»Schach. Kennen Sie das Spiel? Nur sitzen die Gegenspieler Rucken an Rucken am Brett, und ein Schiedsrichter sagt einem, da? der Gegner einen zulassigen Zug getan hat. Aus den unzulassigen mu? man entnehmen, wo die Figuren des Gegners stehen. Und wir haben hier keinen Unparteiischen.«

»Das klingt ganz so, als mu?ten wir auf der Schacht-Welt wieder einen Krieg ausfechten«, sagte sie ein wenig verwirrt. »Ich bin nicht sicher, da? ich mich hier schon auskenne.«

»Vermutlich wird es so sein«, sagte er und hob den Kopf. »Da kommen die anderen drei. Wenn alle es sich bequem machen, will ich erklaren, worum es geht.«

* * *

»Zuerst wollen wir unsere eigene Lage genau festlegen«, begann Brazil. »Erstens mu? ich von einem Sechseck im Suden der sudlichen Halbkugel zu einer Avenue, einem Zugang zum Schacht der Seelen am Aquator. Der kurzeste Weg betragt uber viertausendneunhundert.«

»Aber warum so weit, wenn Sie entschuldigen?«unterbrach ihn Marquoz.

»Verstandliche Frage. Ich vergesse immer wieder, da? Sie davon nichts wissen konnen. Nur Mavra und ich sind je dort gewesen, also mu? ich aufs Wesentliche zuruck. Die Schacht-Welt ist eine Konstruktion. Sie wurde vor knapp uber zehn Milliarden Jahren geschaffen, von einer Rasse, die Sie als die Markovier kennen. Die Geschichte ist Ihnen bekannt — wir sto?en bei unserer Ausdehnung immer wieder auf die Uberreste ihrer toten Planeten. Stadte, ja, aber keinerlei kunstlich angefertigte Gegenstande. Keine Maschinen, keine verdorbene Nahrung, keine Kunstwerke, nicht einmal Topfereiwaren. Nichts. Der Grund ist ganz einfach. Die Markovier waren die erste Rasse, die sich aus dem Urknall, dem Beginn des Universums, entwickelte. Sie entwickelten sich in normalem Tempo, oder infolge der ortlichen Bedingungen vielleicht ein wenig schneller, und durchliefen die meisten Stadien, die unsere Volker durchgemacht haben. Bis das Universum knapp zweieinhalb Milliarden Jahre alt war — ich wei?, das hort sich nach einer langen Zeitspanne an, aber im kosmischen Ma?stab ist das nicht der Fall —, hatten sie sich ausgebreitet und praktisch jeden Winkel ihrer Ecke des Alls erforscht. Da sie das Ende der Ausbreitung erreicht hatten, wandten sie sich nach innen und entwickelten schlie?lich einen Computer, dem sie alle geistig angeschlossen waren. Sie entfernten die Kruste von jedem ihrer Planeten und ersetzten sie durch eine gegossene, quasi organische Substanz mit einer Dicke von zwei Kilometern — dem Computer —, dann programmierten sie ihn mit praktisch allem, was sie wu?ten. Sie schlossen sich mit ihren Gehirnen an und — peng! Eine Zivilisation ohne Bedurfnis fur irgend etwas Physisches. Sie brachten die alte Kruste uber dem Computer naturlich wieder an und bauten Stadte, mehr, um den korperlichen Raum, den Besitz jeder einzelnen Person zu umrei?en, als zu irgendwelchen nutzlichen Zwecken. Dann lehnten sie sich zuruck und ertraumten sich ihre Hauser — und der Computer schuf sie durch eine Umwandlung von Energie in Materie. Hunger? Stell dir einfach vor, was du mochtest, und der Computer serviert es dir. Kunst? Erschaffe in deinem Geist, was du willst, und der Computer macht es fur dich wahr. Keine Bedurfnisse, keine Erfordernisse, das vollkommene materialistische Utopia.«

»Hort sich fur mich sehr schon an, wenn auch ein wenig wie Zauberei«, warf Yua ein.

Brazil lachte leise.

»Zauberei? Zauberei ist, etwas zu tun, was der andere nicht kann. Wir konnen es noch nicht, also ist es Zauberei. Wenn wir lernen, wie es geht, und es begreifen, wird es Wissenschaft. Obie konnte es naturlich. Das entdeckte Gilgram Zinder, sein Erbauer — dieselben Grundlagen, nach denen die markovischen Computer arbeiteten. Obie war selbstverstandlich nur ein winziger, primitiver Prototyp, verglichen mit den markovischen Anlagen, aber innerhalb seiner Grenzen konnte er dasselbe leisten. Zinder war nicht der erste, der auf die markovische Geschichte stie?, nur der erste, der in der Lage war, eine Maschine zu bauen, welche die Umwandlungen bewerkstelligen konnte.«

»Aber die Markovier sind alle tot«, sagte Zigeuner.

»Ja, alle tot«, sagte Brazil. »Sie wurden langweilig, fett, faul und stagnierten. Meine neueste Theorie ist die, da? sie zuviel Zeit angeschlossen an ihre Computer verbrachten und dazu neigten, mit einem Teil ihrer Anlagen zu verschmelzen. Dies zwang sie, sich der Tatsache zu stellen, da? sie das Ende des Weges erreicht hatten, alles getan hatten, wozu sie imstande waren, an dem Punkt angelangt waren, zu dem alle Rassen streben — und da? dort nichts war. Keine Herausforderung. Nichts, worauf man sich freuen konnte. Da dieser Gedanke sich bei den Markoviern im ganzen Universum verbreitet und Wurzeln geschlagen zu haben scheint, und zwar innerhalb relativ kurzer Zeit, wird diese Computervorstellung zur logischen. Sie verbrachten sehr wenig Zeit damit, Gott zu spielen, so hat es den Anschein. Ein paar Generationen, nicht mehr. Und dann beschlossen sie gemeinsam, alles hinzuwerfen und von vorne anzufangen.«

»Klingt logisch«, sagte Mavra. »Aber warum Theorien aufstellen? Sind Sie denn nicht dabeigewesen?«

Brazil hustelte.

»Hm, ah, ja. Aber es — nun, es ist so lange her, da? meine Erinnerungen an diese Zeit praktisch nicht mehr vorhanden sind. Vieles beruht auf Neuentdeckungen. Haben Sie Geduld. Ich lebe schon schrecklich lange. Jedenfalls entschieden die Markovier, da? sie irgendwo einen falschen Weg beschritten hatten. Sie konnten sich nicht damit abfinden, da? das, was sie besa?en, alles war und fur alles ein Ende bedeutete, weil es alles Bemuhen, allen Fortschritt in ihren Augen witzlos erscheinen lie?. Das konnten sie nicht ertragen. Sie kamen zu dem Schlu?, da? sie es verpatzt hatten — und von neuem anfangen mu?ten. Das dazu gewahlte Mittel war eigenartig«, fuhr Brazil fort. »Sie konnten nicht das ganze Universum ausloschen, ohne sich mit zu beseitigen. So schufen sie einen Computergiganten, gro? wie ein Planet, einen, der von Hand gesteuert werden mu?te. Sie waren gro?e Wesen, die fur uns echten Ungeheuern gleichen wurden — wie riesengro?e, pulsierende, ledrige Menschenherzen, auf sechs langen Tentakeln mit Saugnapfen stehend. Sie waren jedoch insoweit unsere Vettern, als sie eine auf Kohlenstoff basierende Lebensform darstellten, deren Atmosphare, wenngleich von der unseren verschieden, dieser so nahekam, da? wir sie atmen konnten. Sie gossen nun eine Kruste uber diesen planetengro?en Computer, dieses Gro?gehirn, und teilten sie in funfzehnhundertsechzig sechseckige Biospharen auf. Da man eine Kugel nicht mit Sechsecken bedecken kann, teilten sie an den Polen gro?e Gebiete in Mini- Biospharen auf. Das sind Zone Nord und Zone Sud, die beiden Bereiche, wo die Wesen, die sie erfinden wollten, sich bequem versammeln und sich unterhalten, Handel treiben oder sonstwas tun konnten.«

»Wie kamen sie hinein und hinaus?«fragte Marquoz.

»Zone-Tore«, sagte Brazil. »Mitten in jedem Sechseck befindet sich ein Tor — es sieht aus wie ein gro?es, schwarzes Loch in Rechteckform. Es fuhrt jeden aus dem Sechseck zu der Zone, die dazu gehort. In Zone gibt es viele kleine Tore, die eine Person nach Hause bringen. Aber wahrend man sie in demselben Sinn, in dem Obie seine ganze Welt augenblicklich von einem Punkt zum anderen befordern konnte, als Materiesender betrachten kann, fuhren sie einen nur von der Heimat zu Zone und wieder zuruck. Fur allgemeine Beforderung sind sie nicht geeignet, obwohl sie unbelebte Gegenstande befordern konnen und damit fur den Handel taugen.«

»Und sind die Sechsecke abgedichtet?«fragte Yua fasziniert.

»Nein, nein«, sagte Brazil. »Die Barrieren sind aus reiner Energie. Aber davon wissen Sie schon einiges. Ich habe jedenfalls einen Fu?marsch von fast funftausend Kilometern vor mir, um den Aquator zu erreichen, der Nord und Sud trennt, damit ich zum Schacht der Seelen gelangen kann.«

»Der Schacht der Seelen«, wiederholte Marquoz. »Ein seltsamer Name.«

»Woher ›Schacht‹, wei? ich nicht«, sagte Brazil achselzuckend. »Das mit den ›Seelen‹ stimmt. In allem intelligenten Leben ist tief im Inneren irgend etwas, das man nicht quantifizieren kann, aber es fuhrt einen halben Schritt uber die Tiere hinaus. Wir nennen es Seele; darauf begrunden sich Religionen, und ich habe Beweise dafur, da? es die Seele gibt.«Er schwieg kurze Zeit.

»Mir ist auf der Schacht-Welt aufgefallen, da? viele Rassen auf der sudlichen Halbkugel zumindest von fern vertraut waren«, meinte Mavra schlie?lich. »Einige, naturlich nicht alle. Es gab gro?e, biberahnliche Wesen, die es meinem damaligen Freund Renard zufolge in der menschlichen Mythologie gegeben hat. Zentauren seien da vorgekommen, sagte er, und geflugelte Pferde, sogar Agitar — ziegenbockahnliche, gottartige Wesen. Ich bin mir nie klargeworden, wieso.«

»Bis Sie hinkamen und man beim letzten der Rasse war, hatte man auch das Ende der Phantasie erreicht«, sagte Brazil. »Deshalb stahl man Ideen von den Tieren und Pflanzen anderer Sechsecke. Es gibt eben viele Ahnlichkeiten. Der Schacht sorgte schon dafur, da? sie sich einigerma?en unterschieden und au?erhalb ihrer eigenen Sechsecke nicht fortpflanzen konnten. Das gilt ubrigens auch fur die meisten Mikroorganismen, so da? es auch keine weitverbreiteten Seuchen gibt.«Wieder blickte er versonnen vor sich hin.

»Der Schacht erkennt Sie«, sagte Mavra nach einiger Zeit. »Warum lassen Sie sich von ihm nicht einfach

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