als ich ein Kind war. Ich kann mich vage erinnern, wie ich sie hier besucht habe. Aber es ist schwierig, sicher zu sein; Erinnerungen aus diesem Alter sind nie verlasslich. Meine Mutter und mein Vater waren nicht oft hier, musst du wissen: Als Frontagenten wohnten sie au?erhalb des Herrenhauses.«
»Und du durftest nicht bei ihnen leben?«, fragte Molly, wahrend sie sich aufsetzte und ihr Haupt gegen das Kopfbrett des Bettes lehnte.
»Nein. Alle Drood-Kinder werden hier gro?gezogen, in den Schlafsalen. Damit sie ordentlich ausgebildet und indoktriniert werden konnen. Die Loyalitat gilt der Familie, nicht unseren Eltern.«
»Harry wurde nicht hier gro?gezogen«, meinte Molly nachdenklich.
»Nein. Wodurch du eine Vorstellung davon bekommst, wie sehr die Matriarchin Onkel James' unerlaubte Heirat, und dann noch mit einer unpassenden Frau, missbilligte. Jeder andere ware fur vogelfrei erklart worden.«
»Ich mag die Mobel und die Einrichtung«, wechselte Molly taktvoll das Thema. »Alles hier drin ist antik, aber in hervorragendem Zustand. Hey, wenn es hier kein Dienstpersonal gibt, wer poliert dann das ganze Holz und Messing?«
»Wir wechseln uns ab, wenn wir jung sind«, sagte ich. »Charakterforderlich, wei?t du noch? Ich habe es gehasst. Ich kann mich noch daran erinnern, wie meine Hande starr vor Kalte wurden, wenn ich im tiefsten Winter drau?en Fenster geputzt habe, weil das Wasser im Eimer immer kalt wurde, ehe man fertig war. Und wie es war, mit vollig tauben Fingern zu versuchen, das Messing mit Duraglit zu schrubben, davon will ich gar nicht erst anfangen! Schei? auf die Charakterforderung. Alles, was es mich gelehrt hat, war, nie etwas aus Messing zu besitzen und immer daran zu denken, meinen Fensterputzern ein au?erst gro?zugiges Trinkgeld zu geben.«
»Lass nur alles raus, Eddie!«, ermunterte Molly mich. »Halt nichts zuruck!«
»Wenigstens spreche ich uber meine Vergangenheit!«, erwiderte ich spitz.
»Ach, wei?t du …«, sagte Molly. »Neues Thema. Mir gefallt der Fernseher. Das ist ein echt verdammt gro?er Breitbildfernseher! Widescreen und funf Lautsprecher fur Raumklang! Cool!«
»Fur die Familie nur das Beste«, antwortete ich. »Aber ich hatte nicht gedacht, dass du viel fernsiehst, in den Waldern.«
»Ich bin eine Hexe, keine Barbarin! Ich mag die Kochsendungen. Ich liebe das Perfekte Dinner. Ich nehme an, du schaust den SciFi-Kanal?«
»Nein«, sagte ich. »Ich lasse gern die Arbeit hinter mir, wenn ich mich entspannen will. Ich bevorzuge die Comedy-Kanale.«
Molly zog die Knie an die Brust und blickte mich nachdenklich an. »Was machen wir hier, Eddie? Warum verstecken wir uns in deinem Zimmer?«
»Tun wir gar nicht«, sagte ich. »Es ist nur … manchmal wird mir alles ein bisschen zu viel, und dann muss ich weg von allem. Ich habe es ubernommen, diese Familie zu fuhren, weil ich es musste. Aber ich wei? ja kaum, was ich da tue. Ich habe zehn Jahre lang allein gelebt und musste mir nie um jemand Gedanken machen au?er um mich selbst. Und jetzt habe ich all diese Menschen, die sich auf mich verlassen, die Antworten und Entscheidungen von mir erwarten, die den Rest ihres Lebens gestalten werden. Ich will sie nicht enttauschen.«
»Sie haben dich enttauscht«, hielt Molly mir vor Augen.
»Sie haben immer noch Geheimnisse vor mir«, sagte ich. »Harry ist nur das Neueste. Und er ist genau das, was mir noch gefehlt hat: ein rivalisierender Thronanwarter.«
»Er hasst dich, weil er glaubt, du hattest seinen Vater umgebracht«, sagte Molly. »Er wei? nicht, dass ich James Drood getotet habe.«
»Niemand darf das je erfahren! Wenn ich ihn in einem Duell tote, dann ist das eine Sache; ich gehore zur Familie. Aber du bist eine Au?enstehende; sie wurden dich auf der Stelle umbringen, wenn sie es auch nur vermuteten. Und mich ebenso, weil ich die Wahrheit vor ihnen verborgen und mich erdreistet habe, dich mehr zu mogen als die Familie.«
Molly lachelte mich an. »Von Zeit zu Zeit erinnerst du mich daran, wieso ich mich so heftig in dich verknallt habe. Komm her und setz dich zu mir!«
Ich setzte mich aufs Bett neben sie, und wir legten die Arme umeinander und kuschelten uns dicht zusammen. Fur lange Zeit wollten wir nichts sagen.
»Du darfst mich ruhig festhalten, wenn du niedergeschlagen bist«, sagte Molly. »Das ist erlaubt, wenn man in einer Beziehung ist.«
»Dann stecken wir also definitiv in einer dieser Beziehungskisten, stimmt's?«, fragte ich.
»Jau. Hat sich an mich rangeschlichen, als ich mal kurz nicht hingeschaut habe. Du kannst meine Titten drucken, wenn du mochtest.«
»Gut zu wissen.«
»Roger und ich standen uns nie nahe«, sagte sie, ohne mich dabei anzusehen. »Und wir waren nicht lange zusammen. Es war einfach die Zeit im Leben eines Madchens, wo es wirklich das Gefuhl hat, von jemand Gro?em und Grobem schlecht behandelt werden zu wollen. Auch wenn man wei?, dass es zwangslaufig in Tranen enden wird.«
»Und tat es das?«
»Oh, ja! Ich erwischte ihn mit meiner besten Freundin im Bett. Und mit ihrem Bruder. Das hat mir die Augen geoffnet. Ich steckte das Bett in Brand, wahrend sie alle noch drin waren, und verlie? ihn. Ich bin ziemlich sicher, dass ich ihn nie wirklich geliebt habe. Es war blo? eine dieser Geschichten, wei?t du?«
»Ich hatte einmal ein kurzes Verhaltnis mit einer Sexdroidin aus dem dreiundzwanzigsten Jahrhundert«, erzahlte ich. »Verdammt, wir haben schon ein paar interessante Zeiten erlebt, was?«
Wir lachten leise gemeinsam. Unsere Korper bewegten sich leicht gegeneinander. Ich fuhlte mich nirgendwo so daheim, wie ich es in Mollys Armen tat. Als ob ich endlich herausgefunden hatte, wo ich hingehorte.
»Verlass mich nie!«, sagte ich plotzlich.
»Wo kam das denn her?«, wunderte sich Molly.
»Wei? ich nicht. Ich muss einfach horen, dass du es sagst. Sag es fur mich, Molly!«
»Ich werde dich nie verlassen, Eddie. Ich werde immer bei dir sein, fur immer und immer und immer. Jetzt sag du es!«
»Ich werde dich jeden Tag meines Lebens lieben, Molly Metcalf, und wenn ich gestorben bin und du nicht dort bei mir im Himmel bist, dann werde ich in die Holle hinabsteigen und zu dir kommen. Denn der Himmel ware kein Himmel ohne dich.«
»Du glattzungiger Teufel, Eddie Drood!«
Etwas spater, als ich wieder Luft bekam, zog ich mich an und machte die Tasche auf, die ich aus meiner Londoner Wohnung mitgebracht hatte. Ich machte mich daran, meine wenigen Habseligkeiten im Zimmer zu verteilen. Es dauerte nicht lange. Eine Reihe CDs auf einem Regal, meine Lieblingsbucher aufgereiht auf einem anderen. In alphabetischer Reihenfolge selbstverstandlich; in solchen Dingen bin ich sehr genau. Und ein paar Lieblingsklamotten, die den massiven Mahagonikleiderschrank nicht einmal annahernd ausfullten. Ich schaute Molly an, die gerade vor dem Spiegel ihr zerzaustes Haar attackierte.
»Hast du keine Kleider, die du aufhangen willst? Frauen haben doch immer Kleider. Und Schuhe. Und Sachen.«
Sie zuckte unbeschwert die Schulter. »Wann immer mir langweilig wird, zaubere ich mir einfach eine neue Aufmachung herbei. Ich brauche nur was zu sehen, was mir gefallt, und mit einem Gedanken kann ich ein Duplikat davon herstellen. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas fur Kleider ausgegeben, und sie passen immer perfekt. Ich verwende schon seit Jahren immer wieder denselben Stoff.«
Ich trat zuruck und betrachtete meine uber den Raum verstreuten Besitztumer. Sie sahen … irgendwie verloren aus. Es waren moderne, vergangliche Sachen in einem Zimmer, das schon hier gewesen war, als ich noch nicht geboren war, und das noch hier sein wurde, wenn ich schon tot war. Von den alten Sachen meiner Eltern war nichts mehr da; sie waren wohl schon vor langer Zeit weggeworfen oder neu verteilt worden, als der nachste Bewohner eingezogen war. Die Familie hat Ruhrseligkeit nie gefordert; wir sollen uns nichts aus Besitztumern machen, denn nur die Familie ist wichtig. Nach vorne blicken, nie zuruck. Und nie etwas oder jemanden zu lieb gewinnen, denn das wird der Feind gegen einen verwenden.