dass wir uns nie so nahestanden, wie es andernfalls vielleicht gekommen ware. Und es bedeutete, dass er mir nie erlauben konnte, nach Hause zu kommen. Niemand in der Familie durfte jemals erfahren, dass der beruhmte Casanova James Drood einen warmen Bruder gezeugt hatte. Er hatte einen Ruf, an den er denken musste.«
»Er hat dich protegiert«, sagte ich.
»Ja«, stimmte Harry mir zu. »Aber er hat mich nie akzeptiert.«
»Hor zu«, sagte ich, »es ist mir schei?egal, ob du schwul bist oder nicht. Aber ich muss dich das fragen: Wie kann Roger dein … Lebensgefahrte sein, wo er gleichzeitig dein Halbbruder ist?«
Harry grinste schief. »Wenn es mich nicht stort, dass er ein Hollengezucht ist, wieso sollte mich dann sonst was storen? Wir wussten, dass wir fureinander bestimmt sind, von dem Moment an, als wir uns in diesem furchtbaren kleinen Nachtclub in Paris begegneten.«
»Selbst Hollengezuchte haben Herzen«, sagte Roger.
»Du stinkst immer noch nach dem Hollenschlund«, sagte ich unverblumt. »Er ist ein Damon, Harry. Du kannst weder ihm trauen noch irgendeinem seiner Worte. Damonen lieben niemanden. Sie konnen nicht.«
»Ich bin nur zur Halfte Damon«, wandte Roger ein. »Zur Halfte bin ich auch ein Mensch, und das kann manchmal ausgesprochen lastig sein. Ich verfuge uber die ganze normale Bandbreite menschlicher Gefuhlsregungen, auch wenn ich vorher noch nie zugelassen habe, dass sie mir in die Quere kommen. Ich war damals mit Absicht in diesem Nachtclub; war geschickt worden, um Harry zu verfuhren und an James heranzukommen und uber ihn schlie?lich an die Droods. Aber stattdessen sahen wir uns an und es war um mich geschehen. Ich war verliebt, sehr zu meiner Besturzung. Wir verknallten uns auf der Stelle ineinander und waren seitdem nie mehr getrennt.«
»Beklagst du dich etwa daruber?«, fragte Harry liebevoll.
»Nein«, erwiderte Roger, »niemals! Aber es bedeutet eben, dass ich nie mehr nach Hause kann. Sie wurden es nie verstehen.«
»Ich kenne das Gefuhl«, trostete Harry ihn und druckte seine Hand.
»Du kannst ihm nicht vertrauen, Harry«, wiederholte ich und gab mir alle Muhe, zu ihm durchzudringen. »Er ist eine Hollenbrut! Sie lugen wie sie atmen; es ist fur sie vollig naturlich!«
»Ich vertraue niemandem«, sagte Harry mit ausdrucksloser Stimme. »Nicht dieser Familie und am allerwenigsten dem Mann, der meinen Vater ermordet hat.«
»Es war kein Mord!«, sagte ich. »Es war ein fairer Kampf. Keiner von uns wollte ihn, aber …«
»Jaja«, sagte Harry, »letzten Endes lauft es immer auf die Familie hinaus, nicht wahr? Die Familie und die schrecklichen Dinge, die wir wegen ihr tun. Sag mir wenigstens so viel: Sag mir, dass mein Vater gut gestorben ist!«
»Naturlich ist er das«, antwortete ich. »Er kampfte bis zum letzten Atemzug.«
Harry sah mich nachdenklich an, den Kopf leicht schrag gelegt. »Da ist etwas, was du mir nicht erzahlst, Cousin Eddie.«
»Es gibt viel, was ich dir nicht erzahle«, erwiderte ich ungezwungen. »Ich behalte meine Geheimnisse fur mich, und das solltest du auch. Ich werde der Familie nicht verraten, dass du schwul bist.«
»Wie ausgesprochen edelmutig von dir!«, warf Roger ein.
»Aber je langer ihr beide dableibt, zusammen, desto eher wird jemand zwei und zwei zusammenzahlen. Und Handchenhalten sagt naturlich alles.«
Harry war einen fluchtigen Blick auf die Hand, die die von Roger hielt, lie? aber nicht los. »Danke fur den freundlichen Rat, Cousin Eddie. Und fur deine Verschwiegenheit mit Rucksicht auf uns. Ich bin sicher, das ist mehr, als ich von Rechts wegen von dir erwarten durfte. Aber mach nicht den Fehler zu denken, dass wir jemals Freunde werden!«
»Ich werde mich mit Verbundeten zufriedengeben«, sagte ich. »Wir werden einen Weg finden mussen, in den schlechten Zeiten, die uns bevorstehen, zusammenzuarbeiten. Zum Wohl der Familie - und der Welt.«
»Oh, aber sicher«, meinte Harry. »Alles fur die Familie.«
Kapitel Funf
Kommen zwei junge Seehunde in einen Klub
Ein Besuch beim Waffenmeister der Familie ist immer eine interessante Erfahrung - und oft eine ausgezeichnete Gelegenheit zu testen, wie gut die Reflexe sind. Immer geht irgendetwas Lautes und Larmendes vor sich, normalerweise explosiver Natur, und wie fruchtbar der Besuch fur einen selbst ist, kann von der Fahigkeit abhangen, sich blitzschnell zu ducken und in Deckung zu werfen. Als ich also der Waffenkammer - die tief ins Grundgestein unter dem Herrenhaus eingelassen ist, damit wenigstens der Rest der Familie vor den schrecklichen Folgen geschutzt ist, wenn, was unausweichlich ist, mal etwas richtig danebengeht - einen Besuch abstattete, war meine erste uberraschte Feststellung, wie ruhig und friedlich alles zu sein schien. Die Waffenkammer ist im Wesentlichen eine lange Reihe miteinander verbundener Steingewolbe, zum Bersten angefullt mit Apparaturen, Werktischen und Versuchsbereichen. Und einer eigenen angrenzenden Krankenstube, nur fur alle Falle.
Der Ort wirkte leidlich betriebsam. Praktikanten in fleckigen Laborkitteln drangten sich um Computer und mit Kreide gezeichnete Drudenfu?e und schwatzten angeregt miteinander, wahrend sie neue, furchtbare Dinge entwarfen, um sie auf die Feinde der Menschheit loszulassen. Ein junger Mann mit frischen Brandflecken auf dem Kittel arbeitete emsig an einem tragbaren Blitzgenerator, dieweil ein anderer vorsichtig eine Spraydose testete, die Seuchen in jede beliebige Richtung verspruhen konnte. Seinem Aussehen nach zu urteilen hatte er noch Probleme mit dem Rucksto?. Ich lie? ihm reichlich Platz und ging weiter. Als ich kurz darauf zufallig nach oben blickte, sah ich einen Praktikanten mit dem Kopf nach unten uber die hohe Steindecke laufen, indem er Stiefel benutzte, die am Stein hafteten. Er winkte denen, die von unten zusahen, frohlich zu, dann aber rutschte er mit einem Fu? aus dem Stiefel und blieb, bedenklich in dem andern Stiefel baumelnd, an der Decke hangen. Er rief herzzerrei?end um Hilfe und eine andere Praktikantin, der - wie ich inbrunstig hoffte, nur vorubergehend - Fledermausflugel aus dem Rucken wuchsen, flatterte hinauf, um ihm zu helfen.
Unterdessen standen ein halbes Dutzend Praktikanten mit dem gleichen Gesicht in einem engen Kreis zusammen und stritten erbittert daruber, wer das Original und wer die Klone waren. Ein Bursche hockte kichernd in einer Glaspyramide, wahrend ihm ein endloser Strom von Schmetterlingen aus der Nase flog. Im Grunde also ein ganz normaler Tag in der Waffenkammer.
Aber warum wirkte der ganze Ort dann so … gedampft? Wo waren die plotzlichen Flammenschlage und Wolken giftiger Gase, die sonst in der Luft schwebten? Ich schritt durch die Waffenkammer, stieg achtsam uber Klumpen farbkodierter Drahte - und ab und an ein explodiertes Versuchstier hinweg - und entdeckte schlie?lich den Waffenmeister selbst, der, wie ublich, gebuckt uber einem Arbeitstisch sa?. Er bastelte an irgendeinem neuen Gerat herum und versuchte, es mittels einer Kombination aus Geschicklichkeit, Genialitat, Herumkommandieren und unflatiger Sprache dazu zu bringen, das zu tun, was es sollte. Er wandte sich um, als ich mich neben ihn setzte, und schnaubte laut.
»Das ist alles deine Schuld, wei?t du das? Diese ganze unnaturliche Ruhe und Stille. Es ist das Fehlen der Torques; das macht meine Praktikanten viel zu vorsichtig. Seit sie angefangen haben, sich uber die Folgen Gedanken zu machen, kriege ich keine richtige Arbeit mehr von ihnen! Wir brauchen hier unten diese neuen Torques, Eddie!«
»Dann sorgt dafur, dass die Liste fertig ist, wenn ich zuruckkomme«, sagte ich geduldig. »Ich werde mich darum kummern, dass jeder, der einen braucht, auch einen bekommt.«
Der Waffenmeister sah mich scharf an. »Zuruckkommen? Was meinst du damit, zuruckkommen? Du willst doch nicht etwa schon wieder fort? Du warst noch keine zehn Minuten zu Hause!«
»Ich finde, meine Familie kann man am besten in homoopathischen Dosen wurdigen«, erklarte ich feierlich.
»Naja, nun, da mag was dran sein«, raumte der Waffenmeister ein. »Aber wenn die Katze aus dem Haus ist, wirst du vielleicht feststellen mussen, dass die Ratten ganz schon anma?end werden. Es sind allein deine Anwesenheit und dein Beispiel, die den Zusammenhalt der Familie in diesen schwierigen Zeiten gewahrleisten. Und jetzt, wo Harry wieder da ist …«
»Mach dir wegen Harry keine Gedanken«, sagte ich. »Mit dem werde ich fertig, wenn ich muss.«