auch ein wenig Magenbeschwerden oder Durchfall bewirken konnten, brauchte man davon nicht zu kotzen wie von Dr. Sadlers Sulfatpillen. Damals, 1932, konnte man nicht viel mehr tun, als abzuwarten und das Gefuhl zu ignorieren, dass jemand einem Petroleum ins Wasserwerk geschuttet und dann mit einem Streichholz angezundet hatte.
Ich knopfte die Hose zu, ging ins Schlafzimmer und schlief schlie?lich ein. Ich traumte von Madchen mit scheuem Lacheln und Blut im Haar.
6
Am nachsten Morgen lag ein pinkfarbener Notizzettel auf meinem Schreibtisch. Ich sollte so schnell wie moglich zum Buro des Direktors kommen. Naturlich wusste ich, worum es ging - es gab ungeschriebene, aber sehr wichtige Regeln in dem Spiel, und ich hatte mich gestern eine Zeitlang nicht daran gehalten -, und so zogerte ich meinen Besuch beim Direktor so lange wie moglich hinaus. Wie den Besuch beim Doktor wegen meiner Probleme mit dem Wasserwerk, nehme ich an.
Ich war stets der Ansicht gewesen, dass der Spruch >Verschiebe nicht auf morgen, was du heute kannst besorgen< uberbewertet wird.
Jedenfalls hetzte ich mich nicht ab, um Direktor Moores aufzusuchen. Statt dessen zog ich meinen Uniformrock aus, hangte ihn uber die Ruckenlehne meines Stuhls und schaltete den Ventilator an - es war wieder ein hei?er Tag. Dann setzte ich mich hinter den Schreibtisch und ging Brutus Howells Bericht uber die Nachtschicht durch. Es gab nichts Beunruhigendes.
Delacroix hatte nach dem Einschlie?en kurz geweint - das tat er in den meisten Nachten, und er weinte mehr um sich als um die Leute, die er lebend gerostet hatte, dessen bin ich mir ziemlich sicher -, und dann hatte er Mr. Jingles, die Maus, aus der Zigarrenkiste genommen, in der sie geschlafen hatte. Das hatte Del beruhigt, und er hatte den Rest der Nacht wie ein Baby geschlafen. Mr. Jingles hatte wahrscheinlich den langsten Teil der Nacht auf Delacroix' Bauch verbracht, den Schwanz uber die Pfoten gelegt, die Augen offen. Es war, als hatte Gott entschieden, dass Delacroix einen Schutzengel brauchte, aber in Seiner Weisheit hatte er sich gesagt, dass es nur eine Maus sein konnte fur so eine Ratte wie unseren morderischen Freund aus Louisiana.
Naturlich stand nicht all das in Brutals Bericht, aber ich hatte selbst genug Nachtschichten gehabt, um zwischen den Zeilen lesen zu konnen. Da war eine kurze Notiz uber Coffey. >Lag wach, meistens ruhig, heulte vielleicht etwas. Ich versuchte, ein Gesprach in Gang zu bringen, aber nach ein paar murrischen Antworten von Coffey gab ich auf. Paul oder Harry haben vielleicht mehr Gluck< »Ein Gesprach in Gang bringen< war ein Schwerpunkt unseres Jobs.
Ich wusste es zu diesem Zeitpunkt nicht, aber wenn ich es aus der Sicht dieses seltsamen Alters betrachte (ich denke, Alter muss seltsam fur die Leute sein, die es durchmachen), verstehe ich, was es war und warum ich es damals nicht erkannte - es war zu gro?, so entscheidend fur unsere Arbeit, wie unser Atmen fur unser Leben war. Es war nicht wichtig, dass die Springer gut darin waren, >ein Gesprach in Gang zu bringen^ aber es war lebenswichtig fur mich und Harry und Brutal und Dean ..., und das war einer der Grunde, weshalb Percy Wetmore solch eine Katastrophe war. Die Insassen hassten ihn, die Warter hassten ihn, jeder hasste ihn wahrscheinlich, mit Ausnahme von seinen politischen Verbindungen, Percy selbst und vielleicht (aber nur vielleicht) seiner Mutter. Er war wie eine Dosis Arsen in einem Hochzeitskuchen, und ich denke, ich wusste, dass er von Anfang an Unheil bedeutete. Er war wie ein Ungluck, das eintreten wurde. Was uns andere anging, so hatten wir uber die Vorstellung gespottet, dass wir hauptsachlich nicht als Warter fungierten, sondern als Psychiater der zum Tode Verdammten - ein Teil von mir will heute immer noch daruber spotten -, aber wir wussten, wie man ein Gesprach in Gang bringt, und ohne Gesprache hatten die Manner, die dem Tod ins Auge sahen, die Neigung, wahnsinnig zu werden.
Ich notierte am Fu? von Brutals Bericht, dass ich mit John Coffey reden sollte - es wenigstens versuchen sollte -, und widmete mich dann einer Notiz von Curtis Anderson, dem stellvertretenden Gefangnisdirektor. Anderson erwartete eine TDH - Anweisung fur Edward Delacrois (Schreibfehler von Anderson, der Name lautete richtig Eduard Delacroix). TDH stand fur Tag der Hinrichtung, und laut Notiz hatte Curtis Anderson aus glaubwurdiger Quelle erfahren, dass der kleine Franzose den Spaziergang kurz vor Halloween antreten wurde - er schatzte, am 27 Oktober, und Curtis Andersons Schatzungen basierten meist auf zuverlassigen Informationen. Aber zuvor konnten wir einen Neuzugang namens William Wharton erwarten.
>Er ist das, was man Problemkind nennt<, hatte Curtis in seiner linkslastigen und irgendwie pingeligen Schrift geschrieben. >Verruckt/wild und stolz darauf. Er ist im vergangenen Jahr oder so durch den ganzen Staat gestreift, hat drei Leute bei einem Uberfall umgelegt, darunter eine schwangere Frau, und eine vierte Person bei der Flucht erschossen. Einen Staatspolizisten. Fehlte nur noch eine Nonne und ein Blinder.< Ich lachelte ein bisschen uber diese Anmerkung. > Wharton ist neunzehn Jahre alt und hat die Tatowierung Billy the Kid auf dem linken Oberarm. Sie werden ihm ein paar Mal einen auf die Nase geben mussen, aber seien Sie dabei vorsichtig. Diesem Mann ist einfach alles gleichgultige Den letzten Satz hatte er dick unterstrichen und hinzugefugt >Konnte auch ein Dauerkunde sein. Hat Berufung eingelegt, und da ist die Tatsache, dass er minderjahrig ist< Ein verruckter Junge, der Berufung eingelegt hatte und bestimmt eine Weile bei uns blieb. Oh, das alles klang einfach prima. Plotzlich kam mir der Tag hei?er denn je vor, und ich konnte den Besuch bei Direktor Moores nicht langer aufschieben.
Ich habe wahrend meiner Jahre in Cold Mountain fur drei Direktoren gearbeitet, und Hai Moores war der letzte und beste davon. Absolut ehrlich, geradeaus, auch wenn ihm selbst der beschrankte Humor Curtis Andersons fehlte, aber mit genug politischem Geschick, um seinen Job wahrend dieser harten Jahre zu behalten - und mit genug Integritat, um sich nicht von seiner Pflicht abbringen zu lassen. Er wurde nicht mehr aufsteigen, aber damit hatte er sich anscheinend abgefunden. Er war damals achtoder neunundfunfzig und hatte ein tief zerfurchtes Bluthund-Gesicht, bei dessen Anblick sich Bobo Marchant vermutlich wie zu Hause gefuhlt hatte. Er hatte wei?es Haar, und seine Hande zitterten von irgendeiner Art Schuttellahmung, aber er war ein starker Mann.
Im vergangenen Jahr, als ein Gefangener ihn im Hof mit einer Latte von einer Kiste angegriffen hatte, war Moores unerschutterlich gewesen und hatte sich behauptet Er hatte das Handgelenk des Schei?kerls gepackt und so hart verdreht, dass es sich angehort hatte wie das Knacken von trockenen Asten in einem Feuer, als der Knochen brach. Der Schei?kerl hatte alle Angriffslust verloren, war in die Knie gegangen und hatte dort im Dreck kniend nach seiner Mutter geschrien. »Ich bin nicht deine Mutter«, hatte Moores mit seiner kultivierten Sudstaatlerstimme gesagt, »aber wenn ich das ware, wurde ich meinen Rock anheben und auf dich pissen, aus dem Scho?, der dich geboren hat« Als ich sein Buro betrat, wollte er aufstehen, aber ich forderte ihn mit einer Geste auf sitzen zu bleiben. Ich nahm auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz und erkundigte mich nach dem Wohlergehen seiner Alten ..., doch in unserem Teil der Welt sagt man das anders. »Wie geht es Ihrem schonen Madchen?« fragte ich, als ob Melinda erst siebzehn Lenze erlebt hatte statt zwei- oder dreiundsechzig. Meine Anteilnahme war echt - sie war eine Frau, die ich selbst hatte lieben und heiraten konnen, wenn uns das Leben zusammengefuhrt hatte -, aber es konnte auch nicht schaden, wenn ich ihn ein bisschen vom Hauptthema ablenkte. Er seufzte tief. »Nicht so gut, Paul. Uberhaupt nicht so gut« »Wieder Kopfschmerzen?«
»Nur einmal in dieser Woche, doch es war schlimmer denn je. Sie lag vorgestern fast den ganzen Tag flach. Und jetzt hat sie diese Schwache in der rechten Hand.«
Er hob die rechte Hand mit den Leberflecken. Wir beide sahen sie einen Moment lang zittern, bevor er sie sinken lie?. Ich kann Ihnen sagen, er hatte fast alles dafur gegeben, mir nicht sagen zu mussen, was er mir zu sagen hatte, und ich hatte fast alles dafur gegeben, es nicht horen zu mussen. Melindas Kopfschmerzen hatten im Fruhjahr begonnen, und den ganzen Sommer hatten ihre Arzte gesagt, dass es >durch nervose Spannungen bedingte Migraneanfalle< seien, vielleicht verursacht durch den Stress wegen der bevorstehenden Pensionierung ihres Mannes. Doch beide konnten den Ruhestand kaum erwarten, und meine Frau hatte mir gesagt, dass Migrane kein Leiden des Alters, sondern der Jugend ist; wenn die daran Leidenden Melinda Moores' Alter erreichten, ging es ihnen fur gewohnlich besser, nicht schlechter. Und nun diese Schwache der Hand. Es klang nicht nach nervoser Spannung fur mich; es klang wie ein verdammter Schlaganfall.
»Dr. Haverstrom will sie ins Krankenhaus in Indianola einliefern«, sagte Moores. »Sie untersuchen lassen. Den Kopf rontgen lassen, meint er. Wer wei?, was sonst Sie furchtet sich zu Tode.« Er schwieg kurz und fugte dann hinzu: »Ehrlich gesagt ich auch.«
»Ja, aber Sie sollten dafur sorgen, dass sie sich untersuchen lasst«, sagte ich. »Warten Sie nicht Wenn sich herausstellt dass es etwas ist was sie beim Rontgen sehen konnen, werden sie es vielleicht beheben konnen.«
»Ja«, stimmte er zu, und dann trafen sich kurz unsere Blicke - das einzige Mal wahrend dieses Teils unseres