Die Maus verharrte an der Stelle, die zu ihrem ublichen Rastplatz geworden war, schlang den Schwanz um die Pfoten und schaute uns an. Abermals wurde ich an den Anblick von Richtern erinnert, die hilflose Gefangene verurteilen ..., doch hatte es jemals einen so kleinen und furchtlosen Gefangenen gegeben? Sie war naturlich kein wirklicher Gefangener; sie konnte kommen und gehen, wie es ihr beliebte. Doch der Gedanke lie? mich nicht los, und es kam mir wieder in den Sinn, dass die meisten von uns sich so klein fuhlen wurden, wenn wir uns nach dem Tod Gottes Richtertisch nahern. Aber nur wenige von uns werden es schaffen, so furchtlos zu blicken. »Allmachtiger!« rief der alte TootToot »Da sitzt sie, gro? wie Billy, der gebraten wird.« »Du hast das Beste ja noch nicht gesehen, Toot«, sagte Harry. »Schau dir das an.« Er griff in die Brusttasche und holte ein Stuck getrockneten Apfel heraus, das in Wachspapier gewickelt war. Er brach ein Stuck des nach Zimt duftenden Dorrobstes ab und warf es auf den Boden. Das Stuck war trocken und hart, und ich dachte, es wurde an der Maus vorbeihupfen, doch sie streckte eine Pfote aus, so lassig, wie man nach einer Fliege ausholt, um die Zeit totzuschlagen, und schnappte es muhelos. Wir alle lachten bewundernd und uberrascht Bei diesem lautstarken Ausbruch hatte die Maus erschrocken davonhuschen sollen, doch sie zuckte kaum. Sie nahm das Apfelstuckchen zwischen die Pfoten, leckte ein paar Mal daran, lie? es dann fallen und schaute zu uns auf, wie um zu sagen: Nicht schlecht, aber was habt ihr sonst noch? TootToot offnete seinen Karren, nahm ein Sandwich heraus, wickelte das Papier ab und zwackte ein Stuck Mortadella ab. »Gib dir keine Muhe«, sagte Dean.
»Was soll das hei?en?« fragte TootToot »Es gibt keine Maus auf der Welt die Mortadella verschmaht wenn sie drankommen kann. Hast du denn keine Ahnung von Mausen?«
Aber ich wusste, dass Dean recht hatte, und ich sah Harry am Gesicht an, dass er es auch wusste. Es gab Springer, und es gab Stammpersonal. Irgendwie kannte die Maus den Unterschied. Irre, aber wahr. Der alte TootToot warf das Stuck Mortadella hin, und wirklich, die Maus wollte nichts damit zu tun haben. Sie schnuffelte nur einmal daran und wich dann etwas zuruck »Nicht zu glauben!« sagte TootTbot und es klang beleidigt. Ich streckte ihm die Hand hin. »Gib es mir.« »Was - dasselbe Sandwich?« »Dasselbe. Ich bezahle dafur.«
TootToot gab es mir. Ich hob die obere Scheibe Wei?brot hoch, riss ein anderes Stuckchen Mortadella
ab und warf es uber das Wachpult hinweg zu der Maus. Die Maus nahm es sofort zwischen die Pfoten
und begann zu mampfen. Die Mortadella war im Nu verzehrt »Das kann doch nicht wahr sein!« rief
TootToot »Teufel, Teufel! Gib mir das!«
Er nahm mir das Sandwich aus der Hand, riss ein viel gro?eres Stuck Mortadella ab - kein Fitzelchen,
sondern diesmal fast die halbe Scheibe -und warf es so nahe zu der Maus, dass Steamboat Willy es
fast als Hut getragen hatte. Die Maus zog sich wieder zuruck, schnuffelte (keine Maus hatte jemals
solch ein uppiges Mahl wahrend der Wirtschaftskrise bekommen - jedenfalls nicht in unserem Staat)
und blickte dann zu uns auf.
»Los, friss das!« befahl TootToot und er klang beleidigter denn je. »Was ist mit dir los?«
Dean nahm das Sandwich und warf ein Stuckchen Mortadella zu der Maus hin - inzwischen erinnerte
das an die merkwurdige Prozedur bei einer Kommunion. Die Maus nahm das Stuck Mortadella sofort
und schlang es hinunter. Dann drehte sie sich um und marschierte den Gang hinunter zur Gummizelle,
wobei sie unterwegs anhielt um in zwei leere Zellen zu spahen und in einer dritten einen kurzen
Inspektionsbesuch zu machen. Mir kam wieder in den Sinn, dass sie jemanden suchte, und diesmal
verdrangte ich den Gedanken nicht so schnell.
»Das werde ich keinem erzahlen«, beschloss Harry. Er klang halb scherzend, halb ernst »Erstens
wurde das niemanden interessieren. Und zweitens wurde es niemand glauben.«
»Sie hat nur von euch etwas angenommen!« sagte TootToot und schuttelte unglaubig den Kopf,
buckte sich mit seinen alten Knochen, hob auf, was die Maus verschmaht hatte, und schob es in
seinen zahnlosen Mund, um es hinunterzuschlingen. »Warum hat sie das getan?«
»Ich habe eine bessere Frage«, sagte Harry. »Woher wusste sie, dass Percy frei hat?«
»Das wusste sie nicht«, sagte ich. »Es war einfach Zufall, dass die Maus heute Abend aufgetaucht ist«
Es wurde im Laufe der Zeit immer schwieriger, das zu glauben, denn die Maus lie? sich nur blicken,
wenn Percy nicht da war, wenn er frei hatte, zu einer anderen Schicht eingeteilt war oder sich in
einem anderen Teil des Gefangnisses aufhielt Wir - Harry, Dean, Brutal und ich - sagten uns, dass sie
Percys Stimme oder seinen Geruch kennen musste. Wir vermieden zuviel Gerede uber die Maus - uber
ihn. Wir waren offensichtlich ohne ein Wort der Absprache ubereingekommen, dass es etwas
Besonderes verderben wurde ... und etwas Schones wegen seiner Fremdheit und Zartheit Willy hatte
uns schlie?lich in einer Art ausgewahlt die ich selbst jetzt noch nicht verstehe. Vielleicht lag Harry
richtig mit seinen Worten, es ware nicht gut anderen Leuten davon zu erzahlen, nicht nur, weil sie es
nicht glauben wurden, sondern auch, weil es ihnen gleichgultig ware.
4
Dann nahte die Hinrichtung von Arien Bitterbuck, der in Wahrheit kein richtiger Hauptling, sondern
Altester seines Stammes im Washita Reservat und au?erdem ein Mitglied des Cherokee Council war.
Er hatte sturzbetrunken einen Mann getotet -genauer gesagt, waren sie beide betrunken gewesen.
Der Chief hatte dem Mann mit einem Zementblock den Schadel eingeschlagen. Es war um ein Paar
Stiefel gegangen. Daher wollten am siebzehnten Juli in jenem verregneten Sommer meine
Stammesaltesten sein Leben beenden.
Die Besuchszeit fur die meisten Gefangenen in Gold Mountain war so starr wie Stahltrager, aber das
galt nicht fur unsere Jungs in Block E. So durfte Bitterbuck am sechzehnten in den langen Raum
gehen, der an die Cafeteria grenzte - die Arkade. Sie war genau in der Mitte mit Maschendraht und
darin eingeflochtenen Streifen von Stacheldraht geteilt. Hier wurde der Chief von seiner zweiten
Squaw und denjenigen seiner Kinder besucht werden, die noch etwas von ihm wissen wollten. Es war
an der Zeit, Abschied zu nehmen.
Er wurde von Bill Dodge und zwei anderen Springern dorthin gebracht Wir ubrigen hatten Arbeit vor
uns - eine Stunde mit mindestens zwei Proben. Drei, wenn wir es schaffen konnten.
Percy protestierte nicht, als er fur die Bitterbuck-Hinrichtung zu Jack Van Hay in den Schaltraum
gesteckt wurde; er war zu unerfahren, um zu wissen, ob man ihm eine gute oder schlechte Stelle
zugewiesen hatte.
Er wusste nur, dass er durch ein rechteckiges Fenster mit Drahtgeflecht schauen konnte, und obwohl
es ihm sicher nichts ausmachte, auf die Ruckseite des Stuhls statt auf die Vorderseite zu blicken,
wurde er nahe genug sein, um die Funken fliegen zu sehen.
Gleich au?erhalb dieses Fensters hing ein schwarzes Wandtelefon ohne Kurbel oder Wahlscheibe.
Dieses Telefon konnte nur angewahlt werden, und zwar ausschlie?lich von einem Ort aus: dem Buro
des Gouverneurs. Ich habe im Laufe der Jahre viele Knastfilme gesehen, in denen das amtliche
Telefon klingelt, wenn man gerade den Hebel betatigen will, um irgendeinen armen unschuldigen
Trottel zu rosten, aber unseres hat nie geklingelt wahrend all meiner Jahre in Block E, kein einziges
Mal. In den Filmen ist die Rettung billig. Ebenso die Unschuld. Man zahlt einen Vierteldollar, und dafur
bekommt man sie. Wahres Leben kostet mehr, und meistens fallen die Antworten anders aus.
Wir hatten eine Schneiderpuppe unten im Tunnel fur den Transport zu dem Fleischwagen, und wir
hatten den alten TootToot fur die ubrige Probe. Im Laufe der Jahre war TootToot das traditionelle
Double fur den Todeskandidaten geworden, auf seine Weise altehrwurdig wie der Puter, zu dem man
sich Weihnachten an den Tisch setzt, ob man nun Puter mag oder nicht Die meisten anderen Warter
mochten TootToot, amusierten sich uber seinen lustigen Akzent - ein bisschen franzosisch, aber mehr
kanadisch als cajun, weich geworden durch die Jahre der Einkerkerung im Suden. Sogar Brutal hatte
machtig Spa? an Old Toot. Ich jedoch nicht. Ich fand, dass er auf seine Weise eine altere und
blassere Version von Percy Wetmore war, ein Mann, der zu zimperlich war, um sein Fleisch selbst zu
toten und zu braten, der aber den Geruch eines Barbecues einfach liebte.
Wir waren fur die Ubung alle anwesend, wie wir es bei dem richtigen Ereignis sein wurden. Brutus
Howell war fur den >Innendienst< zustandig, wie wir es nannten. Er wurde dem Todeskandidaten die
Kappe aufsetzen, die Telefonleitung des Gouverneurs uberwachen, von seinem Platz an der Wand aus
den Arzt rufen, wenn er gebraucht werden sollte, und den Befehl zu Stufe zwei geben, wenn es soweit
war. Wenn alles gut verlief, wurde sich keiner von uns Lorbeeren verdienen. Wenn es nicht gut ging,
wurde Brutal von den Zeugen und ich vom Direktor zur Schnecke gemacht werden. Keiner von uns