»Was fur ein Pflichtgefuhl?«, fragte Liz.

»Er ist ein Rattenfanger«, lie? ich sie wissen. »Wenn er Brown Jenkin fangt, dann ist das der kronende Abschluss seiner Karriere. Man wird sich immer an ihn erinnern. Jedenfalls in Bonchurch.«

»Darum geht's nicht«, widersprach Harry. »Ich will keinen Ruhm.«

»Oh«, sagte ich perplex.

Harry zundete die Zigarette wieder an. »Die Art Pflichtgefuhl, die ich meine, ist eine Verpflichtung gegenuber der Familie, gegenuber meinem Bruder.«

Wir warteten, wahrend sich Harry rausperte. »Mein jungerer Bruder William verschwand, als er acht Jahre alt war. Wir haben im selben Zimmer geschlafen, William und ich. Er ist nur fur ein Glas Wasser in die Kuche gegangen. Das war eine von diesen Nachten, in denen im Fortyfoot House Lichter und Gerausche waren. Ich habe das Licht gesehen, wie es die Wolken beschien. Und ich konnte die Gerausche horen, wie ein unterirdisches Grollen. William war aufgestanden, weil er Durst hatte. Das letzte Mal, dass ich ihn sah, war, als er die Schlafzimmertur offnete. Ich sehe ihn noch ganz deutlich vor mir, in seinem Schlafanzug, sein rotbraunes Haar, sein dunner Hals. Aber ich kann mich nicht mehr an sein Gesicht erinnern.«

»Und Sie haben ihn nie wieder gesehen?«, fragte ich.

»Nie. Aber die Kuchentur war von innen verschlossen, ebenso die Haustur. Nur das Oberlicht in der Vorratskammer war offen, doch da hatte sich nicht einmal eine Katze durchzwangen konnen.«

»Wie lange ist das her?«

Es folgte eine lange Pause, dann schluckte Harry und antwortete: »Bald sind es sechsundfunfzig Jahre.«

»Und Sie glauben, dass er von Brown Jenkin geholt wurde?«

»Ich habe gehort, wie meine Mutter das dem Vikar sagte. Sie war sich dessen sicher. Sie wollte das Fortyfoot House Stein fur Stein abtragen, um unseren William wiederzufinden. Aber mein Vater sagte, sie sei verruckt. Brown Jenkin sei nicht mehr als eine Ratte. Oder vielleicht nicht mal mehr als eine Geschichte uber eine Ratte. Der Herr gibt, der Herr nimmt, Ratten nicht. Aber ich wusste, dass das nicht stimmte.«

»Und woher?«, fragte Liz mitfuhlend. Es war nicht zu ubersehen, dass das Verschwinden seines Bruders Harry Martin noch immer aufregte, auch wenn es uber ein halbes Jahrhundert zurucklag.

»Am nachsten Tag entdeckte ich zwei Fu?abdrucke im Blumenbeet, direkt auf der anderen Seite der Mauer zur Kuche. Abdrucke wie von Rattenpfoten, nur gro?er, drei-oder viermal gro?er. Einer von ihnen befand sich mitten in den Stiefmutterchen, der andere war nur ein halber Abdruck, direkt an der Mauer, so als kame er direkt aus der Kuchenwand. So, als ware ein Tier durch die Mauer marschiert, ohne sich uberhaupt an ihr zu storen.«

»Haben Sie Ihrem Vater die Abdrucke gezeigt?«

»Das wollte ich, aber er war den ganzen Tag uber mit der Polizei unterwegs, um bei den Klippen nach William zu suchen. In der Nacht regnete es dann, und am nachsten Morgen waren die Abdrucke nicht mehr zu sehen. Ich hatte keinen Beweis in der Hand, und darum sagte ich mir, dass ich vergessen musste, was geschehen war. Ich musste Brown Jenkin vergessen, wenn ich nicht verruckt werden wollte, so wie es beinahe meiner Mutter ergangen ware.«

Ich trank meinen Tee aus. »Sind Sie hergekommen, um nach ihm zu suchen?«

»Falls Sie nichts dagegen haben.«

»Naturlich nicht.« Ich wusste nicht, ob ich glauben sollte, dass Brown Jenkin in der Nacht Kinder raubt. Aber ich glaubte, dass da oben im Speicher des Fortyfoot House irgendetwas sehr Unangenehmes und Beunruhigendes war. Je eher wir es loswurden, desto besser.

»Also gut«, sagte Harry und stand auf. »Dann werde ich mich mal vorstellen.«

»Das Licht auf dem Dachboden ist leider kaputt, und ich habe keine Taschenlampe. Ich wollte gestern eine kaufen, hab's dann aber vergessen.«

»Kein Problem. Ich habe eine in meiner Tasche, zusammen mit dem ubrigen Handwerkszeug.«

Er ging zuruck ins Haus, nahm seine Ledertasche und offnete die Verschlusse. »Ich habe alles Notwendige dabei«, sagte er. »Fallen, Draht, vergiftete Koder. Sogar einen verdammt gro?en Hammer. Die beste Methode, um eine Ratte zu toten.«

Mit Unbehagen sagte ich: »Ihre Frau hat gesagt, ich solle Sie nicht bitten, nach Brown Jenkin zu suchen. Ich glaube, ich sollte Ihnen das auch nicht gestatten.«

Harry zog eine lange verchromte Taschenlampe hervor. »Sie haben mich nicht gebeten, mein Freund. Und was das Gestatten angeht... Sie sind nicht der Hausherr, Sie sind der Handwerker, mehr nicht. Und was ich tun will, das tue ich auch. Damit sind Sie aus dem Schneider.«

Ich warf Liz einen Blick zu, doch sie reagierte nur mit einem Achselzucken.

»Sie mussen das wirklich nicht machen«, sagte ich. »Im Lauf des Tages kommt jemand von Rentokil.«

Harry legte eine Hand fest auf meine Schulter und sah mich lange an. »Rentokil, mein Freund, ist was fur Ameisen und Kuchenschaben und Trockenfaule. Das hier ist Arbeit fur einen Rattenfanger.« Er tippte sich an seine Stirn. »Gegen eine Kreatur wie Brown Jenkin muss man Psychologie einsetzen. Man muss ihr immer einen Schritt voraus sein.«

»Wenn Sie das sagen.«

In diesem Moment kam Danny mit seiner leeren Schussel herein. »Was machen Sie mit der Ratte, wenn Sie sie gefangen haben?«, fragte er Harry. »Stecken Sie sie in einen Kafig und halten Sie sie dann als Haustier?«

»Diese Ratte nicht«, sagte Harry.

»Ich wollte mit meiner Wasserpistole auf sie schie?en, aber Daddy hat vergessen, eine Taschenlampe zu kaufen.«

Harry bedachte mich mit einem Lacheln. Danny begab sich nach drau?en, um zu spielen, wahrend ich Harry voraus nach oben ging. Als seine ledernen alten Hande nach dem Gelander griffen, sah ich, dass an der rechten Hand die Spitzen von Zeige-und Mittelfinger fehlten. Dafur hatte eine Ratte sicherlich einen Schlag mit dem Hammer bekommen.

»Warum sind Sie hergekommen?«

»Ihr Junge«, knurrte er.

»Danny?«

»Genau. Nachdem Sie gestern bei mir gewesen sind, bin ich nach Bonchurch spaziert, um mir das Haus noch einmal anzusehen. Um meine Erinnerung aufzufrischen. Seit zwei oder drei Jahren war ich nicht mehr hier. Vielleicht sogar noch langer. Ich bin am Gartentor stehen geblieben und habe Ihren Sohn am Teich spielen sehen. Er hatte mir den Rucken zugewandt, und fur eine Sekunde ...« Er machte eine Pause und schluckte heftig, wahrend sein Adamsapfel auf und ab tanzte. »Fur eine Sekunde glaubte ich, er sei mein Bruder William.«

Er musste weiter nichts erklaren. Ich offnete die Tur zum Dachboden, er schaltete seine Taschenlampe ein. »Nach Ihnen«, sagte ich. »Aber passen Sie blo? auf.«

Harry bemerkte den Luftzug, der uns aus der Dunkelheit entgegenschlug. »Ich kann keine Ratte riechen«, sagte er.

»Wie riechen denn Ratten ublicherweise?«

»Oh, das lernt man mit der Zeit. Sie riechen nach Pisse und Sagemehl und irgendetwas anderem, irgendetwas fur Ratten Typischem, wie eine Mischung aus Tod und Babys.«

»Benutzen Sie nicht Ihren Hammer?«, fragte ich.

»Nicht jetzt. Jetzt will ich mich nur umsehen. Ich mochte abschatzen, worauf ich mich einstellen muss.«

»Eine verdammt gro?e Ratte, so gro? wie ein Cockerspaniel, glauben Sie mir«, warnte ich ihn.

Schwerfallig stieg er die Stufen hinauf und erkundete mit dem Strahl seiner Taschenlampe die Dunkelheit. Ich folgte dicht hinter ihm, auch wenn ich alles darum gegeben hatte, wieder nach unten und raus in den Sonnenschein gehen zu konnen. Was, wenn das Madchen noch hier oben war? Wenn es real gewesen war, wenn man es entfuhrt, missbraucht und ermordet hatte? Wie sollte ich das irgendjemandem erklaren?

Was, wenn die Geschichten stimmten? Wenn Brown Jenkin eine Bestie war und Kinder verschleppen konnte? Mein einziger Schutz war ein schnaufender 67-jahriger Rattenfanger mit einer

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