Oh Gott, nicht der junge Mr. Billings!

»Du meinst den schwarzen Hut? Den hohen schwarzen Hut?«

»Genau«, sagte Danny und hielt seine Hande hoch uber den Kopf. »Den gro?en schwarzen Hut, der wie ein Schornstein aussieht. Sweet Emmeline hat mich gefragt, ob ich mit ihnen spielen will.«

»Mit ihnen? Hat sie gesagt, wer die anderen sind?«

Meine Fragen schienen Danny zu langweilen. Trotzdem schielte er standig hinuber zur Kapelle, als furchte er sich vor dem, was plotzlich dort zum Vorschein kommen mochte. Bauz! Da geht die Ture auf, Und herein in schnellem Lauf, Springt der Schneider in die Stub?, Zu dem. Daumen-Lutscher-Bub. Er schien so verwirrt und verunsichert wie ich daruber, dass Sweet Emmeline problemlos durch diese Turen hatte kommen konnen. Immerhin war das uns beiden nur gelungen, nachdem ich sie mit meiner Schulter und sehr viel Kraft einen Spaltbreit hatte offnen konnen.

»Lebt sie im Dorf?«, fragte ich Danny.

»Sie hat nicht gesagt, wo sie lebt.«

»Und sie hat dir nicht gesagt, wer ihre Freunde sind?«

Er schuttelte den Kopf.

»Und sie hat nicht gesagt, wer der Mann ist, der sie mitgenommen hat?«

Wieder ein Kopfschutteln. Aber dann sah er mich an, und ich konnte in seinen Augen Verstandnislosigkeit und Beunruhigung erkennen.

»Sie hatte Wurmer in ihren Haaren. Als sie sich umgedreht hat, waren rote Wurmer in ihren Haaren.«

Oh Jesus, dachte ich. Was ist hier los?

Liz betrat den Friedhof durch das Tor. Ich nahm Danny auf den Arm und druckte ihn an mich. »Wahrscheinlich war Sweet Emmeline ein Zigeunermadchen, wei?t du? Die waschen sich nicht sehr grundlich.«

Danny klammerte sich an mich, sagte aber nichts. Liz kam zu uns und sah sich um. »Wo sind sie hin?«

Ich schuttelte den Kopf und versuchte ihr zu bedeuten, dass sie nicht weiterreden sollte. Doch sie verstand mich nicht. Sie ging zur Kapelle und versuchte, die Tur zu offnen. »Hier durch kann sie wohl kaum verschwunden sein.«

»Danny und ich haben uns auch schon da durchzwangen konnen, nicht wahr, Danny?« Ich fuhlte seinen spitzes kleines Kinn an meiner Schulter, als er nickte.

»Na, dann sollten wir doch mal sehen, ob sie dort sind«, schlug Liz vor.

Wieder wollte ich ihr mit einem lautlosen Nein zu verstehen geben, dass sie aufhoren solle, doch Danny drehte sich um und sagte: »Ja, das machen wir.«

»Bist du sicher?«, fragte ich ihn. Wieder nickte er und rieb sich die Augen.

Ich lie? Danny wieder zu Boden und ging auf die Doppeltur der Kapelle zu. Liz hielt Danny an der Hand und lachelte ihm zu. Sie schien beruhigend auf ihn zu wirken. Sie wirkte auch auf mich beruhigend, weil sie nett war und weil sie hubsch war. Und weil das Leben ohne Frau immer unvollstandig ist. Wahrend ich meine Schulter gegen die Turflugel druckte, wusste ich, dass es mir bei ihr nicht nur um Sex ging, sondern dass ich ihre Weiblichkeit brauchte, so wie Danny auch.

»Drucken!«, sagte Liz, und ich druckte. Der rechte Turflugel gab ein wenig nach, und wahrend ich ihn aufhielt, zwangten sich Liz und Danny durch die entstandene Offnung. Ich folgte ihnen und riss mir an einem Nagel die Haut am Ann auf. Eine dunne Spur aus tiefrotem Blut bildete sich auf meiner Haut.

Die Kapelle war verlassen, sie war ein Meer aus grauen zerbrochenen Dachschindeln. Wir stapften umher, doch von Sweet Emmeline war nichts zu sehen. Auch nicht vom jungen Mr. Billings. Wie auch? Der junge Mr. Billings war seit uber hundert Jahren tot, und nach Dannys Beschreibung zu urteilen, war Sweet Emmeline ebenfalls tot. Sehr tot. Tot und verwest, und in ihrem Haar hatten sich Wurmer eingenistet.

Liz kam zu mir und sah mich an. »Irgendetwas stimmt hier nicht, oder? Irgendetwas ist hier sehr seltsam.«

Ich sah nach oben, wo eine 737 der British Airways uber den morgendlichen Himmel donnerte, bis auf den letzten Platz besetzt mit Touristen, die auf dem Flug nach Malaga oder Kreta oder wer wei? wohin waren. Ich blickte nach unten auf den Boden der Kapelle und hinuber zu den leeren Fenstern und dem raschelnden Efeu. Es war schwer zu sagen, in welcher Zeit ich mich eigentlich befand.

»Ja«, erklarte ich. »Ich wei? nicht, was es ist, aber etwas stimmt wirklich nicht. Das ganze Haus ist seltsam. Es sieht schon seltsam aus, ist dir das aufgefallen? Es verandert standig seine Form.«

Liz senkte den Blick. Ihre Haut hatte den unschatzbaren Glanz der Jugend, nur mit ein paar Sommersprossen gesprenkelt, so wie ein Hauch Zimt. »Warst du sauer, wenn ich sagen wurde, dass ich ausziehen mochte?«

»Willst du die Wahrheit horen?«

»Naturlich.«

»Okay, ich ware sauer.«

Liz' Blick trubte sich, als erinnere sie sich an eine fruhere ahnliche Begebenheit. Oder vielleicht sogar Dutzende Begebenheiten dieser Art. Sie war eine von diesen Frauen, die sich nie ganz einem Mann hingeben konnten. Sie war eine von diesen Frauen, die irgendwann in Selbstgesprache vertieft, einsam und mit Warmflasche in irgendeinem Altersheim sterben wurden. Schei?e, ich hasste es, daruber nachzudenken. Aber ich musste schon auf mich selbst und auf Danny aufpassen, ich konnte nicht auch fur jeden anderen die Verantwortung ubernehmen, schon gar nicht fur eine Frau wie Liz und fur die Toten wie den jungen Mr. Billings, Sweet Emmeline und Harry Martin — mein Gott, wie musste Harry gelitten haben.

Danny zertrat die Schindeln mit einem Gerausch, das so klang wie der Knorpel, der von Harrys Knochen gerissen wurde.

»Aber ...«, sagte ich dann, »falls du wirklich gehen mochtest.«

Lange Zeit sagte sie nichts. Dann schlie?lich: »Nein, nein, ich bleibe. Ich kann nicht mein Leben lang vor allem davonlaufen, das mir nicht passt.«

»Hor zu. Ich mochte nicht, dass du hier gezwungenerma?en bleibst. Oder aus Mitleid. Harry Martin wurde das komplette Gesicht weggerissen, also ist irgendetwas da oben auf dem Speicher. Egal, ob es real ist oder nur Einbildung oder was auch immer. Also bleib nicht, weil du Mitleid mit mir hast. Die Welt ist voll von allein stehenden Mannern mit siebenjahrigen Sohnen.«

»Ich mochte bleiben«, beteuerte sie.

»Nein, das sagst du jetzt nur. Geh! Es ist besser fur dich!«

»Hor mal, nur weil ich mit dir letzte Nacht ins Bett gegangen bin ...«

»Das hat damit uberhaupt nichts zu tun! Das schwore ich! Wir waren beide fertig mit der Welt, wir waren mude und wir hatten beide etwas zu viel getrunken.«

»Also, mir hat es gefallen«, sagte sie spitz. »Mir hat es gefallen, und ich mochte mehr. Und darum werde ich bleiben.«

Trotz allem Schrecklichen, das geschehen war, schuttelte ich den Kopf und begann zu lachen. Woruber streiten Menschen, wenn es wirklich darauf ankommt? Liebe, Lust, Unsicherheit, Frustration und Angst. Mein alter Freund

Chris Pert sagte mal, dass ein Mann und eine Frau, die den gleichen Geschmack bei TV-Komodien und bei chinesischem Essen haben, in einer himmlischen Beziehung leben.

»Guck mal, Daddy. Blut«, sagte Danny.

Ich horte sofort auf zu lachen. Danny stand auf der anderen Seite der Kapelle vor dem Wandgemalde der Frau mit dem roten wallenden Haar. Ich ging zu ihm, Liz folgte mir.

Die Frau zeigte ein exzentrisches Lacheln - freudig erregt, erotisch und eine ganz kleine Spur verruckt. Ihre Augen erschienen mir strahlender als zuvor. Doch das rattenahnliche Ding, das sie wie eine Stola um ihren Hals gelegt trug, machte mir Angst. Die Augen dieses Dings waren hamisch und triumphierend, und aus seinem Maul tropfte Blut.

Vorsichtig beruhrte ich das Blut mit meiner Fingerspitze.

»liihh«, sagte Liz und rumpfte die Nase.

Ich hob meinen Finger. »Es ist nicht frisch. Es ist nicht mal Blut, es ist blo? Farbe.«

»Die ist aber zuletzt nicht da gewesen«, sagte Danny.

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