die Gott an diesem Tag gewahrte.

»Hast du einen Namen?« fragte McGee.

»John Coffey«, sagte er mit schwerer, tranenerstickter Stimme. »Coffey, wie Kaffee, nur anders

geschrieben.«

McGee nickte und wies dann auf den Latz von Coffeys Hose, der gewolbt war. Es sah aus, als ob

Coffey darin eine Waffe hatte - nicht, dass ein Mann von Coffeys Gro?e eine Feuerwaffe brauchte, um

einigen gro?eren Schaden anzurichten, wenn er sich entschied loszulegen. »Was ist da drin, John

Coffey? Vielleicht ein Ballermann? Eine Pistole?«

»Nein, Sir«, sagte Coffey mit seiner schweren Stimme, und mit diesen sonderbaren Augen - mit

Tranen gefullt und mit schmerzlichem Ausdruck an der Oberflache, distanziert und unheimlich

gelassen darunter, als ob der wahre John Coffey woanders ware, zu einer anderen Landschaft

schaute, wo ermordete kleine Madchen kein Grund zur Aufregung waren - blickte er Deputy McGee

standig an. »Das ist nur ein kleines Mittagessen.«

»So, ein kleines Mittagessen, richtig?« fragte McGee, und Coffey nickte und sagte: »Jawohl, Sir«, und

aus seinen Augen rannen Tranen, und aus seiner Nase lief Rotz.

»Und wo bekommen Leute wie du ein kleines Mittagessen her, John Coffey?« McGee zwang sich,

ruhig zu sein, obwohl er jetzt die Madchen riechen konnte und die Fliegen uber die Stellen der Leichen

kriechen sah, die noch feucht waren. Der Anblick der Haare der toten Madchen war am schlimmsten,

sagte er spater, und das stand in keiner Zeitung; man hielt es fur zu grasslich, um es zu

veroffentlichen.

Ich erfuhr es von dem Reporter, der die Geschichte geschrieben hatte. Ich besuchte ihn spater, als

John Coffey eine Art Besessenheit fur mich wurde. McGee sagte diesem Reporter, dass das blonde

Haar der Madchen nicht mehr blond gewesen war. Es war kastanienbraun. Blut war aus dem Haar

ihre Wangen hinabgelaufen wie bei schlechtem Haarefarben, und man brauchte kein Arzt zu sein, um

zu sehen, dass ihre Schadel mit der Kraft dieser gewaltigen Arme aneinander geschlagen worden

waren. Vielleicht hatten die Madchen geschrieen. Vielleicht hatte er sie zum Verstummen bringen

wollen. Wenn die Madchen Gluck gehabt hatten, war das vor den Vergewaltigungen geschehen.

Ein solcher Anblick macht es einem schwer, klar zu denken, sogar einem Mann, der so entschlossen

war, seine Pflicht zu tun, wie Deputy McGee. Unklares Denken konnte zu Fehlern und vielleicht zu

noch mehr Blutvergie?en fuhren. McGee atmete tief durch und beruhigte sich. Er versuchte es

jedenfalls.

»Sir, ich erinnere mich nicht genau, woher ich das Essen habe, fallt mir nicht ein«, sagte John Coffey

mit tranenerstickter Stimme, »aber es ist ein kleines Mittagessen, das stimmt, Brotchen und ich

glaube eine Essiggurke.«

»Ich mochte mir das selbst ansehen, wenn es dir nichts ausmacht«, sagte McGee. »Beweg dich jetzt

nicht, John Coffey. Tu es nicht, Junge, denn es zielen genug Waffen auf dich, um dich von der Hufte

an aufwarts verschwinden zu lassen, wenn du auch nur mit einem Finger zuckst« Coffey schaute uber

den Fluss hinweg und lie? McGee reglos gewahren, als er vorsichtig in den Latz griff und etwas

hervorzog, das in Zeitungspapier gewickelt und mit einem Bindfaden verschnurt war. McGee entfernte

den Bindfaden und schlug das Zeitungspapier auf, obwohl er ziemlich uberzeugt war, dass es genau

das enthielt, was Coffey gesagt hatte - ein kleines Mittagessen. Da waren ein Brotchen mit

Schinkenspeck und Tomatenscheiben und ein Marmeladenbrotchen. Ebenfalls eine Gurke, eingewickelt

in die Comicseite, deren Inhalt John Coffey niemals kapiert hatte. Keine Wurstchen. Bowser hatte die

Wurstchen von John Coffeys kleinem Mittagessen bekommen.

McGee reichte das Mittagessen uber die Schulter zu einem der anderen Manner, ohne den Blick von

Coffey zu nehmen. Er war zu nahe bei dem schwarzen Riesen, um sich erlauben zu durfen, auch nur

eine Sekunde in seiner Aufmerksamkeit nachzulassen. Das Mittagessen, wieder eingepackt und mit

dem Bindfaden verschnurt, landete schlie?lich bei Bobo Marchant, der es in seinem Rucksack

verstaute, in dem er Happen fur seine Hunde aufbewahrte (und ein paar Koder zum Angeln, das hatte

mich jedenfalls nicht gewundert). Es wurde nicht als Beweismittel beim Prozess verwendet - die Justiz

in diesem Teil der Welt ist schnell, aber nicht so schnell, wie ein Schinkenspecktomaten-Brotchen

verdirbt -, aber es gab Fotos davon.

»Was ist hier passiert, John Coffey?« fragte McGee mit seiner tiefen, ernsten Stimme. »Willst du mir

das erzahlen?«

Und Coffey sagte zu McGee und den anderen fast genau das gleiche, was er zu mir sagte; es waren

auch die letzten Worte, die der Verteidiger der Jury bei Coffeys Prozess sagte: »Ich konnte nichts

dafur«, sagte John Coffey mit den ermordeten, geschandeten nackten Madchen auf seinen Armen.

Tranen rannen wieder uber seine Wangen. »Ich versuchte es aufzuhalten, aber es war zu spat«

»Junge, du bist unter Mordverdacht verhaftet«, sagte McGee, und dann spuckte er John Coffey ins

Gesicht

Die Geschworenen zogen sich eine Dreiviertelstunde zuruck. Gerade genug Zeit, um etwas zu Mittag

zu essen. Ich frage mich, ob sie Appetit hatten.

5

Ich denke, Sie wissen, dass ich all das nicht an einem hei?en Oktobernachmittag in der bald nicht

mehr existierenden Gefangnisbucherei herausfand, aus alten Zeitungen in ein paar Orangenkartons,

aber ich erfuhr genug, um an diesem Abend keinen Schlaf zu finden. Als meine Frau um zwei Uhr

morgens aufstand und mich in der Kuche sitzen sah, wo ich Buttermilch trank und eine Selbstgedrehte

Zigarette rauchte, fragte sie mich, was los ware, und ich belog sie, eines der wenigen Male in unserer

langen Ehe. Ich sagte, ich hatte wieder mal Krach mit Percy Wetmore gehabt

Das stimmte naturlich, aber das war nicht der Grund, weshalb ich noch so spat auf war. Fur

gewohnlich konnte ich die Gedanken an Percy im Buro zurucklassen.

»Nun, vergiss diesen faulen Apfel und komm ins Bett«, sagte meine Frau. »Ich habe etwas, das dir

beim Einschlafen helfen wird, und du kannst soviel davon haben, wie du willst«

»Das klingt gut aber ich denke, wir lassen das besser«, sagte ich. »Mein Wasserwerk ist nicht in

Ordnung, und ich mochte dich nicht anstecken.«

Sie hob eine Augenbraue. »Wasserwerk? Ich nehme an, du hast dir das von einer Nutte geholt als du

beim letzten Mal in Baton Rouge warst« Ich war nie in Baton Rouge und habe folglich dort auch keine

Nutte angeruhrt, und wir beide wussten das.

»Es ist nur eine einfache Blaseninfektion«, sagte ich. »Meine Mutter pflegte zu sagen, Jungen holen

sich die beim Pinkeln, wenn der Nordwind blast«

»Deine Mutter pflegte auch den ganzen Tag im Haus zu bleiben, wenn sie etwas Salz verschuttet hatte«, erwiderte meine Frau. »Dr. Sadler ...«

»Nein«, unterbrach ich mit erhobener Hand. »Er wird mir Sulfat verordnen, und bis zum Wochenende werden alle Ecken meines Buros voll gekotzt sein. Ich werde den Dingen ihren Lauf lassen, aber unterdessen halte ich es fur besser, dass wir uns vom Spielplatz fernhalten.« Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn, gleich uber meiner linken Augenbraue, was immer ein Kribbeln bei mir hervorruft, wie Janice nur zu gut wei?. »Armes Baby. Als ob dieser schreckliche Percy Wetmore nicht reicht Komm bald ins Bett«

Das tat ich, aber vorher trat ich auf die hintere Veranda hinaus, um mich zu erleichtern (und ich prufte vorher mit angefeuchtetem Finger die Windrichtung; was uns unsere Eltern sagen, wenn wir klein sind, bleibt selten unbeachtet ganz gleich, wie albern es sein mag). Das Pinkeln im Freien ist eine der Freuden des Landlebens, die sich bei den Poeten nie ganz herumgesprochen hat, aber in dieser Nacht war es keine Freude; das Wasser, das aus mir rann, brannte wie ein Strahl von brennendem Petroleum. Aber ich dachte, es ware an diesem Nachmittag noch ein bisschen schlimmer gewesen, und ich wusste, dass es vor zwei oder drei Tagen schlimmer gewesen war. Ich hoffte, dass ich auf dem Wege der Besserung war. Niemals war eine Hoffnung unbegrundeter. Keiner hatte mir gesagt, dass manchmal ein Bazillus, der sich festgesetzt hat wo es warm und feucht ist einen Tag oder zwei ausruhen kann, bevor er wie der erstarkt Es hatte mich uberrascht, wenn ich das gewusst hatte. Es hatte mich noch mehr uberrascht, wenn ich erfahren hatte, dass es in funfzehn oder zwanzig Jahren Pillen geben wurde, mit denen diese Infektion in Rekordzeit aus dem Korper verbannt werden konnte. Und wenn diese Pillen

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