Gedachtnis haben wollte. Das Schlimmste dabei ist, je mehr man von diesen Erinnerungen hochzieht, desto mehr begreift man, wie sinnlos alles ist. Rom stieg empor, aber seine eigenen Methoden fuhrten dazu, da? das Reich von innen zerfiel. Ich frage mich, ob das nicht auch fur die Markovier gilt. Werden wir alles von vorne noch einmal machen, sogar wieder an eben diesen Punkt gelangen? Ist die ganze Sache ›Leben‹ dazu verurteilt, das Scheitern zu wiederholen, weil mit den Experimentatoren etwas nicht stimmt? Ich frage mich…«

»Aber werden Sie den Schacht reparieren?«drangte der kleine Drache.

Brazil nickte bedruckt.

»Ich werde, wenn es moglich ist, zum Schacht gehen. Ich werde eintreten und dastehen und das Problem analysieren. Aber ich werde nicht die Verantwortung dafur ubernehmen, so viele zu ermorden. Ich kann die Verantwortung nicht mehr ubernehmen.«Er drehte sich ein wenig zur Seite und sah sie an. Sein Blick richtete sich auf Mavra Tschang. Er deutete auf sie. »Sie werden die Verantwortung ubernehmen«, sagte er zu ihr. »Wenn ich im Schacht stehe, werden Sie dabei sein. Ich werde Sie bitten, mir den Befehl zu erteilen. Sie werden mich anweisen, dem Universum den Rest zu geben.«Er sank zuruck und verlor wieder das Bewu?tsein, aber die Instrumente zeigten diesmal an, da? das eher ein normaler Schlaf war.

Nautilus — Oberflache, spater an diesem Tag

Mavra Tschang ging im gro?en Empfangsraum, wo sie fast den ganzen Nachmittag und einen gro?en Teil des Abends verbracht hatte, mit grimmiger, unglucklicher Miene hin und her.

Marquoz watschelte um die Ecke, blieb stehen, gahnte und starrte sie einige Augenblicke an.

»Wissen Sie, Sie sollten sich wirklich ausruhen und einen Bissen essen. Sie durfen nicht mehr essen wie ein Vogel. Sie sind jetzt eine Rhone und brauchen sehr viel Energie.«

Mavra blieb stehen und sah ihn kurz an. Sie war mude und bleich; ihr Gesicht wirkte angespannt. Sie schien in den letzten Tagen zehn Jahre gealtert zu sein.

»Vielleicht haben Sie recht«, sagte sie heiser. »Ich wei? nicht — das liegt wohl an all den Vorkommnissen. Alles hat sich verandert. Obie ist fort, obwohl wir hier noch bequem auf ihm sitzen; das Universum geht zugrunde — haben Sie sich wirklich uberlegt, da? wir mit dem, was wir tun wollen, alles zerstoren, was wir kennen? Und ich, nun, ich sitze fest in einer Nachbildung des alten Schacht-Korpers meiner Vorfahrin, aber ich empfinde nicht wie eine Rhone. Wissen Sie, wie das ist, wenn man sich nach einem Roastbeef oder dergleichen sehnt und erkennt, da? man nur Laub und Gras verdauen kann?«

»Sie tun sich nur selbst leid«, erwiderte der kleine Drache. »Ich wei?, wie das ist — aber nach allem, was ich wei?, pa?t das nicht zu Ihnen. Ich habe gehort, da? Sie auf der Schacht-Welt in einen Kruppel ohne Hande verwandelt worden sind, und trotzdem haben Sie das uberwunden und Ortega und alle anderen bei ihrem eigenen Spiel geschlagen. Was hat Sie so verandert?«

Sie dachte nach.

»Ach, ich wei? nicht. Vielleicht werde ich alt. Vielleicht bin ich in den Jahren mit Obie einfach dick und behabig geworden.«

Zigeuner rausperte sich, und sie drehten sich um.

»Sie wissen, woran es liegt, wenn Sie es sich nur eingestehen«, sagte er.

Mavra sah ihn nur fragend an.

»Sie sind diesmal nicht der Chef«, sagte Zigeuner. »Sie fuhren nicht das Kommando, haben nicht einmal etwas zu sagen. Eine Rhone zu sein, hat Sie bei dem Entfuhrungsversuch nicht gestort, weil Sie da zu befehlen hatten. Aber das ist nicht mehr der Fall. Sie sind nicht einmal ein vollberechtigter Partner. Bei Obie waren sie es nur, wann und weil er es ihnen erlaubte. Jetzt liegt alles in den Handen eines kleinen Mannes, den Sie nicht einmal kennen. Selbst auf der Schacht-Welt hat man Sie allein gelassen; Sie waren Herrin Ihres eigenen Schicksals. Jetzt sind Sie es nicht mehr. Das nagt an Ihnen. Sie mussen immer der General sein oder sich das wenigstens einbilden konnen.«

Sie argerte sich, weil sie im Inneren wu?te, da? er recht hatte.

»Wer sind Sie, Zigeuner?«fragte sie. »Woher kommen Sie?«

Er lachelte.

»Ich konnte Ihnen einen langen Lebenslauf erzahlen, aber auch dann wu?ten Sie nicht, ob ich die Wahrheit sage. Was spielt das fur eine Rolle? Keiner von uns kennt die anderen wirklich. Nehmen Sie Marquoz. Weshalb verla?t ein Mann sein Volk, lebt und arbeitet vollig abgeschnitten von der Umwelt und der Kultur, in die er hineingeboren wurde? Ich bin der Mann, der an jedem schabigen Raumflughafen die Leute ausnahm, nie einen ubers Ohr haute, der das nicht insgeheim wollte, aber alle, die es darauf anlegten. Ich bin derjenige, der nicht pa?t, der Au?enseiter, der einen Weg zum Uberleben gefunden hat und das genie?t. Frachterkapitane sind ahnlich, glaube ich, ebenso Diebe und Geheimagenten und derlei Leute. Bei Marquoz bin ich mir nicht sicher, aber er ist ganz entschieden auch ein Au?enseiter. Sie sind es. Die Besatzung hier — mehr oder weniger sind es alle. Deshalb sind wir hier und die da drau?en.«Sein Ton wurde grimmig. »Deshalb uberleben wir — und die nicht.«

Es blieb lange still.

»Ich glaube, ich gehe hinaus und fresse den Rasen ab oder sonst etwas«, sagte Mavra schlie?lich. »Es wird langsam Zeit, da? wir an die Arbeit gehen.«

Als sie in die gro?e Halle zuruckkam, stie? sie auf Nathan Brazil. Die Schneiderwerkstatt hatte ein schwarzes Pulloverhemd und Shorts gefunden, die ihm pa?ten, und ein Paar Plastiksandalen dazu. Seine Haare waren kurzgeschoren, und er war glattrasiert, nicht gro?, hochstens 1,70 m, zierlich und mager, trotz kraftiger Schultern und starker, sehniger Arme.

Er sah sie an, nickte und lachelte schwach.

»Wie geht es, Urenkelin?«gru?te er leichthin.

»Ich lebe noch«, erwiderte sie kalt. Obie hatte in dieser Beziehung recht gehabt; sie waren einander zu ahnlich, um sich wohl zu fuhlen, wenn sie beieinander waren.

»Uberleben ist alles, wozu wir imstande sind«, gab er zuruck. »Ich habe eine kleine Sitzung anberaumt, die anderen werden gleich kommen. Der Mangel an Material behindert mich sehr. Alles steckte in Obie. Wann sind Sie auf der Schacht-Welt gewesen?«

»Vor uber siebenhundert Jahren«, erwiderte sie. »Wir haben dort gelegentlich ein wenig Ausschau gehalten, aber das war vor allem Obies Sache. Es ging ganz leicht. Zumeist horten wir nur Sendungen ab. Ortega und Doktor Zinder hatten beide Sender, die uns erreichen konnten, aber Obie benutzte sie nie. Wir waren von der Kom-Polizei angeblich zerstort worden. Obie fand, es sei fur alle besser, wenn man ihn fur tot hielt. Ich mag die Welt nicht, kannte Zinder kaum und bin Ortega nie begegnet — obwohl ich weniger Grund hatte, ihn zu mogen, als jeder andere.«

Brazil lachelte.

»Noch immer bose auf den alten Halunken? Ich dachte, Sie waren sich inzwischen klar daruber, da? Sie an seiner Stelle genau so mit ihm verfahren waren, wie er mit Ihnen. Ich wurde dem alten Knaben aber nie unterstellen, da? er ein Gewissen besitzt.«

»Sie kennen Ortega?«fragte sie erstaunt.

Er nickte.

»Gewi?. Hab’ schon allerhand mit ihm erlebt. Er war das letztemal auf der Schacht-Welt, als ich mich dort aufhielt — zuerst mein Empfangskomitee, spater dann mein Gegenspieler. Da hatte er schon tot sein sollen, aber auf irgendeine Weise mu? er uberlebt haben.«

»Irgendein magischer Zauber, wie ich horte. Aber er ist Gefangener in Zone, obwohl er dort das Kommando fuhrt.«

»Dann ist er sicher noch dort und hat noch mehr zu sagen«, stellte Brazil fest. »Das kann gut sein, oder es ist eine Katastrophe, und ich kann vorher nicht wissen, was. Verdammt! Das Schlimmste am Verlust von Obie ist, da? wir da vollig blind hineinfliegen. Ich werde von den Bedingungen auf der Schacht-Welt nichts wissen, bis ich dort bin. Ein echtes Kriegsspiel. Das habe ich nie gemocht.«

»Kriegsspiel?«

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