wirklich gehort?

Mittlerweile war er nicht mehr annahernd so sicher wie vorher. Vielleicht war es der Schrei eines Vogels gewesen, den er fur eine Frauenstimme gehalten hatte? Argerlich verwarf er diese Annahme. Es war eine Frauenstimme gewesen, und er hatte sie gehort. Er erinnerte sich, kurz vor dem Schrei auf die Uhr geblickt zu haben. Es war funfundzwanzig Minuten nach sieben gewesen, wenn er sich recht erinnerte. Das konnte ein brauchbarer Hinweis fur die Polizei sein, falls irgend etwas entdeckt werden sollte.

Als er an diesem Abend nach Hause fuhr, studierte er die Abendzeitung sorgfaltig, um zu sehen, ob irgend etwas uber ein Verbrechen erwahnt war. Aber er fand nichts, und er wu?te kaum, ob er daruber erleichtert oder enttauscht sein sollte.

Der folgende Morgen war na?, so na?, da? wohl auch der fanatischste Golfspieler seinen Eifer gedampft hatte. Jack stand in der letzten Minute auf, schlang sein Fruhstuck hinunter und rannte, um den Zug zu erreichen. Wiederum durchsuchte er eifrig die Zeitung. Immer noch kein Bericht uber irgendeine grausige Entdeckung. Die Abendzeitung brachte auch nichts.

Komisch, sagte sich Jack. Aber das wird es sein - ein paar kleine Jungen, die im Walde gespielt haben.

Am nachsten Morgen war er schon fruh drau?en. Als er an dem kleinen Landhaus vorbeikam, bemerkte er mit einem Seitenblick das Madchen, das wieder im Garten Unkraut zupfte. Offenbar eine Gewohnheit von ihr.

Er schlug seinen Ball in ihre Nahe, in der Hoffnung, da? sie ihn bemerken wurde. Als er auf sein nachstes Ziel zuging, sah er auf die Uhr. »Gerade wieder funfundzwanzig Minuten nach sieben«, murmelte er. »Ich bin gespannt ...«

Die Worte erstarben auf seinen Lippen.

Hinter ihm ertonte der gleiche Schrei, der ihn schon einmal entsetzt hatte. Eine Frauenstimme rief in schrecklicher Bedrangnis:

»Mord! Hilfe! Mord!«

Jack jagte zuruck. Das Madchen mit den Stiefmutterchenaugen stand an der Pforte. Sie hob erstaunt den Kopf, als Jack triumphierend auf sie zulief und ausrief:

»Diesmal haben Sie es aber gehort!«

Sie musterte ihn von oben bis unten, so da? Jack unbehaglich von einem Fu? auf den anderen trat. Er merkte, wie sie vor ihm zuruckschreckte, und als er auf sie zuging, sah sie sich angstlich um, als sei sie bereit, ins Haus zu rennen, um Schutz zu suchen.

Sie schuttelte ihren Kopf und starrte ihn verstandnislos an.

»Ich habe uberhaupt nichts gehort«, sagte sie.

Es war, als hatte sie ihm einen Schlag versetzt. Sie sagte das so uberzeugend, da? er ihr glauben mu?te. Trotzdem, er konnte es sich nicht eingebildet haben - es konnte nicht sein, nein, es konnte keine Einbildung sein.

Ihre Stimme klang fast ein wenig mitleidig, als sie ihn fragte:

»Sie haben einen Schock beim Bombenangriff erlitten, was?«

Nun begriff er den Ausdruck der Furcht, ihren verstohlenen Blick zum Fenster. Sie glaubte, er habe

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