»Sind Sie bereit dafur?«, fragte ich den Reverend. Mein Herz raste wie wahnsinnig. »Es konnte sein, dass wir uns in etwas einmischen, obwohl wir das gar nicht sollten. Das ist Ihnen doch bewusst, oder?«

Dennis Pickering schluckte schwer. »Wenn die Unschuldigen um Hilfe rufen, mussen wir etwas unternehmen«, sagte er dann. »Da bedeutet es keinen Unterschied, ob es 1886 oder 1992 ist.«

»Amen«, sagte ich und offnete die Klapptur.

Wahrend ich in das winterliche Tageslicht spahte, wurde mir plotzlich klar, dass diese Klapptur in mein Schlafzimmer fuhrte ... das jetzt ein Zimmer war, bei dem die Decke nicht abgetrennt worden war. Das war mein Schlafzimmer, bevor man nahezu ein Drittel des Raums abgeteilt hatte. Das

Zimmer war dementsprechend gro?er und luftiger, und es verfugte uber ein zweites Fenster mit Blick auf die Erdbeerbeete. Direkt unter der Klapptur stand ein Stuhl, zu dem ich mich hinunterhangelte, um dann auf den nackten Fu?boden hinabzusteigen. Ich rief leise nach Dennis Pickering, damit er mir folgte.

Es war faszinierend, wie mein Schlafzimmer ohne die schrag nach unten verlaufende Decke wirkte. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie gro? der Teil war, den man abgetrennt hatte. Am zweiten Fenster stand ein einfaches Metallbett, das olivgrun gestrichen war, sich aber in einem heruntergekommenen Zustand befand. Auf dem Metallgestell lagen eine unbequeme Rosshaarmatratze und ein gelbliches Bettlaken, weiter nichts. Ein Tablett aus verfarbtem Kupfer lag unter dem Bett, au?erdem eine zusammengelegte Schurze, die mit rostigen Flecken ubersat und mit ihren eigenen Schnuren fest zusammengebunden war.

»Sehen Sie doch«, sagte Pickering plotzlich und lenkte meine Aufmerksamkeit auf ein Kruzifix, das an der Wand vor dem Bett hing. Es war ein gro?es Kruzifix, mit gro?em Geschick aus dunkel lackiertem Holz geschnitzt, mit einer Christus-Figur aus Elfenbein und mattiertem Silber. Christus sah mit Augen voller Selbstaufopferung und Schmerz ins Nichts. Was aber so unangenehm an dem Kreuz war, das war die Tatsache, dass es auf dem Kopf hing und an einer verdrehten Kordel aus zerfasertem Hanf und vertrockneten Kastanienbluten befestigt war.

»Was bedeutet das?«, fragte ich.

»Ich wei? nicht, vielleicht Satansjunger. Oder Anhanger des Antichristen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Es konnte sich um irgendeinen Kult handeln, von dem wir noch nie etwas gehort haben. Ende des neunzehnten Jahrhunderts gab es viele Randgruppen, die sich mit Schwarzer Magie und Teufelsanbetung beschaftigten-.«

»Horen Sie!«

Wieder waren die Schreie des kleinen Madchens zu horen.

Es klang danach, als habe man das Kind in den Raum gebracht, der heute das Wohnzimmer war. Die Schreie horten sich nicht mehr so hysterisch an, dafur elender, als hatte sich das Madchen in sein Schicksal ergeben, sei aber dennoch todunglucklich.

»Moge Gott uns die Kraft geben, die wir brauchen«, hauchte Dennis Pickering und ging vor mir zur Treppe.

Das Haus hatte sich zwischen 1886 und 1992 kaum verandert. Entlang der Treppe und im Flur war allerdings alles mit dunklem Holz vertafelt, au?erdem waren die Wande oberhalb der Vertafelung tapeziert. Ein durchdringender Geruch von feuchtem Verputz, gekochtem Fisch und Lavendelbohnerwachs hing im Haus.

Im Flur hingen viel mehr Fotos und Zeichnungen an den Wanden, aber naturlich fehlte »Fortyfoot House, 1888<. Wahrend Pickering und ich uns vorsichtig auf die geoffnete Tur zum Wohnzimmer zubewegten, fiel mein Blick auf seltsame Stahlstiche von mysteriosen Garten, die von Tieren bevolkert wurden, die die Gro?e von Wild mit Insektenbeinen und Panzern hatten.

Es gab minutios gezeichnete Darstellungen von mutierten Tieren und medizinische Darstellungen von schwangeren Frauen, die aus achteckigen Glasbehaltern Chloroform einatmeten. Andere Bilder zeigten beunruhigend detaillierte Zeichnungen von Frauen, deren Inneres mit Lampen erhellt und untersucht wurde.

Ich konnte mir nicht jedes Bild ansehen, aber ich hatte mir keine Sammlung vorstellen konnen, die noch ungeeigneter fur ein Waisenhaus gewesen ware als diese hier. Jedes einzelne von ihnen war bizarr oder Furcht erregend oder schonungslos gynakologisch. Es gab den Furcht einflo?enden Stich mit dem Titel >Soldatenfrau, die ihrem Ehemann in die Schlacht folgt, von einer Kanonenkugel in zwei Halften gespalten wird und noch im gleichen Moment ein lebendes Kind zur Welt bringt<.

Der Reverend hob eine Hand, um mir zu bedeuten, dass ich stehen bleiben und mich ruhig verhalten solle. Wir waren noch etwa einen Meter von der Wohnzimmertur entfernt und konnten nun ganz genau das atemlose hohe Jammern des Madchens und das verzerrte Kichern von Brown Jenkin und die monotone Stimme des jungen Mr. Billings horen. Das graue Herbstlicht fiel auf den rotbraun gemusterten Teppich, der von Tausenden von Tritten lederbesohlter Schuhe glanzend geworden war. Irgendwo hinter uns, vielleicht aus der Kuche, horte ich klappernde Gerausche. Jemand sang Two Litlle Girls In Blue.

»Was sollen wir jetzt am besten machen?«, zischte Pickering mir zu. Sein Atem roch nach zu vielen Tassen Tee. So viel zu Liz' Au?erung, Vikare wurden ublicherweise Alkohol trinken.

»Ich wei? nicht. Was konnen wir machen?« In diesem Moment musste ich an das denken, was Liz gesagt hatte: >Du kannst dich nie entscheiden. Gehen - bleiben - gehen -bleiben. David, um Himmels willen, entscheide dich doch endlich einmal.«

Ich uberlegte immer noch, wie wir vorgehen sollten, als ich eine schneidende uberhebliche Stimme horte, die mich innehalten lie?. Es war die Stimme einer Frau mit einem Cockney-Akzent, der mit dem heutigen genuschelten Cockney kaum etwas gemein hatte. Ohne jeden Zweifel musste das Kezia Mason sein - Schutzling des alten Mr. Billings, Geliebte des jungen Mr. Billings.

»Na, komm schon, du kleines Luder. Der Alte Freund wartet auf dich.«

Wieder schrie das Kind auf, dann sagte der junge Mr. Billings: »Kezia, das war nicht vereinbart. Zwolf, hast du gesagt, mehr nicht. Zwolf wurden genugen. Und bei Gott, zwolf waren schon schlimm genug. Aber nicht mehr als zwolf.«

»Wann habe ich etwas von zwolf gesagt, mein Liebster?«

»Du hast von zwolf gesprochen, als wir uns zuerst geeinigt hatten. Jenkin hat ebenfalls zwolf gesagt. Nicht mehr.«

»Ich sagte zwolf in den Tagen von Queen Dick.«

»Kezia, du kannst nicht noch mehr nehmen. Was wird Barnardo sagen?«

»Wir lassen Mazurewicz kommen. Er wird bestatigen, dass sie alle an der Reihe waren.«

»Verdammt, Kezia, du kannst sie nicht alle haben!«

»Der Alte Freund nimmt, was er braucht«, erwiderte Kezia. Das Kind schrie unterdessen, ohne Luft zu holen.

Ich flusterte Pickering zu: »Klingt so, als ob sie auf uns zukommen. Ich schnappe mir das Kind, und Sie brullen ihnen etwas entgegen, irgendwas, Gebete, Fluche, einfach gentig, um sie aus der Fassung zu bringen.«

Uberraschend griff der Reverend nach meiner Hand: »Wenn wir sie mit auf den Speicher nehmen ... in unsere Zeit ... glauben Sie, dass sie uberleben wird?«

»Wie meinen Sie das?«

»Wir befinden uns im Jahr 1886, das Kind ist jetzt und hier zehn oder elfjahre alt. Wenn wir es mit ins Jahr 1992 nehmen, ware es dort uber hundert Jahre alt. Vielleicht bringen wir es im Grunde ebenso um, wie Kezia Mason es macht! Vielleicht sogar auf noch grausamere Weise!«

Das Kind schrie inzwischen noch lauter, und ich wusste, dass wir irgendetwas unternehmen mussten. »Um Himmels willen, Dennis. Wir haben es hierher geschafft in eine Zeit, in der wir noch nicht auf der Welt sind! Dann wird das umgekehrt genauso funktionieren!«

Reverend Pickering legte kurz die Hande aneinander und sprach das schnellste Gebet in der Geschichte des Christentums. Dann offnete er die Augen und sagte: »Also gut, David, wir werden es wenigstens versuchen. Moge Gott mit uns sein!«

Das Madchen schrie und schrie. Ich gab Pickering mit der flachen Hand einen Sto?, und dann sturmten wir zusammen durch die Tur ins Wohnzimmer.

12. Der Teufelsdaumen

Вы читаете Die Opferung
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×