Mavra, noch immer eine Rhone, war eher von Angst beherrscht. Es war diesmal sonderbar, auf irgendeine Weise anders gewesen, zur Nautilus transportiert zu werden — und Obie hatte sie nicht zuruckverwandelt. Das war schlecht.

»Obie?«rief sie zogernd. »Obie! Alles in Ordnung mit dir?«

»Ich bin hier, Mavra«, sagte die Computerstimme an ihrem gewohnten Ort mitten in der Luft. »Ich — ich bin verletzt. Anders kann ich das nicht beschreiben.«

»Was ist passiert?«fragte sie besorgt. »War es…?«Sie warf einen Blick auf Brazil, der lassig vom Piedestal stieg und herumging.

»Nur ein wenig«, erwiderte Obie. »Ich — ich hatte ihn als einheitliche Struktur und hatte ihn muhelos transportieren konnen, aber ich versuchte eine volle Zerlegung und Aufzeichnung. Das ging nicht, Mavra. Es — nun, das rief Kurzschlusse in meinen Schaltungen hervor. Ich wurde nicht fertig damit. Normalerweise ware ich fahig abzuschalten, aber es ist der verdammte Ri?, Mavra! Ich kann mich nicht so schnell bewegen oder denken wie vorher. Je weiter der Ri? wird, desto mehr verliere ich von mir.«

»Wenn du nicht so hochnasig tun wurdest, hatte ich dich davor warnen konnen«, sagte Brazil mit geringem Mitgefuhl.

»Jedesmal, wenn du jemanden zerlegst, um ihn auf deinen kleinen elektronischen Objekttragern zu speichern, bringst du ihn im Grunde um und belebst ihn nach Plan wieder. Der Schacht la?t nicht zu, da? du mich totest, und mein Wesenskern gehort, wie ich schon gesagt habe, nicht dem markovischen Universum an. Du hast keinen Schlussel dafur, den Unterschied in der Mathematik zu bewaltigen.«

»Obie, wie stark bist du beschadigt?«fragte Mavra angstvoll. »Kannst du noch arbeiten?«

»Muhsam«, sagte er. »Ich glaube, ich kann den Schaden eindammen, indem ich diese Teile einfach nicht benutze — aber das hei?t, da? ich in dem, was ich tue, sehr eingeschrankt bin. Ich werde jetzt, solange wir dem Ri? so nah sind, sehr vorsichtig sein mussen.«

»Warum fliegen wir dann nicht davon? Warum marterst du dich so?«

Es blieb einen Augenblick still, dann sagte Obie nur:»Fragen Sie ihn, Mavra.«

Sie drehte sich um und sah Brazil mit hochgezogenen Brauen an.

»Nun?«

Brazil, der bei seinem Rundgang auf dem Balkon angelangt war, blieb stehen und schaute zu ihr hinunter.

»Er hat einen Martyrerkomplex«, sagte er. »Schlie?lich rechnet er damit, da? er mich dazu uberreden wird, sonst mussen wir ohnehin alle sterben, er eingeschlossen.«

»Ich werde Sie uberzeugen«, versprach Obie.

Brazil lachelte und legte den Kopf schief.

»Das bezweifle ich.«Er schaute sich um. »Wie kommt man nach oben? Mich interessiert das hier.«

Eine Tur hinter ihm glitt zur Seite und zeigte die Brucke auf der anderen Seite des Hauptschachtes. Er drehte sich um, nickte zufrieden und schlenderte hindurch. Die Tur ging hinter ihm zu.

»Er ist ganz anders, als ich dachte«, meinte Mavra.

»Sehen Sie ihn nicht so streng«, sagte der Computer. »Innerlich qualt er sich zu Tode. Lassen Sie sich nicht tauschen. Das treibt ihn zum Wahnsinn. Mochten Sie vor der Wahl stehen, die Leute, die Sie ihr eigen nennen, vernichtet zu sehen, oder alle Rassen im Universum zu toten, nur um eine Maschine zu reparieren? Ich beneide ihn nicht — ich mochte selbst nicht vor der Entscheidung stehen.«

Sie seufzte.

»Also gut, ich will versuchen, freundlich zu sein — aber er macht es einem nicht leicht. Anfangs, auf Meouit, mochte ich ihn. Er war wirklich brillant, ein Profi. Aber jetzt — er ist so kalt, so gefuhllos, so unertraglich leichtfertig. Es ist ganz so, als wollte er Distanz zwischen sich und uns.«

»Das will er«, sagte Obie. »Er ist sehr menschlich, wissen Sie. Man kann ihm korperlich und seelisch weh tun. Konnen Sie sich vorstellen, seit dem Beginn der Zeit am Leben zu sein, die meiste Zeit als Mensch, alles, was man liebt, vor einem dahinwelken und sterben zu sehen, wahrend man selbst weitermacht? Er mu? hart sein, Mavra. Das ist die einzige Moglichkeit, den Schmerz zu bewaltigen. Ihre Vorfahrin, deren eine Erscheinungsform Sie jetzt zeigen, war jemand, der ihm sehr viel bedeutet hat. Jemand, den er geliebt hat, glaube ich. Und als am Ende seine wahre Natur offenbar wurde — wie ich es Ihnen gezeigt habe —, war selbst sie so verangstigt und abgesto?en, da? sie auf ihn feuerte. Haben Sie Mitleid mit ihm, Mavra. Er ist in der Holle, und es gibt keinen Ausweg fur ihn.«

Sie lachelte schwach. Sie war ihr ganzes Leben lang selbst oft schwer verletzt worden und hatte Wunden davongetragen, die niemals heilten. Sie fragte sich, ob sie fur andere ebenso wirken mochte, wie Brazil auf sie wirkte. Es war kein Gedanke, bei dem man verweilte; er kam der Wahrheit zu nah.

»Weil wir gerade von meiner Vorfahrin sprechen«, sagte sie, um schnell das Thema zu wechseln, »soll ich weiter so aussehen wie sie?«

Obie schwieg kurze Zeit, als uberlege er, dann sagte er:»Ja, eine Weile noch. Ich glaube, Ihr Aussehen ist fur ihn eine Art Anker, eine emotionelle Krucke. Wollen Sie mir darin vertrauen?«

»Also gut, ich mache noch eine Weile mit«, sagte sie zustimmend. »Aber du solltest an der Oberflache lieber meine Wohnung umbauen und mir ein Badezimmer konstruieren lassen.«

Obie lachte.

»Gut, das mache ich. Ich gebe Anweisungen und Einzelheiten jetzt durch. Es wird nicht fur lange sein«, versprach er.

Sie lachte mit und wurde wieder ernst.

»Obie? Was ist, wenn wir ihn nicht uberzeugen konnen? Was dann? Transportierst du ihn hin und zwingst ihn dazu? Oder kannst du das nicht tun?«

»Ich konnte es tun«, gab der Computer zu. »Ich konnte bei ihm vieles von dem tun, was ich bei gewohnlichen Leuten kann. Der Haken dabei ist nur, da? er sich au?erhalb der markovischen Gleichungen befindet, innerhalb derer wir alle stehen, sobald er in den Kontrollkomplex des Schachtes der Seelen tritt. Er wird, wie damals, zu seiner markovischen Erscheinung zuruckkehren — und von jedem Zwang frei sein. Ich kann ihn hinbefordern, aber im Schachtinneren kann ich ihn zu nichts zwingen. Nein, er wird es einsehen. Er hat, glaube ich, ein Pflichtgefuhl, wenn es mir gelingt, ihn vom Ernst des Problems zu uberzeugen.«

Sie ging auf die Treppe zu, blieb stehen und drehte sich um.

»Obie?«

»Ja, Mavra?«

»Angenommen, er tut es? Was geschieht dann mit uns?«

Es blieb lange Zeit still, bevor der Computer antwortete.

»Unsere eigenen Leute werden auf der Schacht-Welt sein, wenn das geschieht — Sie eingeschlossen. Es wird hart hergehen, und ich mochte keine Fehler erleben. Da im Gegensatz zum Rest unseres Universums die Schacht-Welt nicht an den Computer im Schacht der Seelen angeschlossen ist, sondern an ihr eigenes Minisystem, das jetzt keinen Schaden aufweist, werden Sie und jeder andere, der durch den Schacht gegangen ist, uberleben.«

Plotzlich fiel ihr Brazils Bemerkung uber die Martyrer ein.

»Und du, Obie? Du kannst nicht auf die Schacht-Welt gehen.«

»Ich bin nach einem historischen Schema, das in der markovischen Raum-Zeit entwickelt wurde, in eben diesem Universum gebaut worden«, sagte Obie bedachtig. »Das hei?t, ich existiere, weil alles andere existiert. Wenn es das nicht tut — nun, wenn er das Ding abschaltet, wird es nicht so sein, da? unser Universum zu existieren aufhort. Unser Universum und jedermann darin, jeder, der je gelebt hat, jede Absicht, jedes gro?e und kleine Ereignis, jede gro?e Idee und gro?ere Schurkerei — sie werden in allen Dimensionen ausgeloscht. Sie werden nicht nur aufhoren zu sein, es wird sie nie gegeben haben. Nur die Schacht-Welt und die sterbenden Sonnen und toten Planeten der uralten Markovier werden bleiben. Sie werden die einzige Wirklichkeit sein.«

»Dann wirst du sterben.«

»Ich werde nicht einmal gewesen sein. Ich werde nicht einmal existieren, au?er in den Gehirnen jener, die mich kannten und die auf der Schacht-Welt sind.«

Sie spurte, wie ihr die Tranen in die Augen stiegen, und sie wischte sie weg, verlegen, weil sie ihre Gefuhle zeigte, aber doch nicht in der Lage, sich ganz zu beherrschen.

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