»Wovon zu was?«

»Alle judischen Kapitane und Brazils Leben und sein Verschwinden — das sind die Daten, die immer noch einlaufen. Melden Sie sich in zwei Stunden, wenn ich alles habe. Da kann ich vielleicht Genaueres sagen.«

Sie ging also an die Oberflache und bat Marquoz und einige der Olympierinnen, sich spater mit ihr zu treffen. Am spaten Nachmittag, als Mavra sich mit Obie wieder in Verbindung setzte, war er weitergekommen.

»Wissen Sie, was ein Rabbi ist?«fragte er unvermittelt.

Sie raumte ein, da? sie es nicht wu?te.

»Nun, das ist ein Priester im judischen Glauben — nur hat er keine mystischen Krafte, weder echte noch eingebildete. Der Ausdruck bedeutet wortlich ›Lehrer‹ und zeigt an, da? er sich auf judisches Gesetz und judische Kultur spezialisiert hat, so da? er ein Experte ist — wie jeder andere akademische Beruf eben auch das Ergebnis von Ausbildung ist. Jeder judische Tempel hat einen Rabbi, von der Gemeinde seiner Kenntnisse im Glauben halber ausgewahlt. Aber es gibt sehr viele Rabbis, die keine Gemeinde haben, die sogar andere Berufe ausuben, aber trotzdem fur Experten gehalten werden und andere Leute unterrichten konnen. Viele davon spezialisieren sich auf die Feinheiten des Gesetzes und leben den Glauben, obwohl sie ihr Geld in weltlichen Berufen verdienen. Im Grunde durchaus faszinierend. Wissen Sie zum Beispiel, da? es drei Rabbis gibt, die gleichzeitig Frachterkapitane sind?«

Sie war erstaunt.

»Kapitane? Religiose Lehrer?«

»Sehen Sie, was ich meine. Und trotzdem ist das ein dreifach gutes Leben, weil es nicht nur lukrativ ist und viel Zeit fur das Studium bietet, sondern sich auch als der beste Weg erweist, die kleinen, uber Hunderte von Welten verstreuten Gemeinden zu erreichen. Von den dreien haben alle zu irgendeiner Zeit Tatigkeiten ausgefuhrt, an denen auch Brazils Schiff beteiligt war. Zwei davon scheinen im Lauf der Jahre — ja, Jahrzehnte — engen Kontakt mit Brazil gehabt zu haben, so da? sie als seine Freunde gelten durfen. Aber nur einer ist Besitzer eines eigenen Schiffes; die anderen arbeiten fur Reedereien. Ich war schon fruher darauf gesto?en, verwarf den Mann aber, weil er zu den Chassidim gehort — der strengsten Sekte oder Abart des Judaismus, deren Mitglieder sich an starre Vorschriften fur Kleidung, Essen, religiose Formen und Verhaltensweisen halten mussen. Die Chassidim existieren in einer modernen Welt, ohne Kompromisse zu schlie?en, und bleiben bei ihren Jahrtausende alten Gesetzen. Ich hatte nicht damit gerechnet, Brazil in einer solchen Rolle zu finden, weil er ganz offensichtlich nur wenige dieser Vorschriften beachtet hat. Au?erdem ist der bewu?te Rabbi alt; er hat bereits zwei Verjungungen hinter sich und ist gro?er und dicker als Brazil, mit wei?em Vollbart. Aber heute eingegangene Daten uberzeugen mich von der Logik des Ganzen.«

»Ich kann zwar einsehen, da? das eine leicht anzulegende Maske ware«, sagte Mavra, »aber daruber hinaus?«

»Nun, ich konnte fur einen Zeitraum von drei Jahrzehnten die Flugroutenbeschreibungen vom Schiff dieses Mannes und Brazils ›Stehekin‹ rekonstruieren. Sie waren entsetzt, wenn Sie sahen, wie oft ihre Wege ubereinstimmen — und man darf nicht vergessen, da? sie beide Eigner ihrer Schiffe sind, so da? sie nicht gehalten waren, sich einem Routenchef zu unterwerfen. Ihre Nebenausfluge interessierten mich besonders. Sie besuchten in einem Zeitraum von zwei bis drei Jahren praktisch jede streng judische Gemeinschaft. Wahrend der zwanzig Jahre vor Brazils Verschwinden hatten sie bei der einen oder anderen Gemeinde gemeinsam die hochsten judischen Feiertage mitgefeiert. Sie kannten einander uber sehr lange Zeit hinweg sehr gut.«

»Aber scheidet er damit nicht aus? War es nicht Brazils Arbeitsmethode, an die Stelle eines jungen Mannes zu treten?«

»Das hier ist genausogut. Ein alter Mann, der alle seine Zeitgenossen uberlebt hat. Ein Frachterkapitan von hohem Ruf und bekanntem Namen. Aber wichtiger noch ist, da? Brazil und dieser Mann sich ungefahr sechs Monate vor Brazils Verschwinden auf einem kleinen Planeten trafen. Unser Mann war alt, er hatte medizinische Probleme, seine Untersuchung stand bevor, und ohne Verjungung konnte er praktisch nicht durchkommen — die medizinischen Unterlagen zeigten indessen an, da? er eine weitere Verjungung einfach nicht auszuhalten vermochte. Vier Monate danach kam er jedoch mit fliegenden Fahnen ohne Verjungung durch eine vollstandige Untersuchung!«

»Vier Monate?«sagte Mavra verwirrt. »Du hast doch gesagt, sie hatten sich sechs Monate vorher getroffen.«

»Sicher! Verstehen Sie denn nicht? Damals tauschten sie die Identitat. Brazil nutzte die verbleibende Zeit, um den Rest dessen zu beschaffen, was er brauchte, um diesen Mann glaubhaft darzustellen, dann wurde er zu ihm, wahrend der alte Rabbi als Brazil mit der ›Stehekin‹ davonflog — als ein Brazil demnach, der seine eigene Untersuchung erst ein Jahr zuvor bestanden hatte und die nachste erst in drei Jahren uber sich ergehen lassen mu?te.«

»Mu? denn nicht jemandem aufgefallen sein, da? Brazil sich in einen alten Mann verwandelt hatte?«fragte sie.

»Gewi?. Wenn man ihn gesehen hat. Falls er aber Hafen bediente, wo man ihn nicht kannte, und wenn er in seinem Schiff blieb, entstand gar kein Ratsel. Die ›Stehekin‹ nahm wahrend dieser Zeit keine Passagiere auf, beforderte jedoch Fracht. Zwei Monate nach dem Tausch wird fur einen ›Uberfall‹ gesorgt. Brazil kommt um. Fertig.«

»Und was ist aus dem Mann geworden, den er ersetzt hat? Ist er gestorben oder was sonst?«

»Mag sein. Das kommt darauf an. Uberlegen Sie, was Brazil ihm bieten konnte. Ein alter Mann, der uberall gewesen war und alles gesehen hatte, dem man Lebensunterhalt und Lebensfreude wegnehmen wollte — man mu? den Weltraum lieben, wenn man zweihundert Jahre darin arbeitet —, mit der Aussicht, bald zu sterben. Was Brazil ihm bieten konnte, war ein neues Leben in einem neuen Korper, eine Wiedergeburt, neue Erlebnisse und neue Abenteuer!«

Mavra schalt sich eine Narrin.

»Naturlich! Markovier-Tore gibt es uberall! Brazil hatte ihm erklaren konnen, wie man sie benutzt, ihn vielleicht sogar zu einem davon fuhren konnen. Er ist auf die Schacht-Welt gegangen!«Obie lachte leise.

»Mochte wissen, was er jetzt fur ein Wesen ist. Ich wurde zu gern sehen, wie es ihm gelingt, koscher zu leben.«

»Was?«

»Lassen Sie nur. Nicht wichtig. Ich bin uberzeugt davon, da? Nathan Brazil jetzt Rabbi David Korf ist, Kapitan des Fracht-Raumschiffs ›Jerusalem‹.«

»Dann brauchen wir nur noch herauszufinden, auf welchem Planeten die ›Jerusalem‹ als nachstes landet, und sie dort erwarten!«sagte Mavra erregt.

»So sieht es aus«, bestatigte Obie. »Bis auf einen Punkt. Nach dem Tausch wechselte Korf sein Arbeitsgebiet total — wohl, um die Gefahr, Leuten zu begegnen, die den richtigen Korf genau kannten, moglichst geringzuhalten. Der Haken bei der Sache ist, da? er ein vollig unabhangiger Mann ist. Es konnte Jahre dauern, bis die Dokumente, die fur einen solchen unabhangigen Unternehmer belangvoll sind, eingereicht werden. Ich habe alles uberpruft, finde aber nach einem Zeitpunkt von ungefahr vor sechs Jahren keinen Hinweis darauf, da? die ›Jerusalem‹ je einen Beforderungsvertrag abgeschlossen oder in unserer kleinen Ecke des Weltraums irgendeine Fracht befordert hatte. Brazil hat nicht nur seine Nummer mit dem Verschwinden abgezogen, diesmal scheint er auch sein Raumschiff mitgenommen zu haben.«

Dem Lizenzierungsamt zufolge war Rabbi Korf in der Tat zuruckgekehrt und hatte seine Lizenz erst ein Jahr zuvor erneuert. Das war ratselhafter als ein volliges Untertauchen. Die letzte Erneuerung zeigte an, da? Korf und die ›Jerusalem‹ noch Dienst taten und sogar einer Neubewertung bedurften. Aber wo? Und fur wen? Es gab keine Angaben daruber.

»Streng privat, vielleicht?«meinte Marva. »Etwa illegal?«

Marquoz, der kurz vor den anderen erschienen war, zeigte sich skeptisch.

»Wenn so illegal, warum dann die Erneuerung, die Bestatigung seiner Identitat? Wenn nicht, dann braucht er die Tarnung — also ging es auch um legale Geschafte. Nein, ich glaube, er transportiert noch immer ganz offen und legal Fracht zwischen Kom-Welten.«

»Ausgeschlossen«, sagte Obie. »Wir haben alle Welten im Auge, wie Ihnen die Leute von der Gemeinde bestatigen werden.«

Marquoz legte den Reptilkopf auf die Seite und lachelte spottisch.

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