wissen Sie. Es handelt sich um eine uralte Religion der fruheren Erde, die sich vor einigen tausend Jahren aus einer Ansammlung von Stammesgruppen heraus entwickelt hat. Sie scheinen als die ublichen Polytheisten begonnen zu haben und wurden ganz plotzlich zur ersten monotheistischen Religion der Menschheitsgeschichte. Die Religion wurde mit einer Reihe von Gesetzen und Gebrauchen in ein System gebracht. Daraus ergaben sich dann andere gro?e Religionen, aber die Anhanger des Originals blieben klein an Zahl und uberlebten die Jahrtausende mit ihrem Glauben. Sie wird ›Judaismus‹ genannt, die Anhanger hei?en gewohnlich ›Juden‹, und es gibt sogar heute noch welche davon, immer noch eine Handvoll, Sehr sonderbar.«

»Und er praktiziert seinen Glauben?«warf Marquoz ein.

»Ja, den Anschein hat es. Er lebt zwar nicht in einer der Gemeinschaften und scheint das auch nie getan zu haben, halt aber oft Kontakt mit ihnen, vor allen an ihren hochsten Religionsfeiertagen, und man kann horen, da? er fur sie gesorgt hat.«

»Du sagst, er praktiziert seine Religion und hat ein besonderes Interesse am Wohlergehen ihrer Anhanger«, meinte der kleine Drache nachdenklich. »Es gibt aber keinen Hinweis darauf, da? er mehr tut, als an ihren Riten teilzunehmen? Er wird nicht als besonders heilig oder gottahnlich angesehen?«

»Ganz und gar nicht«, antwortete Obie. »Ihr Gott ist allumfassend, aber nicht greifbar, ganz gewi? kein gewohnlicher Mensch. Als jemand, der ein gewohnlicher Mensch zu sein schien, in ihrer Heimat auftauchte und behauptete, der Menschensohn ihres Gottes zu sein, wurde er sogar hingerichtet. Daraus entwickelte sich allerdings eine viel gro?ere Religion.«

»Die Widerspruche haufen sich«, sagte Marquoz versonnen. »Weshalb sollte Nathan Brazil an einer solchen Gruppe interessiert sein? Wenn er Gott ist, weshalb schlie?t er sich ihr als Glaubiger an? Wenn nicht, dann ist er zumindest ein Uberbleibsel der Markovier, der verdammt genau wei?, wo die Menschheit herkommt — eingeschlossen seine kleine Gruppe. Das ergibt doch alles gar keinen Sinn!«

»Es kommt noch mehr«, sagte Obie. »Die Religion, die der Hinrichtung des Mannes entsprang, der sich Gottes Sohn nannte, wurde ›Christentum‹ genannt. Es gibt sie nach wie vor in starkem Ma?, und sie ist, wenn auch in Teilsekten zerfallen, ganz gut organisiert. Diese Leute kennen eine Legende, wonach es einen unsterblichen Menschen gibt, einen Juden, der Gottes Sohn auf dem Weg zur Hinrichtungsstatte verfluchte. Er wurde seinerseits mit dem Fluch belegt, ewig leben zu mussen, bis der Hingerichtete zuruckkehren wurde, um die Herrschaft des Himmels zu errichten. Es ist klar, da? Nathan Brazil ohne Rucksicht auf den wahren Ursprung der Geschichte der Ewige Jude, die Quelle der Geschichte, ist

»Immer weniger sinnvoll«, schnaubte Marquoz. »Die Antworten werden wir wohl nie erfahren, bis wir ihn finden. Ich fange an, mich langsam selbst dafur zu interessieren.«

»Obie?«sagte Mavra. »Kannst du uns, kurz zusammengefa?t, sagen, was du wei?t? Wie weit hast du ihn zuruckverfolgen konnen?«

Obie schwieg einen Augenblick, dann sagte er:»Nun, die Daten werden Ihnen nichts bedeuten. Sagen wir einfach, da? die erste echte Aufzeichnung, die ich habe, auf die Zeit der alten Erde zuruckgeht, als die Raumfahrt noch in den Anfangen stand. Er war naturlich Frachterkapitan und fuhr von Mittelmeerhafen nach Nord- und Sudamerika. Diese Ausdrucke sagen Ihnen nichts, ich wei? — Verzeihung. Ich finde aber ein paar Dinge aus der damaligen Zeit interessant. Er nannte sich damals Mark Kreisel und war Burger eines winzigen Insellandes mit dem Namen Malta. Die Firma, fur die er arbeitete, war aber keine maltesische, sondern aus einem viel gro?eren, fernen Land, das Brazil, in einer anderen Sprache von fruher Brasilien, genannt wurde.«

»Aha!«sagte Marquoz.

»Interessant ist auch, da? Malta nicht weit entfernt ist von dem fruheren Land Israel, dem einzigen judischen Staat im industriellen Zeitalter, gleichzeitig der Ursprungsort der erwahnten Religion.«

»Wie weit geht das zuruck, Obie?«

»Ungefahr achtzehnhundert Jahre, Mavra. Die Datierungsmethoden haben sich seitdem ein paarmal geandert, und viele der alten Aufzeichnungen sind entweder ungenau, oder es ist unsicher, welche sie verwendet haben. Das vermittelt aber immerhin eine Vorstellung.«

»So weit zuruck«, sagte Marquoz fasziniert. »Und selbst damals war er in der Nahe dieses ungewohnlichen Volkes mit der kleinen Religion. Man hatte aber doch annehmen mogen, da? er ein Burger des Landes dieser Gruppe gewesen ware.«

»Nein, das hatte ihn eingeschrankt«, erwiderte Obie. »Das judische Volk war fast von Anfang an schlecht behandelt worden, die ganze Menschheitsgeschichte hindurch. Ein gro?er Teil der Welt anerkannte das Land nicht und hatte es zerstort, wenn es nicht starke Streitkrafte und ein paar machtige Verbundete besessen hatte. Die Juden wurden stets dafur verfolgt, da? sie sich von der herrschenden Kultur ihrer Umwelt unterschieden, weil sie sich nicht voll und ganz dem Lebensstil der Mehrheit anschlie?en wollten.«

»Ich glaube, ich habe eine Vorstellung von Mi?trauen gegenuber jemandem, der ein wenig anders ist«, bemerkte Marquoz spottisch.

»Malta dagegen war ein winziges Inselland, das kaum einer kannte, mit einem Gemisch von Kulturen und Rassen, fur niemanden eine politische Bedrohung«, fuhr Obie fort. »Ein idealer Ausgangspunkt und Stutzpunkt, eine Nationalitat, um die kein Mensch sich scherte.«

»Und dann?«sagte Mavra. »Was ist dann geschehen? meine ich.«

»Es hat den Anschein, da? Kapitan Mark Kreisel in einen schweren Sturm geriet und sein Schiff verlassen wurde. Er blieb nach der alten Tradition an Bord, um die Bergung als Wrackgut zu verhindern — die Gesetze haben sich in diesem Punkt kaum geandert —, und als die Retter kamen, war das Schiff zwar nicht untergegangen, aber der Kapitan fehlte. Alle Boote und Flo?e waren vorhanden, und da man sich auf der Hochsee befand, Hunderte von Kilometern von jedem Land entfernt, gingen die Behorden davon aus, er sei von der schweren Sturzsee uber Bord gespult worden und ertrunken. Das war der erste nachgewiesene Tod des Mannes, den wir jetzt unter dem Namen Nathan Brazil suchen.«

Mavra war von der Geschichte fasziniert und wollte mehr horen. Obie berichtete von den vielen Leben und Personlichkeiten Nathan Brazils im Laufe der Jahrhunderte. Als Astronaut namens David Katz war er einer der Bauleiter bei der Errichtung der ersten Raumstationen in Umlaufbahnen um die Erde gewesen; er hatte in einer Reihe von Kriegen mitgekampft und war in vielen Landern aufgetaucht. In vielfacher Verkleidung war er in der fernen Vergangenheit der Menschen eine Art Legende. Als Warren Kerman war er im ersten menschlichen Sternenschiff Chefastrogator gewesen, als russischer Kosmonaut namens Iwan Krawiski hatte er als dritter Mensch die fremde Welt betreten, die den Namen Gagarin erhalten sollte, die erste Welt vom Typ Erde, die man im Weltraum entdeckte. Wie der Mensch war auch Nathan Brazil hinausgedrungen, nicht an der Spitze des Rudels, aber trotzdem bei den ersten.

Mavra war verzaubert, aber Marquoz sagte:»Komisch. Ich hatte vermutet, da? er sich unauffallig verhalt — aber statt dessen taucht er immer wieder in den Schlagzeilen auf.«

»Durchaus nicht so komisch«, gab Obie zuruck. »Jeder Mensch, der er gewesen ist, war eine wirkliche Person, wurde irgendwo geboren, wuchs irgendwo auf, arbeitete sich hoch und starb schlie?lich — nie an Altersschwache, mochte ich hinzufugen. Er hat eine Neigung zu plotzlichem Verschwinden.«

»Du sagst, das waren alles wirkliche Personen«, warf Mavra ein. »Aber das kann doch nicht sein, oder? Ich meine, es ist doch immer derselbe Mann…«

»Ich bin uberzeugt davon«, sagte der Computer. »Und trotzdem waren sie wirklich. Ich kann nicht erkennen, wie er das gemacht hat — aber so ist es gewesen. Interessant erscheint mir, da? sie alle aus verwaisten Familien oder Kleinfamilien mit wenigen lebenden Verwandten stammten. Au?erdem wurden sie nach starker au?erlicher Ahnlichkeit ausgesucht. Irgendwann schaltete Brazil sich ein und ersetzte jede dieser Personen, gewohnlich zu einem Zeitpunkt, wenn der Betreffende noch sehr jung und weit von zu Hause fort war. Eines steht jedenfalls fest — er kannte sie so gut, da? er nie einen Fehler machte, kein einziges Mal. Alle, sogar die Menschen aus der wahren Vergangenheit des Mannes, schienen ihn fur echt zu halten.«

»Ob er sie ermordet hat?«fragte Marquoz besorgt. »Und welche Macht hat er, wenn es so war, eingesetzt, um buchstablich sie selbst zu werden, wenn er doch seine au?ere Erscheinungsform nie geandert hat? Mich bedruckt das.«

»Er wurde nie kaltblutig jemanden ermorden!«brauste Mavra auf. »Alles, was wir uber ihn wissen, bestatigt das. Ich habe Erinnerungen als kleines Kind — wahrend des Uberfalls schmuggelte er mich an der Harwich- Geheimpolizei vorbei hinaus — die einzigen deutlichen Erinnerungen aus der Zeit, die ich habe. Es war Gute in ihm, Gute und Sanftheit.«

Marquoz zog die Schultern hoch.

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