Pickerings Leichnam hatte unter dem Fu?boden des Wohnzimmers gelegen, seit Brown Jenkin ihn 1886 ermordet hatte. Ich hatte die Leiche gesehen. Jetzt aber war sie verschwunden, weil ich die Vergangenheit verandert hatte. Mit einem Mal wurde mir klar, dass Zeit nicht linear verlief, sondern parallel. Unser Bewusstsein bewegte sich von einem Ereignis zum anderen, doch wir konnten an den Anfang zuruckkehren und Ereignisse andern. Die Ereignisse waren immer da, von der prahistorischen Zeit bis zum Ende aller Zeit. Queen Viktoria war immer noch da, ebenso Heinrich VIII. und Julius Casar. Auch ich als kleiner Junge. Und Janie. Vielleicht konnte ich sogar verhindern, dass sie jemals Raymond begegnete.

Es wunderte mich nicht, dass die Alten so gierig die Chance nutzten, durch die Zeit zu reisen, und dass sie die sumerischen Priester ubernahmen, die zuruckgereist waren, um diese vormenschlichen Zivilisationen zu besuchen. Die Alten waren unglaublich hinterlistig, und sie waren unerbittlich an ihrem eigenen Uberleben interessiert. Sie hatten, so wie ich mittlerweile auch, verstanden, dass die Zeit verandert und neu arrangiert werden konnte. So wie manche Wissenschaftler hatten sie mit herzloser Klarheit erkannt, dass die Beherrschung der Zeit zugleich die Herrschaft uber alles und jeden bedeutet und eine Welt nach sich zieht, in der Moral nicht langer existiert und in der ihre eigene Selbstgefalligkeit genugt, um uberlegen zu herrschen.

Wie ein ganz gewohnlicher Schriftsteller wie H. P. Lovecraft jemals diesen Namen gehort hatte, wollte ich gar nicht erst wissen. Aber das Zeitalter von Yog-Sothoth stand unmittelbar bevor. Yog-Sothoth, der fur alle Zeit als Urschleim in nuklearem Chaos jenseits der tiefsten Au?enposten von Raum und Zeit schaumt!

Ich betrachtete die Schlussel und hatte das Gefuhl, dass mir der Boden unter den Fu?en weggezogen wurde. Sie waren der unwiderlegbare Beweis dafur, dass ich ins Jahr 1886 gereist war, dass Dennis Pickering tatsachlich von Brown Jenkin getotet worden war und dass ich seinen Leichnam ins Meer gebracht hatte. Das bedeutete auch, dass der »Dennis Pickering«, der mich am Morgen besucht hatte, auf keinen Fall Pickering war. Wahrscheinlich war mein Eindruck richtig gewesen, dass es Brown Jenkin gewesen war, der mit Hilfe von Kezia Masons Magie eine Illusion von Pickering erzeugt hatte. Sie hatte aus einem Turgriff eine menschliche Hand gemacht, also konnte sie auch sicherlich aus dem verlausten Brown Jenkin einen Vikar machen.

Ich ging in den Flur und rief Detective Sergeant Miller an, der mit vollem Mund ans Telefon ging.

»Sergeant Miller? Hier ist David Williams aus dem Fortyfoot House.«

»Ah, ja. Stimmt etwas nicht, Mr. Williams?«

»Sie sollten jemanden zum Vikariat von St. Michael's schicken.«

»Liegt irgendein bestimmter Grund vor?«

»Nur eine Kontrolle, ob es Mrs. Pickering gut geht.«

Miller schluckte, dann fragte er vorsichtig: »Ob es ihr gut geht? Wussten Sie einen Grund, der dagegen spricht?«

»Sehen Sie«, sagte ich. »Von den Einwohnern hier abgesehen sind Sie der einzige Mensch, dem ich in Bonchurch begegnet bin, der glaubt, dass irgendetwas Gefahrliches im Gange sein konnte.«

»Und?«, fragte er misstrauisch.

»Nun ... ich kann das im Moment nicht so genau erklaren ... aber ich glaube nicht, dass Reverend Pickering der ist, fur den er sich ausgibt. Pickering ist nicht der Pickering.«

»Verstehe«, bemerkte Miller mit einem leicht ironischen

Unterton. »Wenn er nicht er selbst ist... wer ist er dann? Und sollte seine Frau nicht sofort den Unterschied bemerkt haben?«

»Es gibt keinen Unterschied, er ist eine Art Trugbild.«

Ich horte ihn kauen und schlucken, und dann schlurfte er an etwas; wahrscheinlich an einer Tasse mit sehr hei?em Tee.

»Sie erwarten verdammt viel von meiner Fantasie, Mr. Williams.«

»Ware es nicht besser, der Sache nachzugehen, solange es noch nicht zu spat ist?«, fragte ich.

»Schatze, Sie haben Recht. Passen Sie auf, ich sage Ihnen, was ich machen werde. Ich bin nachher ohnehin bei Ihnen in der Nahe, weil ich mit Mr. Divall vom Dorfladen reden muss. Ich hole Sie ab und wir fahren gemeinsam zum Vikariat. Dann konnen wir diese Angelegenheit ein fur allemal aus der Welt schaffen.«

»Hort sich gut an.«

Ich legte den Horer auf. Oben horte ich Liz The Windmills Of My Mind singen. Die Schlussel waren auch der unwiderlegbare Beweis fur einen anderen Punkt: Liz hatte mich belogen, was meine Reise zuruck ins Jahr 1886 und was Charity betraf. Und vermutlich hatte sie dann auch gelogen, als sie sagte, sie wisse nichts uber den jungen Mr. Billings, uber die sumerischen Durchgange und uber die Alten, die seit mehr als funfeinhalbtausend Jahren im Korper unschuldiger Menschen uberlebt hatten und darauf warteten, dass eines Tages die Erde genug verschmutzt war, damit sie zuruckkehren konnten.

Die Schlussel bedeuteten auch, dass der junge Mr. Billings die Wahrheit gesagt hatte und dass die geisterhafte Nonnengestalt, die in Liz eingedrungen war, dasselbe Hexenwesen war, das zuvor unter anderem von Kezia Mason Besitz ergriffen hatte.

Und ich hatte Liz die dritte und letzte Befruchtung gegeben, die des Blutes.

Ich stand im Flur und glaubte, mein Gehirn musse explodieren. Aller Logik und allen Erlebnissen zum Trotz konnte ich fast nicht glauben, dass Liz tatsachlich besessen sein konnte. Sie sprach wie immer, machte die gleichen Witze, sah aus wie immer. Sie tauchte oben an der Treppe auf und trug eines meiner Hemden. Mit wehenden Haaren und wippenden Brusten kam sie die Treppe zu mir heruntergelaufen.

»Stimmt was nicht?«, fragte sie und kusste mich auf die Nase. »Du siehst aus, als ware dir ein Geist uber den Weg gelaufen.«

Ich schuttelte den Kopf. »Es ist alles in Ordnung, du musst dir keine Sorgen machen. Aber Detective Sergeant Miller mochte, dass ich mit ihm nach Shanklin fahre, um noch ein paar Fragen zu beantworten.«

»Er glaubt doch nicht ernsthaft, dass du irgendwas mit dem Tod von Harry Martin oder Doris Kemble zu tun haben konntest, oder?«

»Nein, naturlich nicht. Er will nur noch einmal alles uberprufen. Nachste Woche gibt es wegen Harry Martin eine gerichtliche Untersuchung. Er will nur sicher sein, dass ich nichts ausgelassen habe.«

»Oh, das ist gut«, sagte Liz. »Dann gehe ich mit Danny spazieren.«

Augenblicklich uberkam mich Angst. Wenn sie von dem Hexending besessen war, konnte ich Danny dann mit ihr allein lassen? Der junge Mr. Billings hatte mir versichert, dass alle Marchen der Wahrheit entsprachen und dass Kinder das Grundnahrungsmittel fur Hexen waren. Ich erinnerte mich entsetzt an ein Marchenbuch aus meiner Kindheit, das eine Hexe mit Hakennase zeigte, die sechs oder sieben verstorte Kinder auf einem riesigen Backblech in den Ofen schob.

»Ich ... ich dachte, dass ich Danny mitnehme. Sergeant Miller sagte, er wurde ihm den Polizeiwagen zeigen.«

Liz ging vor mir und drehte den Kopf um, wahrend sie die Nase rumpfte. »Laaaaaaangweilig! Danny will bestimmt nicht den Nachmittag mit einer ganzen Horde Bullen verbringen.«

»Ihn interessiert so etwas.«

In dem Augenblick betrat Danny die Kuche, wahrend er noch immer mit Pickerings Schlusseln spielte.

»Dein alter Herr muss zur Polizei gehen«, sagte Liz und legte den Arm um seine Schultern. »Sollen wir nicht wahrenddessen nach Ventnor spazieren und Su?igkeiten kaufen? Danach bauen wir eine riesige Sandburg, setzen uns hinein und essen tonnenweise Su?es, bis wir keinen Hunger mehr aufs Abendessen haben.«

»Ich hatte eigentlich gehofft, dass du mit mir mitkommst«, sagte ich. »Sergeant Miller sagte, er wolle dir einen richtigen Polizeiwagen zeigen.«

»Und dann?«, fragte Danny.

»Und dann ... dann muss ich mit ihm noch ein paar Dinge durchsprechen. Das wird nicht allzu lange dauern.«

Ich wunschte, mir ware eine bessere Luge eingefallen, aber ich hatte mir bereits ein Bein gestellt. Ich konnte mir genau vorstellen, was in Dannys Kopf ablief. Er uberlegte, ob er mit seinem Vater in einem muffigen Buro einen langweiligen Nachmittag verbringen oder ob er Su?igkeiten haben und am Strand spielen wollte.

Liz legte ihren Kopf schrag. »Du musst dir keine Sorgen machen, David. Ich werde schon auf ihn aufpassen.«

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