wirklich zu lange leben, Doktor, vor allem dann, wenn man sich nicht zu verandern vermag.«
Zinder dachte daruber nach.
»Ob er sich toten wird? Er hat es selbst gesagt, sehr oft sogar. Er sagte, es sei das einzige, was er wirklich tun mochte. Ich glaube, das ist der Grund, warum Mavra Tschang dabei ist — damit sie die Stafette ubernehmen kann. Sie wird hineingehen und lernen, wie der Schacht funktioniert; er wird auf sie eingestellt werden. Sobald das geschehen ist, kann er mit reinem Gewissen sterben. Es wird jemand da sein, der die Wahrheit bewacht, und statt des Ewigen Juden werden die neuen Menschen die ratselhafte, unsterbliche Frau haben.«
»Was fur ein grauenhaftes Schicksal«, sagte Ortega seufzend.
»Aber es geschieht aus ihrem freien Willen«, erklarte Zinder. »Wenn sie ihn auffordert, die Maschine abzuschalten, ubernimmt sie die volle Verantwortung fur alle Folgen. Wenn sie herauskommt, wird sie das einzige Wesen sein, das noch auf der Gegenwart beruht, statt auf der neuen Mathematik. Man wird sie nicht toten oder verandern konnen, und sie wird so bleiben, bis sie an eine weisere Rasse der Zukunft ubergeben kann, falls diese je entsteht, die erneut die Gleichungen des Schachtes entdeckt und damit etwas anderes unternimmt, als sich zu vernichten. Wenn sie sich doch vernichtet, vielleicht in Milliarden Jahren von jetzt an, wird sie die Aufgabe haben, alles wieder neu zu erschaffen und zu diesem Zeitpunkt vielleicht selbst die Stafette weiterzugeben.«
Sie dachten daruber nach, dachten an die Einsamkeit, das ziellose Umherstreifen, ohne Veranderung, ohne Ende. Eine Zeitlang wurde sie es naturlich genie?en, wie das bei Brazil der Fall gewesen sein mu?te, wie bei Ortega in seiner begrenzteren, aber nicht weniger druckenden Selbstverbannung. Aber schlie?lich wurde sie zu dem Punkt gelangen, an dem sie zu lange gelebt hatte, und sie wurde es wissen.
»Ich glaube nicht, da? sie erkennt, was fur einen Teufelspakt sie da schlie?t«, sagte Ortega traurig.
»Wei? das uberhaupt jemand?« sagte Zinder mit einem Achselzucken. »Und konnen wir zuruckgehen und alle noch einmal von vorn beginnen? Kann ich den Schaden fur das Universum ungeschehen machen? Fur den Schacht? Nein, ich glaube nicht. Sowenig, wie Sie irgendeinen Ihrer entscheidenden Entschlusse zurucknehmen konnen.« Er schwieg kurze Zeit. »Ich gehe jetzt besser. Yua mu? unterrichtet werden — und ich mochte zuruck sein, bis es hell wird.«
Serge Ortega streckte die Hand aus, und Zinder ergriff sie.
»Also bis zum Morgengrauen, Gilgram Zinder. Wir treffen uns unten am Kanal, ja?«
»Am Kanal«, bestatigte der andere. »Aber nicht Doktor Gilgram Zinder, nein, nicht mehr. Das meiste von ihm starb vor ungefahr neunhundert Jahren in Oolakash. Das wenige von ihm, das noch uberlebte, starb mit Nikki auf Olympus, und der Rest mit Obie auf ›Nautilus‹. Ich bin nur Zigeuner, Ortega. Das will ich sein, also bin ich es. Ich kann sein, wer und was ich will.«
»Warten Sie! Noch eines!« rief der Ulik. »Woher wissen wir, ob wir lange genug die Stellung gehalten haben? Konnen Sie mir das sagen?«
Zigeuner lachte.
»Wenn ich hier bin, wissen Sie es genau, und auf sehr plotzliche und schmutzige Art. Wenn nicht — falls Sie bis zur Nacht durchhalten konnen, und wenn die Nacht klar ist und Sie vom Himmel etwas sehen konnen, werden Sie sehen, wie die Sterne erloschen.«
»Aber das ist doch ausgeschlossen«, wandte Ortega ein. »Selbst wenn das Universum erlischt, wurde es Tausende von Jahren dauern, bis wir es erfahren.«
»Wenn er abschaltet«, sagte Zigeuner zu den beiden anderen, »wird das Universum nicht einfach aufhoren, zu bestehen. Es wird praktisch niemals existiert haben. Es wird diese Sterne und den Staub, der im Licht aufleuchtete, nie gegeben haben. Es wird nichts geben als das tote markovische Universum — und die Sechseck- Welt. Nichts sonst wird daneben existieren oder je existiert haben.«
Ein ernuchternder Gedanke.
»Noch eine letzte Frage«, sagte Marquoz. »Haben Sie Brazil gesagt, wer Sie sind?«
Zigeuner lachte.
»Nein. Er wollte es wissen, aber er wollte mir auch nicht verraten, warum ein markovischer Wachter ein judischer Rabbiner ist, also gleicht es sich wieder aus.« Er verschwand.
»Auch wahr«, sagte Ortega zu niemand Bestimmtem. Schlie?lich wandte er sich an Marquoz. »Wenn Sie schon hier sind, werden Sie das Kommando uber die Verion-Seite ubernehmen, hoffe ich.«
Marquoz nickte.
»Alles geregelt. Wenn ich soweit bin, fliegen sie mich hinuber.«
Zum zweitenmal in dieser Nacht streckte Ortega die Hand in einer freundschaftlichen Geste aus, und zum zweitenmal wurde sie in diesem Geist ergriffen.
»Wie bei Zigeuner«, sagte Ortega. »Wir treffen uns am Kanal.«
»Am Kanal«, wiederholte Marquoz. »Wir werden nur drei?ig Meter auseinander sein.«
»Die schwimmen wir«, sagte Ortega jovial.
Stromabwarts gab es eine heftige Explosion, weit entfernt noch, und Lichter flammten dort unten auf. Feuersalven losten sich automatisch, dann erlosch und verstummte alles wieder.
»Ich gehe lieber«, sagte der Hakazit, wahrend der Widerhall von Explosion und Schussen in der Schlucht noch zu horen war. Er drehte sich um, stutzte und drehte den Kopf.
»Wissen Sie was? Ware es nicht irre, wenn wir siegen wurden?«
Ortega lachte.
»Das wurde alles durcheinanderbringen.«
Marquoz stapfte in die Dunkelheit davon. Ortega blieb sitzen und starrte in die Schwarze, wartete und versuchte von Zeit zu Zeit einen Blick auf die verschleierten Sterne uber sich zu erhaschen.
Die Avenue, an der Aquatorbarriere
Serge Ortega hatte sein Wort gehalten. Obwohl sie an Kampfspuren und gelegentlich an Leichen vereinzelter Spaher vorbeikamen, hatten sie auf dem ganzen Weg keinen Widerstand gegen sich. Ein paarmal rutschten sie auf den Gerollfeldern fast ins Wasser, aber das war an Schwierigkeiten alles gewesen.
Mavra hatte die Aquatorbarriere nur aus dem Weltraum gesehen, und sie kam ihr, als sie nun vor ihr aufragte, weniger wie eine dunkle Mauer vor, als sie es aus der Ferne zu sein schien. Teilweise durchscheinend, ragte sie empor, so weit das Auge reichte, ein gigantischer Damm am Ende des Flusses, der hier nur ein Rinnsal war. Sie bemerkte, da? die Stelle, wo die Avenue an die Mauer gelangte, vollig trocken war; offenkundig war das einzige Wasser hier jenes, das an die ungeheure Barriere gelangte und dort herabtroff.
Sie sah aus wie eine riesige, nicht spiegelnde Glasscheibe, nicht besonders dick, und erstaunlich sauber und frei von allen Verschlei?erscheinungen. Nur hier, an der Mauer selbst, konnte man die eigentliche Avenue sehen — glanzend und glatt, wie die Barriere selbst. Wo sie auf die Mauer traf, gab es keine Fuge, keinen Spalt; die beiden gingen einfach ineinander uber.
Es war am zweiten Tag kurz vor Dunkelwerden, aber selbst Brazil konnte nicht auf der Stelle hineingelangen. Mit Hilfe des Gedemondaners sagte er:»Wir mussen bis Mitternacht Schachtzeit warten, das sind etwas mehr als sieben Stunden nach Sonnenuntergang. Das hei?t, wir setzen uns hin und warten ab.«
Mavra blickte die Schlucht hinauf.
»Ob sie wohl noch am Leben sind?« fragte sie.
»Ja«, war alles, was er darauf erwidern konnte. Er wollte es keinem verraten, am wenigsten Mavra, aber er war tief und aufrichtig beruhrt von dem Opfer, das diese Wesen von vielen Rassen, unter denen ihm manche jetzt viel bedeuteten, brachten. Der Krieg war eher eine Massenangelegenheit, etwas Abstraktes, und in einer Schlacht gab es viele Moglichkeiten. Man konnte siegen oder verlieren, am Leben bleiben oder sterben, aber eine Chance hatte man immer. Die anderen hatten keine, und sie wu?ten es, taten es aber doch, damit er hier stehen konnte.
Seine Gedanken kehrten wieder einmal zuruck zur Alten Erde, ganz besonders zu Masada. Er war nicht dabeigewesen, eigentlich gar nicht sehr nahe, aber die Geschichte des ungeheuren Opfers, das diese Menschen gebracht hatten, die wundersam lange Zeit, die sie durchgehalten, und am Ende ihre vollige Hingabe an die Sache, die den Tod vorschrieb statt der Ergebung in die Tyrannei, hatte ihn in Augenblicken der Trostlosigkeit und Niedergeschlagenheit erhoben. Wenn der Mensch eine solche Flamme in sich trug, gab es Hoffnung.