Schatten war, sondern ein Mann mit einem gro?en schwarzen Hut, der zwischen den Eichen Schutz suchte - so wie ein Mann, der um sein Leben rennt, ein Mann, der zu entsetzt ist, als dass er sich umdrehen konnte, um einen Blick auf den unvorstellbaren Jager zu werfen, der hinter ihm her ist.

6. Kopfjager

 An der Kuchentur war ein forsches Klopfen wie von einem Postboten zu horen. Ich blickte vom Daily Telegraph auf, wahrend Danny seine Augen von seiner Schale Honey Nut Loops abwandte. Der Loffel warf einen geschwungenen Lichtreflex auf seine Wange.

Es war Harry Martin, der Rattenfanger. Sein Gesicht war hochrot, er war au?er Atem. In seiner Hand hielt er einen Schlapphut. Er trug einen dicken Tweedanzug mit Fischgratenmuster und hatte einen gro?en Lederranzen uber die Schulter geworfen, in den die Initialen HJM eingebrannt waren.

»Mr. Martin, kommen Sie doch herein.« Er war mir nicht nur willkommen, nach der vergangenen Nacht war ich sogar ausgesprochen froh, ihn zu sehen. »Der Tee ist noch hei?. Oder mochten Sie eine Limonade? Ihr Anzug sieht ja ziemlich dick aus. Ist Ihnen nicht zu warm?«

Er legte seinen Ranzen ab, zog sich einen Kuchenstuhl heran und nahm Platz. »Das ist meine Rattenfangerkleidung«, verkundete er. Er zupfte mit Zeigefinger und Daumen am Armel. »Gesehen? Es gibt nicht viele Ratten, die sich da durchbei?en konnen. Das ist nicht so wie diese modernen Nylonoveralls. Hier, fuhl mal.« Danny strich widerstrebend uber den Stoff. »Und? Was sagst du dazu?«

»Er ist haarig«, sagte Danny.

»Richtig. Er ist haarig. Wie eine Ratte. Ein Rattenanzug, um eine Ratte zu fangen.«

Ich goss ihm eine Tasse Kaffee ein. »Zucker?«, fragte ich.

»Drei Stuckchen.«

Er ruhrte so lange um, bis das Klimpern des Loffels mir so auf die Nerven ging, dass ich ihn fast bitten wollte, endlich damit aufzuhoren.

Plotzlich legte er den Loffel fort und sah mich durchdringend an. Ein Auge hatte er zugekniffen, das andere war weit aufgerissen. »Sie hatten letzte Nacht Probleme?«

Ich nickte.

»Ich habe am Himmel das Licht gesehen. Horen konnte ich nichts, weil der Wind in die falsche Richtung wehte. Aber ich dachte mir, dass Sie Probleme haben.«

»Es waren ein paar Gerausche zu horen«, sagte ich und warf Danny einen Blick zu. »Gerausche und auch Licht ... Danny, bist du lieb und fruhstuckst im Wohnzimmer weiter?«

»Ich sehe gerade Play School.«

Ich schaltete den Fernseher aus. »Du hast Play School gesehen. Jetzt nicht mehr. Und jetzt geh bitte mit deinem Fruhstuck ins Wohnzimmer, ja?«

»Aber, aber, keinen Streit«, sagte Harry Martin. »Wir konnen unseren Tee auch im Garten trinken, wir mussen dem jungen Mann doch nicht das Fernsehen vermiesen.«

»Wenn er noch langer fernsieht, bekommt er irgendwann eckige Augen«, entgegnete ich. Trotzdem folgte ich Harry aus der Kuche auf die Veranda. Wir setzten uns auf die Mauer, von der aus wir auf den abfallenden Garten und die Sonnenuhr blicken konnten. Die fruhe Morgensonne schiert rotlich durch Harrys haarige Ohren. Die See klang sonderbar beruhigend.

»Was fur Gerausche?«, fragte Harry.

»Larmen, Gepolter und Schreie. Schreie von Kindern. Und ein sehr tiefes Gerausch, dass sich anhorte, als rede jemand sehr langsam. Sie wissen schon, wie bei einem Tonband, das zu langsam lauft. Au?erdem habe ich ein kleines Madchen in einem langen Nachthemd gesehen, jedenfalls habe ich das geglaubt. Aber ich schatze, es war wohl nur eine optische Tauschung.«

Ich zogerte. »Zumindest hoffe ich, dass es eine optische Tauschung war.«

Harry holte seine Tabakdose hervor und rollte sich eine Zigarette. »Haben Sie heute Morgen Radio gehort?«

»Nein.«

»Ich hore morgens immer Radio. Leistet mir Gesellschaft, wenn Vera noch schlaft.«

»Und?«

»Es kam eine Meldung, dass ein neun Jahre altes Madchen aus Ryde in der vergangenen Nacht verschwunden ist. Das war mit ein Grund, warum ich zu Ihnen gekommen bin.«

»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz.«

Harry zundete die Zigarette an und zog die Nase hoch. »Im Radio haben sie gesagt, dass das Madchen in sein Zimmer eingeschlossen wurde, weil es zu lange drau?en geblieben war. Das Fenster war ebenfalls verriegelt, aber irgendwie ist es ausgebuxt. Im Bett, in dem es geschlafen hatte, war eine Vertiefung, mehr nicht. Und es hatte in der Nacht nur sein Schlafhemd an.«

»Ich kann noch immer nicht folgen.«

»Das ist fruher auch schon passiert«, erklarte Harry geduldig. »Wenn im Fortyfoot House Licht zu sehen ist und Gerausche zu horen sind, dann verschwindet jedes Mal ein Kind.«

»Sie sehen da doch keine Verbindung, oder? Ich meine, es verschwinden immer wieder Kinder.«

»Aber nicht so wie diese Kinder verschwinden. Sie sind einfach weg, niemand sieht oder hort je wieder etwas von ihnen. Und eine Leiche wird auch nie gefunden.«

Er sah mich gelassen an. »Glauben Sie mir. Jedes Mal, wenn es im Fortyfoot House Licht und Gerausche gibt, hore ich Radio und lese die Zeitung. Und jedes Mal verschwinden Kinder. Ein Kind, manchmal auch zwei. Und sie verschwinden fur immer ... als hatten sie nie existiert.«

»Haben Sie das der Polizei erzahlt?«

»Der Polizei? Ich wei? schon gar nicht mehr, wie oft ich das der Polizei erzahlt habe. Aber ich werde nur ausgelacht. Man halt mich nur fur einen verruckten alten Rattenfanger. Funfunddrei?ig Jahre Kriegfuhrung gegen die Ratten haben meine grauen Zellen angegriffen, das sagen sie. Jedes Mal rufe ich sie an und sage es ihnen, und jedes Mal werde ich ausgelacht. Dumm wie Schifferschei?e, diese modernen Bullen.«

Ich drehte mich um und blickte hinauf zum Dach. »Und wer holt sich diese Kinder? Etwa Brown Johnson?«

»Brown Jenkin«, korrigierte er mich. »So hei?t es. Brown Jenkin. Ja, es holt sie sich. Diese Geschichte wird seit Jahren in Bonchurch erzahlt, um den Kinder Angst einzujagen. Iss deine Mohren auf, sonst kommt Brown Jenkin und holt dich. Sie haben gehort, was meine Doris gesagt hat.«

»Ja. Irgendetwas daruber, irgendwohin gebracht zu werden, wo einen nicht einmal die Zeit finden kann.«

»Genau«, sagte Harry. »In die Zukunft. Oder in die Vergangenheit. Wer wei? das schon? Es hei?t, dass es Orte gibt, an denen ist alles so wie hier, nur anders. Als ware die Queen eine Schwarze und niemand hatte jemals das Fliegen entdeckt.«

»Alternative Wirklichkeiten«, sagte ich. »Daruber habe ich einen langen Artikel im Telegraph gelesen.«

»Halte ich alles fur Unsinn«, erwiderte Harry. »Aber diese Kinder verschwinden, und niemand findet jemals etwas von ihnen wieder. Keinen Schuh, keinen Fu?abdruck, keinen Fingernagel.«

Liz betrat die Veranda. Sie trug khakifarbene Shorts und ein wei?es T-Shirt, durch das ihre Brustwarzen schimmerten. »Noch etwas Tee?«, fragte sie und schirmte mit der Hand ihre Augen gegen die Sonne ab.

Harry schuttelte den Kopf. Liz kam heruber und setzte sich zu uns auf die Mauer. »Sie sind doch nicht gekommen, um unsere Ratte zu fangen, oder?«, fragte sie. Sie hatte ihre Haare gewaschen und roch nach Laura-Ashley-Parfum.

»Ich wei? nicht, ob ich sie heute schon fangen werde, aber ich will mal einen Blick riskieren«, erklarte Harry. »Ich habe schon immer das Verlangen gehabt, Brown Jenkin zu fangen. So wie Captain Ahab das Verlangen verspurte, diesen Moby Dick zu fangen.«

»Ich habe Ihrer Frau versprechen mussen, dass ich Sie das nicht machen lasse«, sagte ich ihm.

»Naturlich. Aber Sie wissen, wie Frauen sind. Sie wissen nicht, was Pflichtgefuhl hei?t.«

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