Liz legte die Stirn in Falten. »Wirklich? Er hat immer wieder gesagt, dass es ein Unfall war.«

»Ich glaube, er mochte die ganze Angelegenheit so unbedeutend wie moglich erscheinen lassen, darum sagt er es. Wenn er versucht, irgendeinem von seinen Kollegen zu erzahlen, dass sich irgendetwas Sonderbares auf dem Speicher befindet, wird man ihn fur verruckt halten.«

»Und was wird er machen? Und was werden wir machen? Wir konnen doch nicht mit irgendeinem Monster unter einem Dach leben, oder etwa doch?«

Ich blickte hinauf zum Dach des Fortyfoot House. Obwohl die Sonne an einem strahlend blauen Himmel hing, wirkte es so, als verdunkle eine voruberziehende Wolke das Dach. Das Gebaude sah gehassig aus, so, als beherberge es alles Bose, das es an sich rei?en konnte. Ich war sicher, dass ich, falls ich zu einem der oberen Fenster hinaufschaute, dort ein bleiches ovales Gesicht erblicken wurde. Doch ich war genauso sicher, dass es nach nichts weiter als einer Spiegelung oder nach einem Muster auf der Tapete im Zimmer dahinter aussehen wurde, sobald ich mich dem Haus naherte.

Was mich am starksten irritierte, waren die Winkel des Dachs. Das Dach schien ein finsteres Zelt zu bilden, fur das eigene geometrische Gesetzma?igkeiten Gultigkeit hatten. Das westliche Ende, das am weitesten von uns entfernt war, wirkte viel hoher als das ostliche Ende, das uns am nachsten war. Schien die Sonne auf die nach Suden gelegene Seite, veranderten sich die Proportionen vollig. Die sudostliche Regenrinne erweckte den Anschein, als sei sie nach innen gerichtet, nicht nach au?en. Insgesamt wirkte es so, als bestehe das gesamte Dach aus einem System von Gelenken und Scharnieren, damit es nach Belieben seine Form verandern konnte.

Der Anblick lie? mich schwanken - ein Gefuhl wie nach zu vielen Runden auf einem Karussell.

»Geht es dir gut?«, fragte Liz. »Du siehst ganz blass aus.« »Mir geht's gut. Ich glaube, das ist der Schock.«

»Vielleicht solltest du dich ein wenig hinlegen.«

»Mir geht's gut, verdammt noch mal. Hor auf, so ein Theater zu machen.«

»Du tragst keine Schuld, er war fest entschlossen, da raufzugehen.«

»Ich wei?, aber das andert nichts.«

Sie legte ihre Hand auf meinen Arm. »Ich mag dich, wei?t du?«, sagte sie mit einer fast unmoglichen Direktheit. »Mach dir daruber keine Gedanken. Und wenn du mochtest, dass ich mit dir schlafe, dann werde ich das machen.«

Ich beugte mich zu ihr hinuber und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich glaube, das ist das Problem.«

»Ah, ich verstehe. Du mochtest eine Frau gerne erobern, richtig?«

»Das meinte ich nicht«, erwiderte ich, obwohl es eigentlich genau das war, was ich gemeint hatte. Ich mochte sie, ich war verruckt nach ihr. Aber im Augenblick genugte das nicht. Ich musste mehr mir selbst beweisen, dass ich in der Lage war, mein Leben in den Griff zu bekommen.

Danny rannte mit ausgestreckten Armen uber den Rasen auf den kleinen Bach zu und verursachte einen Larm wie eine Spitfire.

»Pass auf«, rief ich ihm zu. »Fall nicht rein.«

Vielleicht hatte er mich gehort, vielleicht auch nicht. Er sprang in einem Satz uber den Bach, die Arme immer noch ausgestreckt, und schaffte es, das Gleichgewicht zu verlieren, um mit einem Fu? direkt ins Wasser zu treten. Er rannte ungeruhrt weiter, obwohl ich sogar horen konnte, dass seine Sandalen vollig durchnasst waren.

»Er ist schon ein Kerl, nicht wahr?«, lachelte Liz.

»Ich hoffe nur, dass ihm seine Mutter nicht zu sehr fehlt.«

Wir sahen zu, wie Danny uber die Mauer auf den Friedhof kletterte und zwischen den Grabern umherlief, wahrend er das Gerausch eines Flugzeuges machte.

»Ich habe morgen meinen ersten Arbeitstag«, sagte Liz.

»Ich schatze, du musst morgen auch mit deinem Renovieren weitermachen.«

Ich sah wieder hinuber zum Fortyfoot House. Der Gedanke, das Haus zu renovieren und zu streichen, wahrend sich dieses Ding noch immer auf dem Dachboden aufhielt, erfullte mich mit gro?er Unruhe. Zum ersten Mal war ich versucht, einfach alles zusammenzupacken, zu den Maklern zu gehen und ihnen zu sagen, dass sie es vergessen sollten. Das einzige Problem bestand darin, dass sie mir das Gehalt fur den ersten Monat im Voraus gezahlt hatten. Ich hatte es ausgegeben ich wusste nicht, wie ich es zuruckzahlen sollte, au?er durch die Arbeit, die ich zu erledigen hatte. Ich hatte auch einen Teil des Geldes ausgegeben, das sie mir fur Farben und Materialien uberlassen hatten. Und wenn sie das erfuhren, wurden sie sicher sehr ungehalten sein.

Auswandern schien die einzige Alternative, die mir noch blieb.

Liz zog an meinem Armel. »Sieh mal. Wer ist das?«

Ich sah hinuber zur Kapelle auf dem Friedhof. Ich konnte Danny entdecken, wie er zwischen den Grabsteinen umherlief. Aber da war noch ein Kind auf dem Friedhof ... ein Madchen, vielleicht neun oder zehn Jahre alt, in einem langen wei?en Kleid, das im strahlenden Sonnenschein leuchtete, als sei es von einem leichten Nebel umgeben. Das Madchen stand vor der Tur zur Kapelle, als sei es gerade dort herausgekommen, obwohl sie fest verschlossen war. In den Handen hielt es etwas, das nach einer Girlande aus Ganseblumchen aussah.

»Wohl ein Kind aus der Gegend«, sagte ich.

Etwas am Erscheinungsbild dieses Madchens storte mich. Es war nicht nur das wei?e Kleid - die Kinder in der Gegend trugen fluoreszierende Bermudashorts und Ninja-Turtle-TShirts -, das Kind wirkte auch kranklich. Die Augen sahen aus wie tiefschwarze Flecken, und das Gesicht war so fahl, dass es fast schon grunlich wirkte.

Danny >flog< noch immer mit ausgebreiteten Armen uber den Friedhof, begann sich dann aber dem Madchen zu nahern, senkte die Arme und blieb stehen. Ich konnte sehen, dass sie sich unterhielten.

»Sehr gesund sieht sie nicht gerade aus, wie?«, bemerkte Liz.

Ich stellte meine Bierdose auf die Mauer und stand auf. Danny und das kleine Madchen waren zu weit entfernt, als dass ich ihre Gesichter deutlich hatte sehen oder hatte horen konnen, was sie sprachen. Aber mit einem Mal ergriff eine unerklarliche Panik von mir Besitz. »Danny!«, rief ich, wahrend ich uber den Rasen zur Kapelle ging.

Danny drehte sich um und sah mich an, dann unterhielt er sich weiter mit dem Madchen. »Danny!«, brullte ich, wahrend ich meine Schritte immer mehr beschleunigte.

»Danny, komm her!«

Ich lief an der Sonnenuhr vorbei. Hinter mir horte ich Liz etwas rufen, aber das Gerausch des Windes und mein eigenes Atmen waren so laut, dass ich zunachst nicht verstand, was sie rief.

Erst als ich den Bach erreicht hatte und wieder zur Kapelle sah, verstand ich, was sie mir hatte sagen wollen. Zwischen den Turen der Kapelle waren die wei?e Manschette und der schwarze Armel eines Mannes aufgetaucht, dessen Hand auf der Schulter des kleinen Madchens ruhte. Das Madchen drehte sich um, hob den Kopf und machte den Eindruck, als sage es etwas. Verstehen konnte ich davon nichts. Danny zog sich zwei, drei Schritte zuruck, dann wurde er schneller, bis er in seiner Eile fast uber einen Grabstein stolperte.

Ich trat in den eiskalten Bach, kletterte uber die moosbedeckte Mauer und sprang in das hohe Gras des Friedhofs.

»Danny!«, rief ich. Er stand ein Stuck von mir entfernt, eine Hand hatte er fest auf einen Grabstein gepresst. Er drehte sich um und sah mich ernst an. »Ich bin hier druben, Daddy.« Die Kapellenturen waren so fest verkantet wie zuvor, doch das kleine Madchen war verschwunden.

Ich ging zu Danny und legte ihm eine Hand auf die

Schulter. Auf dem Friedhof war es ungewohnlich ruhig und windstill. Grillen zirpten, blaue Schmetterlinge tanzten um die Kreuze.

»Mit wem hast du geredet?«, fragte ich Danny.

»Mit Sweet Emmeline.«

»Sweet Emmeline? Das ist ein komischer Name.« Ich blickte zuruck. Liz kam auch herubergelaufen. »Und wer war der Mann? «

»Der, den wir schon mal gesehen haben. Er hat gesagt: »Komm, Sweet Emmeline, wir mussen jetzt gehen.< Mehr nicht. Er hatte einen Hut auf.«

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