nicht vollig dunkel. Liz hatte die Tur zum Speicher aufgesperrt, doch nach dem hellen Tageslicht des Jahres 1886 fiel es mir schwer, mich an das schwache Licht zu gewohnen. Ich trat hinaus auf den Treppenabsatz und schloss die Speichertur hinter mir. Liz stand dort und wartete auf mich. Sie hielt die Hand des kleinen Madchens, wahrend Danny ein Stuck entfernt stand.

»Und?«, sagte Liz zitternd.

»Und was?«

»Geht es dir gut? Bist du verletzt?« »Nein, ich hin in Ordnung. Ach so, mein Fu? hat etwas abbekommen, aber das ist alles. Gut, dass ich Doc Marten's trage.«

»Wo ist der Vikar?«

»Bitte?«

»Der Vikar, Mr. Twittering oder wie er hei?t.«

»Oh ... Pickering. Dennis Pickering.«

»Na gut, dann eben Dennis Pickering. Wo ist er? Und was war das fur ein Ding da unten? Dieses schreckliche kreischende Ding? War das Brown Jenkin?«

»Ja, das war Brown Jenkin. Er hat sich uber mich geargert, weiter nichts.«

»Jesus, wenn er da nur verargert war, dann mochte ich ihn aber nicht erleben, wenn er wirklich sauer ist.«

»Es ist schon okay, ehrlich. Er ist wie ein Wachhund, ein wenig wild.«

»Du zitterst.«

»Nein, nein, es geht mir gut.«

»Also, wo ist Reverend Pickering?«

»Ihm geht's gut. Er...«, begann ich, bemerkte dann aber, wie durchdringend Danny mich ansah und wie aufmerksam er zuhorte. Wenn ich ihm erzahlt hatte, was wirklich geschehen war, dann ware er fur den Rest seines Lebens wahrscheinlich von Albtraumen verfolgt worden. So wie ich auch. Wie konnte ich jemals diesen unfassbaren Anblick vergessen?

»... er wollte noch bleiben«, erklarte ich. »Er kann gut mit Kindern umgehen, wei?t du?«

»Und wie lange wird er bleiben?«

»Ich ... ahm ... ich erzahle dir das gleich, wir sollten uns erst mal um die Kinder kummern.«

»David«, fragte Liz. »War das wirklich Tageslicht?«

»Ja, das war Tageslicht. Und es war wirklich Herbst. Und soweit ich das sagen kann, war es wirklich das Jahr 1886. Es ist kein Trick, Liz. Man kann vielleicht unheimliche Gerausche verursachen, aber man kann weder die Tageszeit noch die Jahreszeit verandern.«

Sie sah nervos zur Speichertur. »Kann irgendwas von da nach hier kommen?«

»Ich wei? es nicht. Ich verstehe es ja nicht mal.«

Ich verschloss die Tur und schob den Riegel vor. Wahrscheinlich wurde sich Brown Jenkin nicht davon aufhalten lassen, wenn er durch diese Tur wollte. Aber wenigstens wurde uns der Larm vorwarnen.

Ich kniete neben dem Madchen nieder. Sein Gesicht war sehr bedruckt und seine Augen hatten die blasse Farbe von Achat. Dennis Pickering hatte sich geirrt. Die Reise vom Jahr 1886 ins Jahr 1992 hatte ihr nicht geschadet, jedenfalls konnte ich davon nichts feststellen. Aber es war schon ein au?ergewohnliches Gefuhl, mir vorzustellen, dass dieser Mensch eigentlich uber achtzig Jahre alter war als ich. War das ein Werk Gottes oder des Teufels? Oder war es etwas vollig anderes?

»Wie hei?t du?«, fragte ich, bekam aber keine Antwort.

»Du kannst mir doch bestimmt sagen, wie du hei?t.«

Noch immer keine Reaktion. Danny kam naher und betrachtete den Besucher. »Woher kommt sie?«, fragte er. »Sie sieht eigenartig aus, so wie Sweet Emmeline.«

»Ich glaube, sie ist eine Freundin von Sweet Emmeline«, antwortete ich, dann fragte ich das Madchen: »Kennst du Sweet Emmeline?«

Das Madchen nickte. Na, wenigstens ein kleiner Fortschritt hatte sich eingestellt.

»Was ist mit Sweet Emmeline passiert?«, fragte ich.

»Brown Jenkin«, kam eine geflusterte Antwort, gefolgt von etwas, das ich nicht verstehen konnte.

»Brown Jenkin? Brown Jenkin hat etwas gemacht? Was denn?«

»Brown Jenkin hat sie mitgenommen.«

»Oh mein Gott«, sagte Liz. »Ich glaube, wir sollten die Polizei anrufen.«

»Augenblick«, hielt ich sie zuruck. »Wohin hat er sie denn mitgenommen?«

Das Madchen bedeckte mit der linken Hand seine Augen, wahrend es mit den Fingern der rechten Hand eine sonderbare Bewegung andeutete, so als wurden die sich auf einer Treppe nach oben bewegen.

»Brown Jenkin hat sie mit nach oben genommen?« Das Madchen nickte wieder, hielt sich aber immer noch die Augen zu.

»Also gut. Und was hat Brown Jenkin dann gemacht?«

»Sein Gebet gesprochen.«

»Ich verstehe.«

»Er hat sein Gebet gesprochen, dann ist er mit Sweet Emmeline nach oben gegangen, dann dort entlang, da durch und da runter.« Das Madchen beschrieb etwas, das es vor seinem geistigen Auge sehen, das ich aber nicht nachvoll-ziehen konnte.

»Mit »nach oben<, meinst du da den Dachboden?«

Wieder nickte das Kind.

»Und wohin dann?«

Es atmete rasch durch. »Dort entlang, da durch und da runter.«

»Ich verstehe«, sagte ich, obwohl ich es nicht tat. >Dort entlang, da durch und da runter« konnte so ziemlich alles bedeuten, vor allem, da Brown Jenkin offenbar die Fahigkeit besa?, ohne Muhe von einem Jahr in ein anderes zu wechseln.

»Wei?t du, warum er sie mitgenommen hat?«, wollte ich wissen.

»Er hat sie zum Picknick mitgenommen.«

»Er wollte dich auch zum Picknick mitnehmen, richtig?«

Das Madchen nickte.

»Hast du ihm das nicht geglaubt?«

»Ich wei? nicht. Edmond hat gesagt, dass Brown Jenkin einen mitnimmt und da versteckt, wo einen die Zeit nicht linden kann.«

Emmeline ... hat seit uber einer Woche niemand gesehen ...

»Und wo ist das?«

»Ich wei? es nicht.«

»Liebe Gute, David, wir sollten Sergeant Miller anrufen«, sagte Liz. »Ich wei? nicht, was diese Leute machen, aber wir konnen das nicht allein in die Hand nehmen.«

»Leute?«, fragte ich und drehte mich zu ihr um.

»Geister, Ratten, was immer sie sind.«

Mit einem Mal sah ich wieder vor mir, wie Brown Jenkin Pickerings Bauch aufschlitzte. Ich glaubte nicht, dass das Madchen davon etwas mitbekommen hatte. Und wenn doch, dann hatte es vielleicht nicht wirklich verstanden, was geschehen war. Es war zu plotzlich geschehen; in einem Moment sah man Pickerings plumpen wei?en Bauch, im nachsten war daraus eine herausquellende Masse seiner Eingeweide geworden.

Ich sagte mir, dass er tot war. Er musste tot sein. Aber wann? Wenn er noch im Jahr 1886 war, dann war er lange vor seiner Geburt gestorben, wahrend dieses kleine Madchen lebte, obwohl es schon langst hatte tot sein mussen. Als ich noch zur Schule ging, hatte ich in Science-Fiction-Geschichten davon gelesen, dass die Zeitreise voller Paradoxa steckte, wenn Menschen in die Vergangenheit reisten und ihr jungeres Ich trafen. Oder wenn sie ihre eigenen Eltern umbrachten oder an ihrem eigenen Grab standen. Doch bis zu diesem Augenblick hatte ich nie begriffen, wie verwirrend diese Dinge in Wirklichkeit waren.

Vom Dachboden horte ich ein leises Kratzen, gefolgt von einem leisen Schleifen, dann wieder ein Kratzen. »Wir sollten besser nach unten gehen«, sagte ich, da mich der Gedanke an einen uber den Speicherboden schleichenden Brown Jenkin mit Angst erfullte.

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