Zeit.«

Es kam mir zu Bewusstsein, dass die Leute rings um mich von ihren Arbeitsplatzen aufgeschaut hatten und mich anklagend anstarrten. Ich starrte wutend zuruck, und sie widmeten sich schnell wieder ihrer Arbeit. Ich stand still da, blickte finster drein und dachte fieberhaft nach. Dies war alles meine Schuld; ich hatte es nicht durchdacht. Als ich entdeckt hatte, dass die goldene Rustung der Familie von den gefangenen Seelen geopferter Kinder gespeist wurde, hatte ich keinen anderen Gedanken mehr gehabt, als dem ein Ende zu bereiten. Keinen Moment lang hatte ich innegehalten und berucksichtigt, dass ich damit anderer Leute Leben aufs Spiel setzte. Ich glaube zwar nicht, dass diese Erwagung mich aufgehalten hatte, aber ich hatte nicht nachgedacht. Und seitdem war ich zu sehr darin vertieft gewesen, das Herrenhaus zu leiten, als uber das gro?e Bild nachzudenken - dass die Welt auf Frontagenten angewiesen ist, um sie sicher zu halten, und dass die Agenten aufs Herrenhaus angewiesen sind.

»In Ordnung«, sagte ich zu Penny. »Lass die Order ergehen: Alle Frontagenten sollen nach Hause kommen!«

»Das konnte fur manche gefahrlich sein«, wandte Penny ein. »Au?er Sicht zu bleiben ist das Einzige, was sie am Leben halt.«

»Nun, dann sag ihnen, sie sollen nach bestem Ermessen handeln!«, sagte ich ungeduldig. »Aber wenn sie nicht ins Herrenhaus zuruckkommen, um sich auf Sicherheitsrisiken hin uberprufen zu lassen, werden sie bei der Vergabe der neuen Silbertorques nicht berucksichtigt. Sag ihnen, sie konnen die alten Schleichwege benutzen; ich genehmige die zusatzlichen Ausgaben.«

Ich ging zum Hauptoperationstisch hinuber, nahm ein Bundel der jungsten Berichte in die Hand und blatterte sie schnell durch. Rings um den Tisch erntete ich entrustete Blicke: Derartige Unterlagen waren ausschlie?lich fur die Augen der Matriarchin bestimmt. Alle wussten, dass ich Martha als Oberhaupt der Familie ersetzt hatte, aber eine Menge Leute hatten sich offensichtlich noch nicht daran gewohnt.

»Wo ist Truman?«, erkundigte ich mich schlie?lich. »Ich sehe hier nichts von ihm. Haben wir keine aktuellen Meldungen ubers Manifeste Schicksal? Sie mussen inzwischen doch mit der Neugruppierung beschaftigt sein, wieso sehe ich also hier nichts uber ihre neue Basis, ihr neues Operationszentrum? Kommt schon, Leute; ich wurde mich ja schon mit einer guten Schatzung zufriedengeben! Eine Organisation dieser Gro?e kann nicht wieder anlaufen, ohne alle moglichen verraterischen Spuren zu hinterlassen. Folgt dem Anfuhrer, folgt dem Geld, folgt den Threads in den Internetforen - aber findet sie! Sie konnen nicht einfach verschwunden sein!«

»Der Nachrichtendienst arbeitet daran«, sagte Penny ruhig. »Wir haben nicht vergessen, wie wir unsere Arbeit zu machen haben, nur weil du nicht hier warst und unser Handchen gehalten hast. Aber es deutet alles darauf hin, dass das Manifeste Schicksal in ein tiefes Loch gestiegen ist und es dann hinter sich zugezogen hat. Sie mogen geschwacht sein, nach dem, was du ihnen zugefugt hast, und das hast du auch gut gemacht, aber ihre Sicherheitsabteilung ist nach wie vor erstklassig. Und Truman, der war und ist ein Genie. Du hattest ihn toten sollen, als du die Gelegenheit dazu gehabt hast.«

»Diese Gelegenheit hatte ich nie«, brummte ich.

»Was meinst du, was er jetzt tun wird?«

»Schwer zu sagen. Er ist ein echter Fanatiker und engagierter Verfechter seiner Sache; er will die Welt so fuhren, wie sie seiner Ansicht nach gefuhrt werden sollte, und alle, die in dieses Bild nicht hineinpassen, werden eliminiert. In der Vergangenheit hat ihn die Null-Toleranz-Fraktion im Zaum gehalten. Nachdem die inzwischen die Zugel aus der Hand gegeben hat, wei? Gott allein, welche Graueltaten er jetzt plant.«

»Seine alte Basis unter dem U-Bahnnetz ist vollig verlassen«, sagte Penny. »Wir haben ein paar Leute dort, die sich umschauen, in der Hoffnung, etwas Brauchbares zutage zu fordern.«

»Augenblick mal!«, fiel ich ihr ins Wort. »Es gab nur zwei Frontagenten in London: mich und Matthew. Ich bin hier, und er ist tot - wen habt ihr also unter London rumrennen?«

»Freiwillige«, versetzte Penny. »Die Arbeit muss weitergehen, auch wenn du … sagen wir, abgelenkt bist. Nicht jeder will sich hier im Herrenhaus verstecken, bis du dazu kommst, neue Torques auszugeben. Manche von uns wissen immer noch uber Pflicht und Verantwortung Bescheid!«

»Halt mir keinen Vortrag!«, sagte ich. »Lass es einfach; dazu habe ich zu viel gesehen und getan. Aber du hast naturlich vollig recht: Die Arbeit hier muss wirklich weitergehen. Die Welt wird nicht stillstehen, nur weil wir gerade eine Krise in der Familie haben. Freiwillige, soso. Gut zu wissen, dass uns noch ein paar tapfere Seelen geblieben sind. Haben sie schon etwas Lohnendes ausgegraben?«

»Frag sie selbst«, antwortete Penny. »Wir haben einen direkten Videofeed eingerichtet. Vollig gesichert selbstverstandlich.«

»Oh, selbstverstandlich«, sagte ich. »In Ordnung, schalt mich zu!«

Penny nickte zur Kommunikationskonsole hin, und bemerkenswert schnell zeigten sich auf einem der gro?en Kontrollschirme Bilder eines dunklen, schattigen Raums, in dem hier und da im Schein hupfender Taschenlampenstrahlen Einzelheiten zu erkennen waren. Als Silhouetten erkennbare Gestalten bewegten sich ruckartig zwischen Reihen stummer Apparaturen. Es dauerte einen langen Moment, bis ich die normalerweise hellen, glanzenden Stahlkorridore des Hightech-Hauptquartiers des Manifesten Schicksals wiedererkannte. Samtliche elektrischen Lichter waren aus und alle Gerate abgeschaltet. Hier und da flatterten lose Papierblatter, zuruckgelassen in der Eile des Aufbruchs. Es war wie der Blick in eine vor Kurzem geoffnete Gruft in einer Ausgrabungsstatte im Tal der Konige. Eine schattenhafte Gestalt naherte sich der Kamera.

»Wurdet ihr bitte aufhoren, mir auf den Wecker zu gehen?«, sagte eine schroffe Stimme. »Wir werden uns mit euch in Verbindung setzen, wenn wir etwas haben, das es wert ist gemeldet zu werden. Der ganze Ort ist ein Saustall. Wir mussen uns vorsichtig bewegen, weil die Dreckskerle noch Zeit gefunden haben, einen ganzen Haufen versteckter Sprengladungen zuruckzulassen, bevor sie verduftet sind; Stolperdrahte und Granaten hauptsachlich. Ware uns ja egal, wenn wir unsere Torques hatten, aber so … Wir dringen augenblicklich tiefer ins Herz des Bunkers vor, aber es sieht so aus, als ob sie alles von Wert mitgenommen und den Rest demoliert hatten. Ein ortlich beschrankter EMP hat alle ihre Computer erledigt; wir werden fur alle Falle die Festplatten mit zuruckbringen, aber ich an eurer Stelle wurde die Hoffnungen nicht zu hoch schrauben. Ach ja, und wir haben auch noch ein paar Leichen gefunden. Ohne DNA-Proben zu nehmen, sind sie nicht mehr zu identifizieren - sieht aus, als hatten sie gerade eine letzte Falle aufstellen wollen, als sie ihnen plotzlich um die Ohren flog.

Das wars; Ende des Berichts. Bliebe nur noch anzumerken, dass es kalt ist und feucht und ich mir sicher bin, dass ich mir was einfangen werde. Jetzt geht weg und belastigt jemand anders; wir haben zu tun. Ich will, dass wir fertig werden und von hier verschwinden, bevor irgendeine andere Organisation auf die glorreiche Idee kommt, hier runterzukommen und nachzuschauen, ob sich nicht noch was Verwertbares finden lasst.«

»Hier ist Eddie Drood«, sagte ich.

»Tja, welch eine Freude. Betrachte mich als beeindruckt. Du wei?t nicht, wer ich bin, stimmt's?«

»Nein«, antwortete ich.

»Dann wollen wir's dabei belassen. Wir sind bald wieder zu Hause; setz schon mal das Teewasser auf.«

Und er beendete die Videoubertragung von seinem Ende aus. Alle sahen mich an, also achtete ich darauf, zu lacheln. »Ich wei? zwar nicht, wer er ist, aber sein Stil gefallt mir - erinnert mich an mich. Sorgt dafur, dass ich im dem Moment, wo er hier auftaucht, einen vollstandigen Bericht von ihm erhalte. In der Zwischenzeit arbeitet weiter daran, Trumans neue Operationsbasis aufzuspuren. Er muss etwas Fieses planen, um sich wieder zu etablieren, und ich will ein gutes Stuck im Voraus alles daruber wissen!«

»Siehst du?«, meinte Penny. »Du kannst doch so auftreten, als ob du das Sagen hattest, wenn du dich nur darauf konzentrierst!«

Alle Treffen meines Inneren Zirkels fanden im Sanktum statt, dem riesigen, freien Raum, der einst das verdammte Herz beherbergt hatte, bevor ich es zerstorte. Der Zirkel traf sich im Sanktum, weil das der einzige Ort im Herrenhaus war, wo ich sicher sein konnte, absolut ungestort zu sein. Das Sanktum war entworfen worden, um die gefahrlichen andersdimensionalen Ausstrahlungen des Herzens zu isolieren, und nichts konnte die machtigen Schilde des Sanktums durchdringen. Die andersdimensionale fremde Materie, die ich ins Herrenhaus gebracht hatte, nahm jetzt das Sanktum ein; sie manifestierte sich als warmes, zufriedenes, karmesinrotes Leuchten, das von einer einzigen silbernen Perle fremdartiger Materie ausging. Allein in dem Leuchten zu stehen, reichte schon, um sich gut zu fuhlen. Ruhig und entspannt und sicher, mit Leib und Denken und Seele. Genaugenommen fuhlte es sich so gut an, dass der Zutritt zum Sanktum streng hatte beschrankt werden mussen, aus Furcht, dass Leute

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