Auf dem Weg in die Kuche warf ich einen kurzen Blick auf das Foto, das wieder so aussah wie zuvor. Vorausgesetzt, es hatte sich uberhaupt verandert. Alkohol und Stress konnen die seltsamsten Dinge hervorrufen.

Ich offnete den Kuhlschrank, nahm die Weinflasche und zog den Korken heraus. Erst als ich ein Glas eingoss, bemerkte ich, wie sehr meine Hande zitterten.

»Und dem Vikar geht es gut, meinst du?«, fragte Liz.

»Ja, ja, naturlich.«

»Aber was macht er eigentlich genau dort? Ich meine, wie ist es dort uberhaupt?«

Ich fullte ein Glas bis zur Halfte und trank es aus, wahrend meine Hande wie verruckt zitterten. »Eigentlich so wie hier. Nicht richtig anders. Andere Mobel, der Garten sieht gepfleg-ler aus. Die Wande sind getafelt, aber das ist es auch schon.«

»Bist du irgendjemandem begegnet au?er dem Madchen? Und naturlich au?er Brown Jenkin.«

»Dem jungen Mr. Billings.«

»Du hast ihn getroffen? Hast du dich mit ihm unterhalten?«

»Nur kurz. Er schien ... in Gedanken. Wei?t du, nicht so ganz bei der Sache.«

»Aber du hast mit ihm gesprochen. Das ist unglaublich.«

»Ja, es ist unglaublich. Ich kann es selbst kaum glauben.«

Liz fragte das Madchen, ob es Milch und ein paar Kekse haben wolle. Das Madchen nickte, und Danny half ihm, am l isch Platz zu nehmen.

»Was hast du gemacht, um Brown Jenkin so zu verargern?«, fragte Liz, wahrend sie zwei Glaser Milch eingoss. Das Madchen schien fasziniert von der Milch im Karton, und der Kuhlschrank begeisterte es offenbar restlos. Mir wurde plotzlich klar, dass ich ein Kind aus einer Zeit mitgebracht hatte, in der Radio, Fernsehen, Autos, Flugzeuge, Plastik, umfassende elektrische Beleuchtung und all die anderen Dinge nicht existierten, die fur uns selbstverstandlich waren.

Ich sa? am Kuchentisch und sah dem Madchen zu, wie es a? und trank. Der Schock uber Pickerings Tod begann mir ein taubes, dumpfes Gefuhl zu geben, als ware ich uberhaupt nicht hier. Liz horte sich an, als spreche sie aus einem anderen Zimmer zu mir.

»Ich mochte im Augenblick wirklich nicht uber Brown Jenkin reden«, sagte ich. »Er ist nicht gerade der Typ, der fur schone Traume sorgt.«

»Ist er eine Ratte?«, fragte Danny.

Ich schuttelte den Kopf und wunschte mir, mich nicht so taub zu fuhlen. »Er sieht aus wie eine Ratte, aber er ist wie ein Junge angezogen. Er ist schmutzig, er stinkt, und er ist ziemlich abscheulich. Ich bin nicht sicher, was er ist. Aber er redet ein Mischmasch aus Englisch, Franzosisch und Deutsch. Also muss er ein Mensch sein.«

»Ich wollte nicht zum Picknick gehen«, sagte das Madchen nachdrucklich.

»Warum nicht?«, fragte Danny. »Ich mag Picknicks.«

Das Madchen schuttelte den Kopf. »Wenn du mit Brown Jenkin zum Picknick gehst, kommst du niemals zuruck. Und dann schaufeln sie dir ein Grab aus.«

»Ich habe doch gesagt, dass wir mit dem Sergeant reden sollten«, sagte Liz. »Wenn sie Kinder entfuhren, dann mussen wir sie aufhalten.«

»Stimmt«, sagte ich. »Stimmt vollkommen. Aber wann entfuhren sie die Kinder? Heute? Gestern? Morgen? Vor hundert Jahren?«

»Was ist mit dem kleinen Madchen, das in Ryde verschwunden ist? Was ist mit dem Bruder von Harry Martin?«

»Und was ist damit, Detective Sergeant Miller davon zu uberzeugen, dass ich nicht vollig ubergeschnappt bin? Es gibt keinen Beweis, oder? Und solange wir keinen Beweis haben, wird die Polizei als Erstes glauben, dass ich diese Kinder entfuhrt habe. Ich habe hier ja schon ein unbekanntes Madchen. Ich kann nicht erklaren, woher es kommt und was es hier macht. Ich wei? ja nicht mal, wie es hei?t.«

»Charity«, sagte das Madchen laut und deutlich. »Charity Welbeck.«

»Na, das ist ja schon mal was«, sagte ich. »Hallo und willkommen, Charity Welbeck. Darf ich dich mit der zweiten Halfte des zwanzigsten Jahrhunderts bekannt machen?«

»Bleibt sie bei uns?«, fragte Danny.

»Ich wei? nicht. Ich glaube schon, ich wusste nicht, wo sie hin sollte.«

»Ich kann ihr beibringen, wie man fischt. Wir konnten Taschenkrebsrennen veranstalten.«

»Warum denken wir daruber nicht morgen fruh nach?«, schlug ich vor. »Es ist jetzt Zeit, ins Bett zu gehen.«

Liz stand auf. »Ich lasse ihnen ein Bad einlaufen. Charity kann eine von meinen Blusen als Nachthemd nehmen.«

Danny kam um den Kuchentisch herum und gab mir einen Kuss. »Gute Nacht, Zacko McWhacko«, sagte ich zu ihm. Normalerweise hatte ich gelachelt, aber ich war nicht in der Stimmung dazu. Dennis Pickering war ermordet worden, und ich hatte Charity nur um Haaresbreite retten konnen. Und mir selbst hatte eine Kreatur im Nacken gesessen, die abscheulicher war als jeder Albtraum.

Ich sa? mit verkrampften Muskeln am Kuchentisch und wusste einfach nicht, was ich machen sollte.

13. Die Erscheinung

Ich klebte gerade das gro?te Pflaster, das ich hatte finden konnen, auf meinen Fu?, als Liz ins Badezimmer kam. Sie trug ein Nachthemd von Marks & Spencer mit Minnie Mouse auf der Vorderseite.

»Das sieht nicht gut aus«, sagte sie.

Ich zog das Pflaster noch einmal ab, um ihr die Verletzung zu zeigen. Zwei von Brown Jenkins klauenartigen Fingernageln hatten sich wie Kreissagen durch meinen Stiefel gebohrt und mir zwei Schnittwunden zugefugt, die knapp einen Zentimeter lang waren. Die Wunden brannten, und ich hatte last eine Stunde benotigt, um die Blutung zu stoppen.

»Du solltest dir eine Tetanusspritze geben lassen«, sagte Liz. »Wenn Brown Jenkin so dreckig ist, wie du gesagt hast, dann konnte sich das entzunden.«

»Ich sehe es mir morgen fruh an«, versprach ich.

Sie zog ihr Nachthemd aus und beugte sich uber die Badewanne.

»Das kocht ja fast«, sagte sie. »Du musst eine Haut aus Leder haben.«

»Die Japaner baden immer in kochend hei?em Wasser.«

»Ja, und sie essen auch rohen Tintenfisch. Aber das hei?t noch lange nicht, dass ich das auch machen muss.«

Sie lie? kaltes Wasser nachlaufen, dann stieg sie in die Wanne.

»Schlafen die Kinder?«, fragte ich sie.

»Wie tot. Die arme Charity ist sofort eingeschlafen, als ihr Kopf das Kissen beruhrte.«

»Ich wunschte, ich wusste, was ich mit ihr machen soll.«

Liz seifte sich Schultern und Nacken ein. »Ich wei? nicht, warum du sie uberhaupt erst mitgebracht hast. Sie gehort doch gar nicht hierher.«

»Brown Jenkin wollte sie mit zum Picknick nehmen, darum habe ich sie mitgebracht.«

»David, du kannst doch nicht in Raum und Zeit eingreifen. Du kannst nicht Gott spielen. Ich wei? nicht, wie du das gemacht hast und ob du es uberhaupt gemacht hast, aber du hast ein Madchen aus der viktorianischen Zeit ins Jahr 1992 gebracht. Wie soll Charity damit zurechtkommen? Im Moment geht es ihr gut, aber sie hat noch keinen Fernseher gesehen. Und was glaubst du, was sie denken wird, wenn ein Jumbojet ubers Haus fliegt?«

Ich stand auf und humpelte zum Waschbecken. Im beschlagenen Spiegel sah ich nicht ganz so mude aus,

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