Halluzinationen.
Und dann, wie eine kalte Dusche, kam ihm der furchterliche Gedanke: Hatte sie recht? Litt er wirklich an einer Tauschung? Entsetzt uber diese Moglichkeit, drehte er sich abrupt um und stolperte ohne ein Wort der Erklarung davon. Das Madchen schaute ihm nach, seufzte und buckte sich kopfschuttelnd, um weiterzujaten.
Jack bemuhte sich, die Dinge mit sich selbst ins reine zu bringen. Wenn ich diesen verdammten Schrei wieder um funfundzwanzig Minuten nach sieben hore, sagte er sich, steht fest, da? ich irgendeine Halluzination habe. Aber ich werde ihn nicht noch einmal horen.
Den ganzen Tag uber war er nervos. Er ging fruhzeitig zu Bett, entschlossen, die Sache am nachsten Morgen aufzuklaren.
Es war verstandlich, da? er fast die halbe Nacht wach lag und schlie?lich sogar noch verschlief. Es war schon zwanzig Minuten nach sieben, als er aus dem Hotel herauskam und die Abhange hinunterrannte. Er sah ein, da? er bis funfundzwanzig nach sieben den Platz nicht mehr erreichen konnte. Andererseits, wenn dieser Schrei tatsachlich eine Halluzination war, wurde er ihn auch woanders horen. Er rannte weiter. Sein Blick klebte auf dem Ziffernblatt seiner Armbanduhr.
Funfundzwanzig nach sieben.
Von weit her kam das Echo einer Frauenstimme. Die Worte waren nicht erkennbar, aber er war uberzeugt, es war der gleiche Schrei, den er zuvor gehort hatte, und er kam aus derselben Richtung, irgendwo in der Nahe des kleinen Landhauses.
Eigenartigerweise beruhigte ihn diese Tatsache. Es konnte immerhin eine Fopperei sein. So unwahrscheinlich es schien, aber auch dieses Madchen selbst konnte sich einen Streich mit ihm erlauben. Er richtete sich resolut auf und nahm einen Schlager aus seiner Golftasche. Er wurde die ersten Locher bis zum Landhaus spielen.
Das Madchen war, wie gewohnlich, im Garten. Sie sah zu ihm auf, und als er seine Mutze zog, sagte sie schuchtern:
»Guten Morgen!«
Sie erschien ihm lieblicher als je zuvor.
»Ein schoner Tag, nicht wahr?« rief Jack munter und verwunschte sich, weil ihm nichts Besseres eingefallen war.
»Ja, wirklich, sehr schon.«
»Gut fur den Garten, nehme ich an.«
Das Madchen lachelte und zeigte dabei ein faszinierendes Grubchen.
»Leider nein. Meine Blumen brauchen Regen. Sehen Sie, sie sind schon ganz vertrocknet.«
Jack fa?te dies als Einladung auf und trat an die niedrige Hecke, die den Garten vom Golfplatz trennte.
»Mir scheinen sie in Ordnung«, bemerkte er unbeholfen und wand sich unter dem leicht mitleidigen Blick des Madchens.
»Die Sonne tut gut, nicht wahr?« fragte sie. »Die Blumen kann man ja immer noch begie?en, aber die Sonne gibt Kraft und erneuert die Gesundheit. Monsieur geht es heute viel besser, wie ich sehe.«
Ihr ermunternder Ton argerte Jack.
Verflixt, dachte er, ich glaube, sie versucht mich durch Suggestion zu kurieren.
»Ich bin vollig gesund«, sagte er irritiert.
»Dann ist es ja gut«, antwortete das Madchen rasch und besanftigend.
Jack hatte das Ungewisse Gefuhl, da? sie ihm nicht glaubte.
Er spielte noch eine Weile und eilte dann zuruck zu seinem Fruhstuck. Wahrend er a?, bemerkte er - und nicht zum erstenmal - den forschenden Blick eines Mannes an seinem Nebentisch. Es war ein Herr mittleren Alters mit einem kraftvollen, energischen Gesicht. Er trug einen schmalen dunklen Bart und hatte graue, durchdringende Augen. Sein sicheres Auftreten lie? darauf schlie?en, da? er der hoheren Gesellschaftsschicht angehorte. Jack wu?te, da? er Lavington hie?, und hatte vage Geruchte uber sein Ansehen als Mediziner gehort. Da Jack jedoch kein haufiger Besucher der Harley Street war, hatte ihm dieser Name wenig oder eigentlich gar nichts bedeutet.
Heute morgen spurte er die stille Beobachtung. Es erschreckte ihn ein wenig. War ihm sein Geheimnis schon deutlich ins Gesicht geschrieben, so deutlich, da? es jeder sehen konnte? Wu?te dieser Mann durch seine berufliche Erfahrung, da? bei ihm irgend etwas nicht stimmte? Jack schauderte bei diesem Gedanken. War es wahr? Wurde er wirklich langsam wahnsinnig? War die ganze Sache tatsachlich eine Halluzination, oder erlaubte sich doch nur jemand einen Scherz mit ihm?
Plotzlich kam ihm eine Idee, wie er der Sache auf die Spur kommen konnte. Bisher war er auf seinen Runden immer allein gewesen. Angenommen, jemand war bei ihm? Dann mu?te eines vori drei Dingen passieren: der Schrei wiederholte sich uberhaupt nicht; sie konnten ihn beide horen; oder nur er allein wurde ihn horen.
An diesem Abend begann er seinen Plan in die Tat umzusetzen. Lavington war der Mann, den er dazu brauchte. Eine Unterhaltung anzubahnen war nicht schwer. Es war klar, da? Jack ihn aus dem einen oder anderen Grund interessierte. So ergab es sich fast von selbst, da? sie verabredeten, am folgenden Morgen vor dem Fruhstuck zusammen eine Partie Golf zu spielen.
Kurz vor sieben machten sie sich auf den Weg. Es war ein herrlicher Tag, strahlend und wolkenlos, aber noch nicht zu warm. Der Doktor spielte gut, Jack jammerlich. Er dachte nur an den Schrei. Immer wieder schielte er verstohlen auf seine Armbanduhr. Sie erreichten die siebte Markierung -zwischen dieser und dem nachsten Loch lag das Landhaus -ungefahr um zwanzig Minuten nach sieben. Das Madchen stand, wie immer, im Garten, als sie vorbeikamen. Sie sah nicht auf.
Die beiden Golfballe lagen im Gras, Jacks in der Nahe des Loches, der des Doktor ein wenig weiter weg.
»Das ist meiner«, sagte Lavington. »Ich glaube, ich mu? etwas kraftiger zuschlagen.«
Er buckte sich und schatzte die Strecke ab. Jack starrte auf die Uhr. Es war genau funfundzwanzig Minuten nach sieben.
Der Ball huschte uber das Gras, stoppte vor dem Loch, zogerte und fiel hinein.
»Ein guter Schlag«, lobte Jack. Mit einem Seufzer der Erleichterung schob er seine Uhr am Arm hinauf. Es war nichts geschehen. Der Zauber war gebrochen.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, eine Minute zu warten«, sagte er, »wurde ich mir gern eine Pfeife stopfen.«
Sie verweilten kurze Zeit bei der achten Markierung.
Jack fullte seine Pfeife und zundete sie mit zitternden Handen an. Eine gro?e Last schien ihm von der Seele gefallen zu sein.
»Gott, was fur ein schoner Tag!« rief er aus und geno? die Aussicht. »Machen Sie weiter, Lavington, Sie sind dran.«
Und dann horte er es. Gerade in dem Moment, als der Doktor zuschlug. Eine Frauenstimme, schrill und gequalt.
»Mord! Hilfe! Mord!«
Die Pfeife fiel Jack aus der Hand. Er schnellte in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Dann starrte er atemlos auf seinen Begleiter.
Lavington beschattete seine Augen mit der Hand und blickte auf den Rasen.
»Ein bi?chen kurz«, sagte er, »aber ich glaube, er ist doch noch hineingerutscht.«
Er hatte nichts gehort!
Die Welt schien sich verkehrt um Jack zu drehen. Er wankte.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem kurzgeschnittenen Rasen, und Lavington beugte sich uber ihn.
»So, schon ruhig bleiben, es ist ja alles gut!«
»Was habe ich getan?«
»Sie wurden ohnmachtig, junger Mann. Zumindest sah es so aus.«
»Mein Gott!« stohnte Jack.
»Was ist los? Stimmt etwas nicht mit Ihnen?«
»Ich erzahle es Ihnen gleich, aber zuerst mochte ich Sie etwas fragen.«
Der Arzt zundete seine Pfeife an und setzte sich auf eine Bank.