Taschenlampe.

Feigling, schimpfte ich mich tonlos aus. Aber dann dachte ich, dass es stimmte. Ich schamte mich nicht dafur, Angst zu haben.

Harry hatte die oberste Stufe erreicht und lehnte sich gegen das Gelander, um sich umzusehen, wahrend der Strahl seiner Taschenlampe jeden Winkel erhellte. Ich entdeckte ein ungesund aussehendes Schaukelpferd, dessen gelbes Glasauge leuchtete, die Mahne war im Lauf der Zeit vom bestandigen Zerren durch Kinderhande ausgedunnt worden. Ich sah kleine Tische, auf denen sich alte Bucher stapelten. Von weit weg horte ich Danny im Garten lachen, wahrend Liz hinter ihm herjagte.

»Letzte Nacht war hier oben die Holle los«, sagte ich zu Harry. »Lichtblitze, Gerausche ... und das kleine Madchen. Oder was ich fur ein kleines Madchen gehalten habe.«

Harry griff hinter sich und umfasste meine Hand. »Sie mussen sich nicht entschuldigen, mein Freund. Sie wissen, was real ist und was nicht. So wie ich wei?, was meinen Bruder verschleppt hat. Einige Dinge wei? man einfach, ganz egal, was andere sagen. Vielleicht kann ich keine Ratten riechen, aber ich kann Brown Jenkin riechen.«

»Was wollen Sie unternehmen?«, fragte ich ihn.

»Ich werde mich grundlich umsehen«, antwortete er. »Selbst die klugste Ratte hinterlasst Spuren.«

»Passen Sie blo? auf sich auf, ja?«

Ich wartete auf der Treppe, wahrend Harry uber den Dachboden schlurfte, Laken anhob und Mobelstucke zur Seite schob. »Kein Rattendreck«, sagte er nach einer Weile. »Normalerweise findet man ihre Hinterlassenschaften.«

»Vielleicht ist es ja gar keine Ratte«, gab ich zu bedenken.

»Alle Schadlinge hinterlassen ihren Dreck«, erwiderte Harry. »So wie die Menschen immer Mull hinterlassen.«

Mit einem Mal dachte ich an die Verpackung des Schokoriegels, die ich gestern wahrend der Fahrt aus dem Fenster geworfen hatte, und fuhlte mich schuldig.

Harry stoberte weiter umher. Sehen konnte ich ihn nicht, er befand sich in der entferntesten Ecke des Dachbodens, uber meinem Schlafzimmer. Hin und wieder sah ich den Lichtkegel seiner Taschenlampe, mehr aber auch nicht.

»Augenblick mal«, sagte Harry. »Hier ist ein Dachfenster, aber ich sehe keinen Himmel.«

Ich ging bis zur obersten Stufe, um ihn sehen zu konnen. Er stand an der Stelle, unter der mein Schlafzimmer lag, und hatte seine Lampe auf ein kleines zweigeteiltes Dachfenster in der abfallenden Decke gerichtet.

»Keine Ahnung, was das ist«, sagte ich. »Wenn man das Haus von au?en betrachtet, dann sieht es so aus, als ware ein Teil des Dachbodens abgetrennt worden.«

Harry dachte uber meine Worte nach. »Das hei?t, dahinter befindet sich etwas?«

»Offensichtlich ja. Zwischen dem alten und dem neuen Dach.«

»Gro? genug, dass sich etwas darin verstecken konnte?«

»Ja, aber keine Ratte. Wie sollte ein Ratte ein Dachfenster offnen und schlie?en?«

Harry richtete die Taschenlampe auf sein Gesicht. Es sah gespenstisch aus, wie eine Totenmaske, die mitten in der Dunkelheit schwebte. »Das ist die Frage. Und ich habe noch eine Frage: Wie konnte sich eine Ratte mit meinem Bruder aus dem Staub machen?«

Ich schuttelte den Kopf. Ich wollte, dass er Brown Jenkin so

schnell wie moglich fand. Obwohl ein standiger Luftzug herrschte, hatte der Speicher etwas unglaublich Erdruckendes an sich. Es war eher so, als wurde man sich drei Etagen unter der Erde befinden, nicht uber ihr.

Harry stocherte umher und bewegte weitere Mobelstucke. »Sieht so aus, als mussten wir noch mal von vorne anfangen«, sagte er zu mir. »Keine Ratte zu sehen, auch kein Eichhornchen. Nichts.«

»Ich wei?, dass ich etwas gesehen habe«, beteuerte ich. »Es war struppig und dunkel und ist an mir vorubergehuscht.«

Es folgte eine lange Pause, dann sagte Harry: »Ich glaube Ihnen. Ich kenne einige Leute, die Ihnen nicht glauben wurden.«

Uber eine Minute lang stand er einfach da und starrte in die Dunkelheit, dann richtete er seine Taschenlampe wieder auf das Dachfenster. »Ich schatze, ich muss da mal einen Blick hineinwerfen. Vielleicht bringt uns das weiter.«

»Ich bezweifle, dass es aufgeht«, sagte ich. Trotzdem zog er eine der Holzkisten zu sich, auf die er klettern konnte, um den altmodischen Riegel am Dachfenster zu erreichen. Zweioder dreimal musste er mit dem Handballen gegen das Dachfenster schlagen, dann sprang es tatsachlich auf. Er offnete es, so weit es ging, und befestigte es dann an einer rostigen Stange.

»Hier riecht es anders«, meinte er, wahrend er seinen Kopf durch das Dachfenster steckte und mit der Taschenlampe den Raum dahinter beleuchtete. Auch wenn Harry mir die meiste Sicht nahm, konnte ich genug erkennen, um den Eindruck zu gewinnen, dass jemand ohne gro?e Erfahrung im Mauern in aller Eile das Dach zugemauert hatte.

»Die alten Dachziegel sind noch hier«, rief Harry mir zu. »Mir fallt ums Verrecken keine Erklarung ein, warum jemand dieses Stuck abgetrennt hat. Scheint einfach keinen Sinn zu ergeben.«

»Ein Schlafzimmerfenster ist ebenfalls zugemauert worden.«

»Ach, verdammt«, sagte Harry. »Ich schatze, wir mussen noch mal ganz von vorne anfangen.«

Er wollte gerade von der Kiste heruntersteigen, als er plotzlich seine Taschenlampe fallen lie?. Sie schlug auf dem Boden auf, ging aber nicht aus. Stattdessen traf ihr Strahl auf die verstaubte Oberflache eines Spiegels, der das Licht reflektierte und eine Ecke des Dachbodens unheimlich erhellte.

Ich wollte gerade zu ihm gehen und die Taschenlampe aufheben, als er ein ungewohnliches Gerausch machte, als zerrei?e man ein Stuck Stoff. Ich sah nach oben und entdeckte zu meinem Entsetzen, dass sich seine Haare verfangen hatten und er erfolglos versuchte, sich zu befreien. Er drehte sich und trat mit einem Bein um sich, woraufhin die Kiste, auf der er stand, ins Wanken geriet und gerauschvoll umkippte.

»Harry!«, schrie ich und versuchte, seine Beine zu fassen und ihn zu stutzen.

Mit aufgerissenem Mund starrte er mich an, aber es schien, als konne er nichts sagen.

»Harry? Was ist los?«, fragte ich ihn. Ich bekam sein linkes Bein zu fassen, wahrend er wie verruckt mit dem rechten zappelte. »Versuchen Sie, sich nicht zu bewegen!«

Harrys Kopf wurde hin-und hergerissen, seine Stirn schlug mit gro?er Wucht gegen den Rahmen. Ich sah Platzwunden und Blut. Dann horte ich wieder das Gerausch von rei?endem Stoff, und im gleichen Moment spannte sich Harrys Gesicht an, seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, seine Nasenlocher weiteten sich, seine Oberlippe klappte auf groteske Weise nach oben.

»Harry!«, schrie ich au?er mir.

Seine Gesichtshaut wurde immer weiter nach oben gezogen, bis er mich schlie?lich mit einem verzerrten Ausdruck und einem monstrosen hamischen Grinsen anstarrte.

Wieder war das durchdringende Krachen und Rei?en zu horen, und plotzlich verstand ich, woher es kam. Harrys Haut

wurde nach und nach von seinem Schadel gerissen. Das Krachen stammte vom Fettgewebe und von Knorpeln, die von den Knochen gezerrt wurden. Und das Rei?en stammte von den Haarwurzeln.

Ich bekam sein anderes Bein zu fassen und konnte ihn stabilisieren. Langsam zog ich ihn nach unten, um ihn von dem zu befreien, was ihn im Griff hatte. Er schrie aber so gellend, dass ich nicht anders konnte, als ihn loszulassen. Die Haut wurde ihm vom Kopf gerissen, so wie von einem rohen Huhnchen, und ich konnte nichts dagegen machen.

»Liz!«, schrie ich. »Liz!«, Aber sie war drau?en im Garten und konnte mich unmoglich horen. In Panik stellte ich die Kiste wieder auf, auf der Harry gestanden hatte, und nahm sein ganzes Gewicht in meine Arme. Er zappelte so heftig, dass ich nicht sehen konnte, was hinter dem Dachfenster vor sich ging. Ich konnte nicht erkennen, was ihn festhielt und wie seine Haut von seinem Schadel gerissen wurde. Dann aber machte er eine heftige Bewegung nach vorne. Klebriges und hei?es Blut regnete auf mich herab, doch in dem roten Dickicht seiner Haare sah ich drei geschwungene schwarze Krallen, die wie Klingen

Вы читаете Die Opferung
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×