So wie Harry Martin kurz vor seinem Tod zog ich eine schwarze holzerne Kiste uber den Boden, bis sie direkt unter dem Dachfenster stand. Dann stieg ich hinauf und sah vorsichtig aus dem offenen Fenster. Der Wind wehte mir kraftig ins Gesicht und lie? meine Augen tranen. Ich wandte mich ab und sah, dass Dennis Pickering sich mir angeschlossen hatte. Erstaunen und Neugier hatten uber seine Angst gesiegt.

»Vielleicht ist es gar kein Teufelswerk«, sagte er. »Es ist so au?ergewohnlich ... dann kann es eigentlich nur ein Werk des Herrn sein.«

»Vielleicht ist es auch das Werk von Menschen«, gab ich zu bedenken und sagte ihm, wie ahnlich das Dach den sumerischen Zikkurats war. »Vielleicht ist es das Werk von Kezia Mason.«

»Ich wei? nicht«, sagte Pickering. »Zum ersten Mal in meinem Leben fuhle ich Angst. ... Nein, keine Angst, eher Unsicherheit. Ich verstehe das nicht. Es ist so ... fremd. Wissen Sie ... mit jeder Minute, die verstreicht... bin ich umso uberzeugter, dass das hier etwas anderes ist. Kein Werk des Teufels oder des Herrn. Sondern etwas anderes. Etwas vollig anderes.«

Er dachte weiter laut nach, wahrend ich noch einmal durch das Dachfenster sah. Ich konnte den Rosengarten an der Stelle stehen, an der er zur Sonnenuhr hin abfiel. Der Rasen war grundlich gemaht, die Rosen waren alle zuruckgeschnitten worden. In der Ferne sah ich zwischen den Baumen das Glitzern des Kanals im Sonnenschein.

»So wie die Zikkurats, sagten Sie?«, fragte Pickering. »Was konnen Sie sehen? Die gleiche Aussicht? Den Garten?«

»Es ist der Garten«, erwiderte ich. »Aber er sieht etwas anders aus. Viel gepflegter. Und die Baume unten am Bach sind noch viel kleiner. Einige sind nicht viel mehr als Schosslinge.«

»Dann sind wir in der Vergangenheit?«, fragte Dennis Pickering.

Ich sah nach links zur Kapelle. Sie war in bester Verfassung, die Bleiglasfenster spiegelten das Licht, der Friedhof war gemaht. Ich konnte nur gut ein Dutzend Graber erkennen, die erst vor kurzem ausgehoben worden waren und richtige Grabsteine aufwiesen, nicht nur einfache Holzkreuze.

»Ja«, sagte ich schlie?lich. »Ich glaube, wir sind in der Vergangenheit.«

»Glauben Sie, ich konnte es mir selbst ansehen?«, fragte Pickering nervos. »Nur ein Blick ... es ist so bemerkenswert.«

»Aber sicher«, antwortete ich. Gerade wollte ich jedoch von der Kiste heruntersteigen, als ich zwei Schatten bemerkte, die durch den Rosengarten huschten. Es war schwierig, sie zu erkennen, weil sie sich so schnell bewegten, dass es aussah, wie etwas, das man an sich vorbeihuschen sieht, wenn man aus dem Fenster eines fahrenden Zugs blickt. Dann kamen sie aber auf den kreisformig gemahten Rasen rund um die Sonnenuhr. Eine der Gestalten erkannte ich sofort. Sie war gro?, mit buschigem Backenbart, einem schwarzen Frack und einem Zylinder. Der junge Mr. Billings, mit blassem Gesicht und erregtem Ausdruck, zu seiner Linken begleitet von einer kleineren Gestalt in braunem Umhang mit Kapuze, einer Gestalt, die geduckt umhersprang, als vollfuhre sie irgendeinen au?ergewohnlichen Tanz.

Ich musste mich daran erinnern, dass ich kein Foto sah, sondern einen realen Nachmittag beobachtete, auch wenn der vor uber hundert Jahren stattgefunden hatte. Da war der junge Mr. Billings, lebendig und sehr verargert. Und da war das kleine haarige schlurfende Ding, das Brown Jenkin sein musste.

Hier vom Dach aus konnte ich kaum dahinterkommen, was der junge Mr. Billings tat oder sagte. Er gestikulierte mit seinem rechten Arm, als sei er ein Metzger, der einen Ochsenschwanz zerlegt. Er schien sehr wutend zu sein, doch die kleine in braun gekleidete Gestalt schien nicht willens zu sein, ihm zuzuhoren. Sie kreiste um ihn herum, eilte und rannte, sprang und duckte sich, womit sie es dem jungen Mr. Billings unmoglich machte, zu ihr aufzuschlie?en, au?er er vollzog einen ahnlich wirren Tanz.

Zwischen dem Pfeifen des Windes und dem monotonen Kreischen der Mowen konnte ich nur Bruchstucke horen: »... egal, was sie will ... vereinbart ... du kannst nur so viele nehmen, wie du ...«

»Bitte«, sagte Pickering, doch ich blieb, wo ich war, um zu horen, was der junge Mr. Billings und die in braun gehullte Gestalt sprachen. Der junge Mr. Billings klang, als belle er einen Hund an, wahrend die kleine Gestalt weiter umhertanzelte, als wurde es sie nicht interessieren. Ab und zu lie? sie ein schrilles, abgehacktes Lachen erschallen. Es war wie ein Traum oder ein Albtraum, diesen gro?en Mann zu beobachten, wie er etwas anschrie, das weniger wie ein Mensch wirkte, sondern eher wie ein buckliges und viel zu gro?es Nagetier.

»Wir haben eine Vereinbarung, schlicht und einfach!«, rief der Mann heiser.

In dem Moment tauchte direkt unter mir eine Frau auf. Sie musste aus der Kuche oder um das Haus herumgekommen sein. Ihr Gesicht konnte ich nicht erkennen, weil sie mit dem Rucken zu mir stand, doch ich erkannte das wallende rote Haar wieder. Es war die Frau, deren Bild man an die Wand in der Kapelle gemalt hatte. Sie trug ein dunnes wei?es Kleid, das im Wind flatterte. Obwohl es kalt war, stand sie barfu? im Garten.

An der Hand hielt sie ein Madchen von vielleicht zehn oder elf Jahren, das ebenfalls ein dunnes wei?es Kleid trug. Das Madchen trug einen Kranz aus Palmen-und Lorbeerblattern im Haar.

Es wurde geschrien, wahrend das Rattending hin und her sprang. Wieder und wieder sagte der Mann: »Wir haben eine Vereinbarung, schlicht und einfach!« Die in Wei? gekleidete Frau nahm ihn aber einfach nicht wahr.

Der Mann mit dem schwarzen Zylinder unternahm einen tolpatschigen Versuch, die Hand des Madchens zu fassen zu bekommen, als versuche er, es der Frau zu entrei?en. Das Rattending sprang ihn an, bleckte gleich mehrere Reihen geschwungener gelber Zahne und lie? seine lilafarbene Zunge hervorschie?en.

Der Mann trat sofort einen Schritt zuruck und hob seinen linken Arm, als ware es ihm lieber, dass ihm seine Hand, nicht aber sein halbes Gesicht fortgerissen wurde.

Sofort drehte sich die Frau um und ging zuruck zum Haus. Der Mann zogerte, versuchte dann aber, ihr zu folgen. Der Wind trug die gellenden Schreie des Kindes zu mir herauf.

»Was ist los?«, wollte ein au?erst aufgeregter Reverend neben mir wissen.

»Sieht so aus, als hatte der junge Mr. Billings Streit mit Brown Jenkin«, antwortete ich und stieg von der Kiste herunter. Hastig nahm Pickering meinen Platz ein und sah hinaus in den Garten.

»Ja, Sie haben Recht! Mein Gott, das ist der junge Mr. Billings! Und das ist zweifellos Brown Jenkin! Und die Frau muss Kezia Mason sein!«

»Aber was machen sie?«, wollte ich von ihm wissen. Er streckte seine Hand aus und ich half ihm von der Kiste. »Kezia Mason nimmt das Madchen mit. Gott wei?, warum sie das macht. Aber wenn dies das Jahr 1886 ist, in dem alle Kinder im Fortyfoot House starben oder verschwanden, dann konnen Sie sicher sein, dass diesem Madchen etwas au?erst Unerfreuliches widerfahren wird.«

»Konnen wir es nicht retten?«, uberlegte ich.

Pickering sah wieder zum Dachfenster und wirkte unentschlossen. »Ich nehme an, dass wir es versuchen konnten. Aber an Ihrer Stelle wurde ich mich von Brown Jenkin fernhalten.«

Ich ging rasch zur Treppe und sah nach unten, wo Liz noch immer auf uns wartete. Sie stand in der Dunkelheit da, womit klar war, dass wir auf diesem Weg nicht den Garten des Jahres 1886 erreichen konnten.

»Wir konnten aus dem Dachfenster klettern«, schlug Pickering vor, ohne allzu begeistert zu klingen.

»Das nutzt nichts«, sagte ich ihm. »Von diesem Teil des Dachs aus geht es nirgendwohin. Da geht es nur steil runter bis zur Veranda.«

»Warten Sie«, sagte er und beruhrte meinen Arm. »Ist das da im Boden nicht eine Klapptur?«

Ich drehte mich um und musste ihm Recht geben. Sie war fast vollig von einem staubigen Laken verdeckt, aber ich konnte ein Scharnier und eine Ecke des nicht richtig sitzenden Rahmens erkennen. Ich trat das Laken zur Seite und sah eine Klapptur, die gro? genug fur einen erwachsenen Menschen war. Es sah so aus, als habe man sie irgendwann nach der Fertigstellung des Hauses nachtraglich in den Boden eingelassen. Handwerklich war es das Werk eines Amateurs, wenn man sie mit den anderen im Haus ausgefuhrten Arbeiten verglich. Die Nagel und Scharniere waren bereits verrostet.

Mir fiel auf, dass die Riegel, die die Klapptur geschlossen hielten, nicht zuruckgezogen waren und sich auf dieser Seite befanden, anstatt auf der anderen, mir abgewandten Seite. Das konnte nur bedeuten, dass verhindert werden sollte, dass jemand heraufkommen konnte.

Jemand. Oder etwas.

Ich kniete nieder und presste mein Ohr gegen die Klapptur. Aus einem der unter mir liegenden Raume konnte ich das Madchen schreien horen.

Вы читаете Die Opferung
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×