Er sah dem Mann in die Augen.

»Ich habe sie in meinem ganzen Leben nie zuvor gesehen«, antwortete er in fehlerlosem Latein.

»Warum hast du dann fur sie gekampft?«fragte ein anderer verwirrt.

»Die Kinder des Herrn uber Israel sollten nicht von Hollenbrut geschandet werden.«

»Genug davon! Du bist ein tapferer Mann, aber ein Narr«, sagte der Zenturio. »Wir werden dich toten, damit die Sache ein Ende hat.«

»Ich wurde mir wahrlich wunschen, da? Ihr das konnt.«

Der Romer zog sein Schwert und zogerte eine Sekunde. Bevor er den todlichen Streich fuhrte, sah er ihm in die Augen.

Vier knallende Gerausche hallten wieder, gefolgt von einem wapp! wapp! wapp! wapp! Die Romer standen einen Augenblick da und blickten verwirrt, dann sturzten sie zu Boden. Aus ihren Rucken ragten Pfeile.

Vier Manner traten aus dem nahen Gestrauch. Alles Hebraer, das sah er sofort, alle mit Bogen. Einer war ein alterer Mann; nach ihrem Aussehen mu?ten die anderen seine Sohne sein. Zwei von den Sohnen untersuchten die Leichen der toten Hebraer, wahrend der dritte Sohn mit einem Schwert dafur sorgte, da? die Romer fur immer am Boden liegen wurden. Der alte Mann kam heran, zog ein kleines, gebogenes Messer aus dem Gurtel und durchschnitt die Fesseln. Er brach beinahe zusammen, als das Blut in seine Glieder zuruckkehrte. Der alte Mann war stark und fing ihn auf, bevor er ihn vorsichtig zu Boden gleiten lie?.

»Du hast Schreckliches durchlitten«, sagte der altere Mann freundlich auf hebraisch.

Er nickte.

»Es waren einfach zu viele«, erwiderte er in derselben Sprache.

»Wir waren ein Stuck zu weit weg«, gab der alte Mann zuruck. Er seufzte. »Wir horten die Schreie, kamen aber zu spat und waren vielleicht zu vorsichtig.«Er warf einen Blick auf die toten Romer. »Es ist nur Rache«, murmelte er, wie zu sich selbst, »aber dafur erscheint es einfach nicht ausreichend.«Er sah den Befreiten an. »Hast du Verwandte, zu denen man dich bringen kann?«

Er schuttelte den Kopf.

»Alles, was ich hatte, liegt dort«, murmelte er. »Ich bin wieder allein auf der Welt.«

»Du bist jung und tapfer und geschickt«, sagte der alte Mann. »Du verdienst eine neue Chance. Komm! Ich bin ein Mann von Vermogen. Ich bin Mattathias, der Sohn von Johannes, ein Priester der Sohne Joaribs, jetzt von Modin. Das sind meine Sohne — Joannan Caddis, Simon Thassi, Eleasar Avaran und Jonathan Apphus auf den romischen Listen.«

»Mein Name und meine Familie sind mit ihnen gestorben«, sagte er traurig. »Ich bin mit ihnen gestorben.«

»Dann sollst du mein Sohn sein«, erklarte Mattathias. »Du sollst der Sohn werden, der ihr altester Bruder war, aber vor so langer Zeit in der Wildnis starb.«Er wandte sich an seine Sohne. »Was sagt Ihr?«

»Er ist ein tapferer Mann, der viel verloren hat«, sagte einer. »Und sein Geist und sein Glaube werden in diesen schwierigen Zeiten sehr gebraucht.«Die anderen nickten.

»Jeder Krieger, von so kleinem Wuchs wie du, der romische Panzer durchdringen kann, tragt gro?e Leidenschaft und die Salbung durch den Herrn in sich«, sagte ein anderer.

»Dann ist es abgemacht«, erklarte Mattathias zufrieden. »Du bist fur mich wie ein Sohn. Willkommen in meinem Stamm und meinem Haus. Hinfort sollst du Judas Makkabaus hei?en, mein verlorener Sohn, der in diesen Zeiten der Prufung zu mir zuruckgekehrt ist.«

Und sie knieten nieder und beteten gemeinsam darum, da? der Herr, Gott von Israel, dies annehme und es in der Tat SEIN Wille sei. Und als sie fertig waren, sah er zu ihnen allen auf und sagte:»Vielleicht konnten wir mit eurem Glauben und eurer Vaterlandsliebe den machtigen Antiochus selbst uberwinden!«

* * *

Nathan Brazil wurde wach.

Sein Kopf fuhlte sich an, als wolle er platzen; er konnte nur stohnen, und die Mediziner kamen mit Schmerzmitteln, um ihm zu helfen. Er konnte endlich die Augen zusammenfuhren und versuchte, sich aufzusetzen. Mit leisem Achzen sank er wieder zuruck.

»Na, ich sehe, die ganze Bande ist da«, murmelte er.

»Wie fuhlen Sie sich?«fragte Mavra besorgt.

Er lachte muhsam.

»Na ja, wie jeder, der mitten in einer Explosion gestanden hat, sich einen Tag spater fuhlt.«

»Was ist dort… drinnen mit Ihnen geschehen?«fragte Marquoz. »Erinnern Sie sich an etwas?«

Brazil schnitt eine Grimasse, nicht vor Schmerzen, sondern weil er sich erinnerte.

»Wollte Gott, es ware nicht so! Obie hat wirklich keine Witze gemacht — der menschliche Geist ist ein Land der Phantasie, dazu bestimmt, sich zu tauschen, indem er jeweils den Standpunkt einnimmt, mit dem am leichtesten zu leben ist. Konnt ihr euch vorstellen, da? ihr plotzlich euch selbst gegenubersteht — eurem wahren Ich — ohne euch irgendwo verstecken zu konnen? Selbst Obie begreift nicht, was er mir Entsetzliches angetan hat, die grauenhafte Qual, die er mir zugefugt hat. Ich glaube nicht, da? er es hatte tun konnen, wenn er es gewu?t hatte. Ist euch klar, da? wir — alle wir Nicht-Maschinen — verruckt sind? Vollig wahnsinnig? Kein Wunder, da? die Markovier das Gefuhl hatten, Utopia nicht erreicht zu haben — sie schafften es wirklich nicht. Geistig mit ihren Ungeheuern von Computern verbunden, meine ich, mussen sie viel von dem mitgemacht haben, was mir zugesto?en ist. Sie waren gezwungen, sich selbst zu betrachten, ohne jeden Ausweg. Was fur eine schreckliche Enttauschung mu? das gewesen sein! Mein Gott! Kein Wunder! Das erklart alles: den Schacht, warum sie ihr gro?es Experiment anstellten, weshalb sie so bereitwillig Selbstmord begingen — und warum sie auch diesmal scheiterten. Wir — wir alle — nach ihrem Bild erschaffen, ja, aber auch Spiegelungen ihrer dunklen Seite. Mein Gott!«

»Aber sind Sie nicht dabeigewesen?«fragte Mavra verwirrt. »Sie sind doch ein Markovier — oder nicht?«

Er lachte trocken, dann stohnte er ein wenig, weil es weh tat.

»Nein, kein Markovier. Etwas… anderes. Keine Sorge. Ich kann ihre hubsche Maschine reparieren.«Dann verfiel er wieder in einen Monolog. »Mein Gott! Kein Wunder, da? der Schacht kein Bewu?tsein seiner selbst hat. Das hatten sie nicht ausgehalten…«

»Obie — ist Obie tot?«fragte Mavra angstvoll.

»Ich — ich wei? nicht. Ich glaube nicht. Nein, ich bin sicher, da? er nicht tot ist. Aber er ist — nun, jetzt kann er uns nicht helfen, vielleicht nicht auf absehbare Zukunft. Sehen Sie, fur Obie ist das ganze Universum und alles in ihm streng logisch und mathematisch. Das ist es, was wir fur ihn sind, Reihen von Zahlen, Beziehungen, die aufgehen. Ich gehe nicht auf. Ich bin nicht Teil irgendeiner Mathematik, die er versteht, und er besitzt nicht den Schlussel, um meine ›Formel‹ zu verstehen, ist dazu getrieben, mich aufzunehmen, und dazu braucht er den Schlussel. Aber den kann er nicht bekommen, bis er mich aufnimmt. Er mu? das Problem losen und kann es nicht losen, bis er es gelost hat. Er sitzt fest. In gewisser Weise konnte man wohl sagen, da? ich ihn zum Wahnsinn getrieben habe.«

»Und Sie?«warf Marquoz ein. »Er glaubte, Sie konnten ihn zum Wahnsinn treiben, und trotzdem drohte er damit, Sie in die Vernunft zu treiben. Hat er es getan?«

Brazil lachte wieder leise in sich hinein.

»Der Geist ist widerstandsfahig, Marquoz. Ich bin vermutlich vernunftiger, als jedes andere Lebewesen es je gewesen ist, vermutlich vernunftiger, als die Markovier es nach ihrem geistigen Anschlu? an ihre Computer waren, und trotzdem bin ich ganz wahnsinnig und rutschte um so mehr in den Wahnsinn hinein, je mehr ich nachdenke. Wenn man vor dem Undenkbaren steht, zieht man sich zuruck, man schiebt es weg, in Winkel seines Gehirns, die man nicht erreichen kann.«

»Leider glaube ich, da? ich Sie verstehen kann«, erklarte der Chugach. »Au?er fur Sie ist dieser Happen Metaphysik indessen von geringem Belang. Die Frage, die auf dem Tisch liegt, ist schlicht die: Haben Sie Ihre Einstellung, was die Reparatur des Schachtes der Seelen betrifft, geandert?«

Nathan Brazil seufzte.

»Eine Nebenerscheinung des geistigen Anschlusses ist, da? man sich an Dinge erinnert, die man nie im

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