Niemals werde ich den albtraumhaften Anblick, der sich uns bot, als wir in das Zimmer sturzten, vergessen - vieles erinnert mich daran: meine Traume, Schatten, Spiegelbilder, die man nur fluchtig sieht, ein kaum horbares Flustern. Es genugt der Blick auf einen viktorianischen Stuhl mit hoher Ruckenlehne bei einem Antiquitatenhandler, ein bestimmter grau getonter Herbsthimmel, ein brauner Teppich, der Geruch von Staub und Mobelpolitur aus Bienenwachs. In dem Moment, in dem Dennis Pickering und ich das Wohnzimmer betraten, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass wir in eine Zeit zuruckgereist waren, in die wir nicht gehorten. Und ich erkannte, dass das Grauen, dem wir gegenuberstanden, keine Geister oder sich bewegende Fotos waren oder Produkte unserer uberanstrengten Fantasie, sondern reale Personen, die lebten und atmeten und die vom Geruch der Holle umgeben waren.

Der junge Mr. Billings stand am weitesten von uns entfernt, seinen Arm hatte er halb erhoben. Er war viel gro?er, als ich ihn mir vorgestellt hatte, und sein schwarzer Hut und sein schwarzer Frack waren viel besser gearbeitet. Doch seine Wangen waren faltig, seine Augen waren blutunterlaufen, und er sah aus wie ein Mann, dessen innerer Zusammenbruch sich unerbittlich auf seinem Gesicht manifestiert hatte.

Kezia Masons Bild an der Wand der Fortyfoot-Kapelle wurde ihr nicht gerecht. Sie war zierlich und zart, fast schon hubsch. Vielleicht sogar mehr als hubsch, auch wenn sich in ihren Augen eine sonderbare, deplatziert wirkende Wildheit zeigte, die sogar den forschesten Mann erschreckt hatte. Auf jeden Fall erschreckte sie mich. Ihre Haare waren unglaublich. Sie waren von einem leuchtenden Rot, und sie standen so ab, als waren sie elektrisch geladen. Um ihre Schultern hatte sie ein locker gewebtes Tuch aus ungebleichter Wolle gelegt, und sie trug ein weites Kleid aus sehr feinem wei?en Schleier, der hier und da mit Augen, Handen und Sternen bestickt war. Das Kleid war so durchsichtig, dass ich ihren dunnen, fast schon magersuchtigen Korper sehen konnte, der stramm in Schnure und Bandagen gewickelt war. Ihre Fu?e waren nackt und schmutzig, blaue Adern hoben sich deutlich von der fahlen Haut ab.

Sie zischte, als sie uns sah.

Was mich aber regelrecht erstarren lie?, war mein erster ungehinderter Blick auf Brown Jenkin. Er war das Rattending von unbekannter Herkunft, das in den Stra?en der Londoner Docklands zur Welt gekommen sein konnte. Oder das ein verheerender genetischer Unfall von Billings und Kezia Mason war. Oder einfach nur aus einer Ratte entstanden, und das jetzt als Monstrositat vor mir stand, bucklig, eine Parodie auf einen menschlichen Knaben, auf ein Tier, das ein wenig su?lich, aber nach Verwesung roch.

Brown Jenkin ma? kaum 1,20 Meter, sein Kopf war schmal und lief spitz zu, so wie bei einem Nagetier, glich aber mehr einem grotesk in die Lange gezogenen menschlichen Gesicht als dem einer Ratte. Die Augen waren wei?, sogar die Iris war wei?. Die Nase war gespalten wie bei einer Ratte, doch ihre gro?en Nasenlocher, die die Schleimhaute freilegten, machten sie einem Menschen ahnlicher als einem Tier. Sein Mund war geschlossen, die Lippen hatten eine graulichschwarze Farbung, und ich konnte zwei scharfe Zahnspitzen erkennen, die unter der Oberlippe hervorlugten.

Er trug ein schmutziges wei?es Halsband, sein Hals war mit ebenso verdreckten Bandagen umwickelt. Sein missgestalteter Korper war in einen langen Mantel oder eine Jacke aus abgewetztem braunen Samt gekleidet, dessen Vorderseite mit Suppe und Ei und unzahligen anderen Essensresten ubersat war. Aus den viel zu langen Armeln ragten wei?e Hande mit langen Fingern heraus, die zwar menschlich aussahen, deren Nagel aber schwarz und gekrummt waren, so wie die Klauen einer Ratte. Unter dem Saum des Mantels, der auf dem

Teppich hing, konnte ich ein Paar schmale Fu?e erkennen, die wie der Hals der Kreatur mit schmutzigen wei?en Bandagen umwickelt waren.

Brown Jenkin hatte seine Klauen durch den Latz des kleinen Madchens gebohrt und hielt es an seinem ausgestreckten Arm so in die Hohe, dass ihre Fu?e in der Luft baumelten. Das Madchen selbst war starr vor Schreck, ihre Fauste zusammengeballt, der Kopf eingezogen und das Gesicht bleich. Ihr kupferbraunes Haar war ordentlich geflochten worden, aber mittlerweile war einer der Zopfe aufgegangen und bedeckte halb ihr Gesicht, was sie noch verruckter und verzweifelter aussehen lie?.

Einen Augenblick lang erstarrte die Szenerie und wirkte wie ein Foto, auf dem wir alle dastanden und uns einfach nur uberrascht anstarrten.

Kezia Mason wich einen Schritt nach hinten und zischte weiter. Der junge Mr. Billings brullte: »Kezia! Wer sind diese Leute? Welches Spiel treibst du mit mir?« Er eilte quer durch das Zimmer und griff nach einem schwarzen Stock mit silbernem Griff, der an einen der Sessel gelehnt war. Im gleichen Augenblick hob Pickering seine Hande und schrie: »Im Namen des Herrn!«

»Ein Priester!«, zischte Kezia Mason, als konne sie riechen, dass er ein Priester war.

»Im Namen des Herrn, lassen Sie das junge Madchen in Ruhe!«, herrschte Pickering sie an. Er ging mit erhobenen Handen einen Schritt nach vorn.

Der junge Mr. Billings lie? seinen Stock irritiert sinken, und sogar Kezia Mason schien zuruckzuweichen.

»Derjenige, der diesem jungen Menschen auch nur ein Haar krummt, wird sich vor mir rechtfertigen mussen, sagt der Herr!«, rief Dennis so voller Eifer, dass er ein paar Speicheltropfen spuckte.

Ich war fest davon uberzeugt, dass wir sie durch die schiere Autoritat eingeschuchtert hatten, als Kezia Mason vortrat, den durchscheinenden Stoff ihres Kleids anhob und Dennis

Pickering einen herausfordernden, stechenden Blick zuwarf.

»Vor dem Herrn rechtfertigen, was, Trottel?«, affte sie ihn nach. »Also, an deiner Stelle wurde ich daran denken, dass mein Alter Freund Gevatter Tod das nicht so einfach hinnimmt. An deiner Stelle wurde ich zum Haus des Heiligen Geistes zuruckkehren!«

»Ich befehle es!«, sagte der Reverend bebend. »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!«

Ich versuchte, hinter Pickering in die Nahe des Madchens zu kommen, um es Brown Jenkin zu entrei?en. Doch als der das bemerkte, zog er das Kind hinter sich her in den Schutz des Sofas. Das Kind schrie nicht mehr, aber es war noch immer wie erstarrt und gab hin und wieder ein leises Wimmern von sich. Es schien nicht zu erkennen, dass Pickering und ich versuchten, es zu retten. Es lie? nicht mal erkennen, dass es uns uberhaupt wahrgenommen hatte.

Der junge Mr. Billings hob seinen Stock, als wolle er Pickering damit auf den Kopf schlagen, doch Kezia Mason hielt ihn zuruck und sagte: »Nein!« Dann legte sie eine Hand vor ihre Augen und sang mit schriller Stimme: »Du wirst sehen, was ich sehe! Alles, was ich sehe, sei deins! Sieh, was ich sehe!«

Dann richtete sie den rechten Zeigefinger auf Dennis Pickerings Gesicht und schrie: »Sadapan, Quincan, Dapanaq, Can! Panaqan, Naqacan, Quacanac, Can!«

In dem Moment begann auch Dennis zu schreien, allerdings nicht triumphierend. Seine Augen traten einen Moment lang aus ihren Hohlen hervor, und im Bruchteil einer Sekunde wurden sie ihm formlich aus dem Kopf gerissen und flogen in hohem Bogen durch das Zimmer, wahrend sich uberall Blutspritzer verteilten. Ein Auge fiel in die Asche des Kamins, das andere kollidierte mit einem Stuhl und rutschte langsam an dessen Bein nach unten, so wie eine Schnecke, wahrend es eine blutige Spur hinter sich herzog.

Ich war so sehr von Panik erfullt, dass ich nicht wusste, was ich machen sollte.

Brown Jenkin kicherte und sang: »Eyes, pies! Yeux, peur! Augen, Angst!«

In dem Moment dachte ich: David, wir stecken verdammt tief in der Schei?e. Ich wollte Pickerings Hand ergreifen, um ihn aus dem Zimmer zu bringen, doch Kezia Mason teilte die Finger, die ihre Augen bedeckten, und zischte mich an: »Nein, Kumpel, du fasst ihn nicht an. Nicht jetzt.«

Ich machte einen weiteren vorsichtigen Schritt auf Pickering zu, der immer noch mit erhobenen Handen dastand und schwieg. Blind und stumm, schockiert uber die Gewalt, die so plotzlich uber ihn hereingebrochen war. Sein ganzes Leben lang wusste er von der Holle, sprach uber sie, kannte ihre Geschichte. Aber er hatte nicht wirklich gewusst, ob es die Holle gab. Und jetzt war die Holle auf ihn eingesturzt und hatte ihm die Augen herausgerissen.

Diesmal bleckte Kezia Mason ihre Zahne und warnte mich: »Noch ein Schritt, Mr. Tunichtgut, und deine Augen gehen auch auf Wanderschaft.«

Ich trat zuruck und schluckte. Mein Versuch, mich aus dem Zimmer zu retten, wurde von Kezia Mason zu

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