Es gibt eine Formulierung, die ich irgendwo gelesen und nie vergessen habe, etwas uber »ein Ratsel, das in einem Geheimnis verborgen ist«. Das traf auf John Coffey zu, und ich nehme an, er konnte nachts nur deshalb schlafen, weil es ihm gleichgultig war. Percy bezeichnete ihn als Idioten, was hart, aber nicht sehr weit von der Wahrheit entfernt war. Coffey, unser gro?er Junge, kannte seinen Namen und wusste, dass er anders geschrieben wurde als das Getrank, und das war so ziemlich alles, was ihn interessierte.
Als wollte er mir das bestatigen, schuttelte er ein weiteres Mal auf diese bedachtige Art den Kopf und legte sich dann mit dem Gesicht zur Wand, die Hande wie ein Kissen unter seiner linken Wange, auf die Pritsche. Seine Beine hingen vom Schienbein an uber die Pritsche hinaus, aber das storte ihn anscheinend nicht Sein Hemd war am Rucken hochgerutscht, und ich konnte die Narben sehen, die seine Haut uberzogen.
Ich verlie? die Zelle, schloss die Tur oben und unten ab und wandte mich Delacroix zu, der schrag
gegenuber auf der anderen Seite des Gangs stand, die Hande um die Gitterstabe seiner Zelle
klammerte und mich besorgt anschaute. Vielleicht sogar furchtsam. Mr. Jingles kauerte auf seiner
Schulter, und seine feinen Barthaare zuckten. »Was hat diese schwarze Mann mit Ihnen getan?«
fragte Delacroix. »Was hat gezaubert? Hat er Boss verhext?« Der Teufel wusste, wie der kleine
Franzose auf einmal das >H< schaffte.
»Ich wei? nicht, wovon du redest, Del.«
»Ach, zum Teufel! Sehen Sie sich an! Alles verandert. Sogar gehen anders, Boss!«
Ich ging vermutlich tatsachlich anders. Es war ein schones Gefuhl der Ruhe in meinem Unterleib, ein
so ungewohnliches Gefuhl des Friedens, dass es an Verzuckung grenzte - jeder, der sich schon mal
von derartig schlimmen Schmerzen erholt hat wird wissen, wovon ich rede.
»Es ist wirklich alles in Ordnung, Del«, beteuerte ich. »John Coffey hatte einen Alptraum, das ist
alles.«
»Er ist Zaubermann!« sagte Delacroix heftig.
Schwei?perlen standen auf seiner Oberlippe. Er hatte nicht viel gesehen, gerade genug, um sich zu
Tode zu erschrecken. »Er ist Voodoo-Mann!«
»Wie kommst du darauf?«
Delacroix griff auf die Schulter und nahm die Maus in die Hand. Er umfasste sie mit der Handflache
und hob sie an sein Gesicht. Mit der freien Hand nahm Delacroix etwas Pinkfarbenes aus der
Hosentasche - eines dieser Pfefferminzbonbons. Er hielt es hoch, doch zuerst ignorierte es die Maus,
streckte statt dessen den Kopf zu dem Mann hin und schnuffelte an seinem Atem, wie ein Mensch
vielleicht an einem Blumenstrau? riecht. Seine kleinen schwarzen Augen schlossen sich fast mit einem
Ausdruck der Verzuckung. Delacroix kusste die Nase der Maus, und sie erlaubte ihm das. Dann nahm
sie das angebotene Pfefferminzbonbon und begann zu mampfen. Delacroix sah der Maus noch einen
Augenblick lang zu und schaute dann mich an. Und plotzlich kapierte ich es.
»Mr. Jingels hat es dir geflustert«, sagte ich. »Richtig?«
»Oui.«
»Wie er dir seinen Namen geflustert hat«
»Oui. In meine Ohr geflustert«
»Leg dich hin, Del«, sagte ich. »Ruh dich ein bisschen aus. All diese Flusterei muss dich erschopft
haben.«
Er murmelte noch etwas - beschuldigte mich, ihm nicht zu glauben, nehme ich an. Seine Stimme
klang wieder wie aus weiter Ferne. Und als ich zum Wachpult zuruckging, hatte ich das Gefuhl,
uberhaupt nicht den Boden zu beruhren - es war mehr ein Schweben oder vielleicht uberhaupt keine
Bewegung; die Zellen rollten einfach an mir vorbei wie Filmkulissen auf versteckten Radern.
Ich wollte mich ganz normal hinsetzen, aber auf halbem Weg gaben meine Knie nach, und ich
plumpste auf das blaue Kissen, das Harry vor einem Jahr von zu Hause mitgebracht hatte, um weicher
zu sitzen. Wenn der Stuhl nicht dort gestanden hatte, ware ich vermutlich auf den Boden gekracht.
So sa? ich aber auf dem Stuhl und spurte die Ruhe in meinem Unterleib, in dem noch vor knapp zehn
Minuten ein Waldbrand gewutet hatte. Ich habe geholfen, nicht wahr? hatte John Coffey gesagt, und
das stimmte, was meinen Korper anbetraf. Mein Seelenfriede war jedoch eine andere Geschichte.
Dem hatte er uberhaupt nicht geholfen.
Mein Blick fiel auf den Stapel Formulare unter dem Blechaschenbecher, der auf der Ecke des
Wachpults stand. BLOCK-BERICHT stand oben auf den Formularen, und in der Mitte war eine freie
Flache mit der Uberschrift: »Bericht uber ungewohnliche Vorfalle«. Ich wurde die freie Flache nutzen,
um in meinem abendlichen Bericht die Geschichte von William Whartons lebhafter und ereignisreicher
Ankunft zu erzahlen. Aber angenommen, ich wurde ebenfalls berichten, was mir in John Coffeys Zelle
widerfahren war? Ich sah mich schon, wie ich den Bleistift aufnahm - denjenigen, an dessen Spitze
Brutal stets leckte - und ein einziges Wort in Gro?buchstaben schrieb: WUNDER.
Das hatte lustig sein sollen, doch statt zu lacheln, war ich plotzlich uberzeugt, dass ich gleich heulen
wurde. Ich schlug die Hande vors Gesicht, druckte die Handflachen auf den Mund, um Schluchzer zu
unterdrucken - ich wollte Del nicht von neuem erschrecken, nachdem er sich gerade erst ein wenig
beruhigt hatte -, aber es kamen keine Schluchzer. Auch keine Tranen. Nach ein paar Minuten lie? ich
meine Hande auf das Pult sinken und faltete sie. Ich wusste nicht, was ich empfand!, und mein
einziger klarer Gedanke war der Wunsch, dass niemand zuruck zum Block kommen sollte, bis ich mich
etwas besser unter Kontrolle hatte. Ich furchtete, dass sie mir vielleicht etwas an meinem Gesicht
ansehen konnten.
Ich zog ein Formular zu mir heran. Ich wurde noch warten, bis ich mich ein bisschen beruhig hatte,
bevor ich aufschrieb, wie mein neues Problemkind beinahe Dean Stanton erwurgt hatte, aber ich
konnte unterdessen den Rest des Burokratie-Blodsinns ausfullen. Ich dachte, meine Handschrift wurde
vielleicht komisch aussehen - zittrig -, aber sie sah ungefahr so aus wie immer.
Funf Minuten spater legte ich den Bleistift hin und ging in die Toilettenkabine, die an mein Buro grenzte, um zu pinkeln. Ich musste nicht dringend, aber es wurde reichen, um zu testen, was mit mir geschehen war. Als ich dort stand und auf dem Strahl wartete, wuchs in mir die Uberzeugung, dass es genauso schmerzen wurde wie an diesem Morgen, als ich glaubte, winzige Glassplitter auszuscheiden; was Coffey mit mir angestellt hatte, wurde sich als simple Hypnose herausstellen, und das ware vielleicht trotz der Schmerzen beruhigender als alles andere.
Doch es kam kein Schmerz, und was in die Toilette floss, war klar, ohne Anzeichen auf Eiter. Ich knopfte meinen Hosenschlitz zu, betatigte die Wasserspulung, kehrte an das Wachpult zuruck und setzte mich wieder hin.
Ich wusste, was geschehen war. Ich nehme an, ich wusste es sogar, wahrend ich mir einzureden versuchte, dass es Hypnose gewesen war. Ich hatte eine Heilung erlebt, eine authentische Wunderheilung im Namen Jesu, des Allmachtigen. Als Junge, der mit dem Besuch jeder Baptistenoder Pfingstkirche aufgewachsen war, die bei meiner Mutter und ihren Schwestern zu bestimmten Monaten jeweils gefragt waren, hatte ich viel von Jesu Werk gehort, von den Wundergeschichten des Allmachtigen. Ich glaubte nicht alle, aber es gab viele Personen, denen ich glaubte. Eine davon war ein Mann namens Roy Delfines, der mit seiner Familie ungefahr zwei Meilen von uns entfernt wohnte, als ich zwolf oder so war. Delfines hatte seinem achtjahrigen Sohn den kleinen Finger mit einem Beil abgehackt, ein Unfall, der passiert war, weil der Junge unerwartet die Hand bewegt hatte, als er fur seinen Vater auf dem Hof ein Stuck Holz auf dem Hackklotz gehalten hatte. Roy Delfines sagte, er hatte in diesem Herbst und Winter praktisch den Teppich mit den Knien abgescheuert, und im Fruhjahr war der Finger des Jungen nachgewachsen. Sogar mit Nagel. Ich glaubte Roy Delfines, wenn er das bei den Dankgottesdiensten am Donnerstagabend bezeugte. Es lag eine schlichte Ehrlichkeit in seinen Worten, wenn er mit den Handen tief in den Taschen seiner Latzhose dastand und erzahlte, und es war unmoglich, ihm nicht zu glauben.
»Es juckte ihn, als der Finger wuchs, und er konnte nachts nicht schlafen«, sagte Roy Delfines, »aber er wusste, dass Gott ihn kitzelte, und fand sich damit ab. Gelobt sei Jesus, der Herr ist allmachtig.« Roy Delfines' Story war nur eine von vielen; ich wuchs in einer Tradition von Wundern und Heilungen auf. Ich glaubte ebenfalls an Zauberei: Sumpfwasser gegen Warzen, Moos unter dem Bettkissen gegen Liebeskummer und naturlich Zauberspruche gegen und fur alles mogliche -aber ich glaubte nicht, dass John Coffey ein Zauberer oder Hexer war. Ich hatte ihm in die Augen gesehen. Noch wichtiger, ich hatte seine Beruhrung gespurt Seine Beruhrung war die eines sonderbaren und wunderbaren Arztes gewesen.