Ich habe geholfen, nicht wahr? Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf, wie der Refrain eines Schlagers oder die Worte eines Zauberspruchs. Ich habe geholfen, nicht wahr?

Doch das hatte er nicht Gott hatte geholfen. John Coffeys Gebrauch der ersten Person war vermutlich eher Unwissenheit als Angeberei, aber ich wusste - glaubte es jedenfalls zu wissen -, was ich uber Heilung in diesen >Gelobt sei Jesus, der Herr ist allmachtig< Kirchen gelernt hatte und in den Herrgottswinkeln in den Pinienwaldern, die meine kaum zwanzigjahrige Mutter und meine Tanten so liebten: Heilen hatte nie etwas mit dem Geheilten oder dem Heiler zu tun, sondern nur mit Gottes Willen. Dass man sich freut wenn ein Kranker gesund wird, ist normal, die erwartete Reaktion, doch die geheilte Person hat bei den Fragen nach dem Warum eine Verpflichtung, uber Gottes Willen nachzugrubeln und sich zu fragen, warum sich Gott so au?ergewohnlich lange Zeit gelassen hat um seinen Willen in die Tat umzusetzen. Was wollte Gott in diesem Fall von mir? Was wollte er so sehr, dass er heilende Krafte in die Hande eines Kindermorders legte? Dass ich in Block E war, anstatt hundeelend zu Hause im Bett zu liegen, zitternd und aus jeder Pore nach Sulfat stinkend? Vielleicht Ich sollte vielleicht hier sein anstatt zu Hause, fur den Fall, dass Wild Bill Wharton noch Schlimmeres anstellte, oder um dafur zu sorgen, dass Percy Wetmore nicht noch gro?ere und moglicherweise verheerende Dummheiten machte. Also gut So sei es. Ich wurde die Augen offen und den Mund geschlossen halten, besonders, wenn es um Wunderheilungen ging.

Niemand wurde sich wundern, dass ich besser und gesunder aussah. Ich hatte aller Welt gesagt, dass es mir besser ging, und bis zu diesem Tag glaubte ich das wirklich. Sogar Direktor Moores hatte ich erzahlt, dass ich auf dem Wege der Besserung sei. Delacroix hatte etwas gesehen, aber ich sagte mir, dass auch er den Mund halten wurde (vermutlich aus Furcht, John Coffey wurde ihn sonst verzaubern). Und Coffey selbst hatte es vermutlich bereits vergessen. Er war schlie?lich nur so etwas wie ein Kanal, und wenn der Regen aufgehort hat erinnert sich kein Kanal der Welt mehr an das Wasser, das ihn durchflossen hat. So entschloss ich mich, uber das Thema zu schweigen, und ich hatte nicht die blasseste Ahnung, wie bald ich die Geschichte erzahlen wurde - oder wem. Aber ich wollte unbedingt mehr uber meinen gro?en Jungen erfahren, und es hat keinen Sinn, das nicht zuzugeben. Nach dem, was mir dort in der Zelle widerfahren war, war ich neugieriger denn je.

4

Bevor ich an diesem Abend das Gefangnis verlie?, vereinbarte ich mit Brutal, dass er mich am nach­sten Tag vertreten wurde, wenn ich etwas spater zur Arbeit kommen sollte, und als ich am folgenden Morgen aufstand, machte ich mich auf den Weg nach Tefton unten im Trapingus County. »Ich wei? nicht, ob es mir gefallt, dass du dir so viele Sorgen wegen dieses Coffey machst«, meinte meine Frau und gab mir das Lunchpaket mit, das sie vorbereitet hatte - Janice hielt nichts von Hamburgerbuden am Stra?enrand; sie pflegte zu sagen, dass in jedem einzelnen Bauchschmerzen lauerten. »Das passt gar nicht zu dir, Paul.«

»Ich mache mir keine Sorgen um ihn«, erwiderte ich. »Ich bin neugierig, das ist alles.« »Nach meiner Erfahrung fuhrt eins zum anderen«, antwortete Janice steif und gab mir einen lie­bevollen, innigen Kuss auf den Mund. »Du siehst wenigstens besser aus, das muss ich sagen. Eine Zeitlang hatte ich Angst um dich. Geht es besser mit deinem Wasserwerk?«

»Deutlich besser«, sagte ich, und schon fuhr ich los und sang dabei Songs wie >Come, Josephine, in My Flying Machine< und >We're in the Moneys um mir die Zeit zu vertreiben. Als erstes ging ich in Tefton zu der Zeitung Intelligencer, und man sagte mir, dass Burt Hammersmith, der Mann, den ich suchte, hochstwahrscheinlich druben im Gerichtsgebaude sei. Dort sagte man mir, dass Hammersmith da gewesen war, jedoch unfreiwillig Feierabend gemacht habe, weil ein Wasserrohrbruch das Hauptverfahren verhindert hatte, das zufallig ein Vergewaltigungsprozess war (im Intelligencer wurde das verponte Wort >Vergewaltigung< als >tatliche Bedrohung einer Frau< umschrieben werden, so war das in jenen Tagen, bevor Ricki Lake und Carnie Wilson die Buhne betraten). Man nahm an, dass er nach Hause gefahren war.

Ich erhielt eine Wegbeschreibung und folgte einer unbefestigten Stra?e, die so zerfurcht und schmal war, dass ich sie kaum mit meinem Ford zu befahren wagte, und dann fand ich meinen Mann. Hammersmith hatte die meisten Artikel uber den Coffey-Prozess geschrieben, und von ihm erfuhr ich das Gros der Einzelheiten uber die kurze Menschenjagd, bei der Coffey eingefangen worden war. Ich meine naturlich die Einzelheiten, die man beim Intelligencer fur zu grauenhaft gehalten hatte, um sie zu veroffentlichen.

Mrs. Hammersmith war eine junge Frau mit einem hubschen, aber muden Gesicht, deren Hande rot von Seifenlauge waren. Sie stellte keine Fragen, sondern fuhrte mich einfach durch ein kleines Haus, in dem es nach frisch gebackenem Kuchen duftete, und hinaus auf die hintere Veranda, auf der ihr Mann mit einer Flasche Brause in der Hand und einem zusammengefalteten Exemplar der Zeitschrift Liberty auf dem Scho? sa?. Es gab einen kleinen abfallenden Hinterhof; an seinem Ende kabbelten sich zwei kleine Kinder bei einer Schaukel. Von der Veranda aus war ihr Geschlecht unmoglich zu bestimmen, doch ich vermutete, dass es ein Junge und ein Madchen war. Vielleicht waren es sogar Zwillinge, was ein interessantes Licht auf die Rolle ihres Vaters warf, die er - wenn auch eher als Zaungast - bei Coffeys Prozess gespielt hatte. Etwas naher, wie eine Insel inmitten eines Streifens aus kahlem, zertrampeltem und Kotubersatem Boden, stand eine Hundehutte. Kein Zeichen von Fifi. Es war wieder ein hei?er Tag, ungewohnlich fur die Jahreszeit, und ich nahm an, dass er vielleicht in der Hundehutte lag und Siesta hielt »Burt, du hast Besuch«, sagte Mrs. Hammersmith. »Aha.« Er schaute mich an, sah seine Frau an und blickte wieder zu seinen Kindern, denen offensichtlich seine ganze Sorge galt Er hatte schutteres Haar und war dunn - fast krankhaft mager, als hatte er sich gerade erst von einer schlimmen Krankheit erholt. Seine Frau legte eine rote, vom Waschen geschwollene Hand auf seine Schulter. Er beruhrte sie nicht, zeigte keinerlei Reaktion, und sie zog die Hand einen Moment spater zuruck Es kam mir fluchtig in den Sinn, dass sie nicht wie ein Ehepaar, sondern eher wie Bruder und Schwester wirkten - er hatte den Verstand, sie das gute Aussehen, aber keiner konnte eine darunter liegende Ahnlichkeit leugnen, ein Erbe, dem man nie entkommen kann. Spater auf der Heimfahrt wurde mir klar, dass sie sich in Wirklichkeit uberhaupt nicht ahnelten; was den Eindruck erweckt hatte, waren die Nachwirkungen von Stress und fortdauerndem Kummer. Es ist sonderbar, wie Schmerz unsere Gesichter zeichnet und uns wie Verwandte wirken lasst

Sie fragte: »Mochten Sie etwas Kaltes trinken, Mister...«

»Edgecombe«, sagte ich. »Paul Edgecombe. Und danke. Ein kalter Drink ware wunderbar, Ma'am.« Sie ging ins Haus. Ich streckte Hammersmith meine Hand hin, und er schuttelte sie kurz. Sein Handedruck war schlaff und kalt. Er lie? die Kinder hinten auf dem Hof nie aus den Augen. »Mr. Hammersmith, ich bin Superintendent in Block E der Strafvollzugsanstalt Gold Mountain. Das ist...«

»Ich wei?, was das ist«, sagte er und schaute mich jetzt mit etwas mehr Interesse an. »Das As der Warter von der Green Mile steht also leibhaftig auf meiner Veranda.

Was fuhrt Sie die funfzig Meilen hierher, um mit dem einzigen Vollzeit-Reporter der Lokalzeitung zu reden?«

»John Coffey«, sagte ich.

Ich denke, ich hatte eine starke Reaktion erwartet (die Kinder, die Zwillinge sein konnten, fuhrten wohl zu der Annahme und vielleicht auch die Hundehutte; die Dettericks hatten auch einen Hund), aber Hammersmith hob nur die Augenbrauen und nippte an seiner Brause. »Coffey ist jetzt ihr Problem, nicht wahr?« fragte er.

»Er ist kein gro?es Problem«, sagte ich. »Er hat Angst vor der Dunkelheit, und er heult oft, aber beides ist bei unserer Art Arbeit kein Problem. Wir erleben Schlimmeres.«

»Er heult viel?« fragte Hammersmith. »Nun, dazu hat er auch allen Grund, wurde ich sagen, wenn man bedenkt, was er getan hat. Was wollen Sie wissen?«

»Alles, was Sie mir sagen konnen. Ich habe Ihre Zeitungsartikel gelesen, und jetzt mochte ich alles horen, was nicht in der Zeitung stand.«

Er blickte mich scharf an. »Zum Beispiel, wie die kleinen Madchen aussahen? Was genau er ihnen angetan hat? Sind Sie an solchen Dingen interessiert, Mr. Edgecombe?« »Nein«, erwiderte ich in mildem Tonfall. »Es sind nicht die Detterick-Madchen, an denen ich interessiert bin, Sir. Die armen Kleinen sind tot. Aber Coffey ist es nicht - noch nicht -, und bin neugierig, etwas uber ihn zu erfahren.«

»In Ordnung«, meinte er. »Ziehen Sie sich einen Stuhl heran, und nehmen Sie Platz, Mister Edgecombe. Verzeihen Sie, wenn ich soeben ein wenig scharf geklungen habe, aber ich muss mich bei meinem Job mit vielen Geiern herumschlagen. Teufel, ich werde oft genug beschuldigt, selbst einer zu sein. Ich wollte nur sichergehen, dass Sie keiner dieser Blutsauger sind.« »Sind Sie jetzt davon uberzeugt?«

»Ja, ich denke schon.« Es klang fast gleichgultig. Die Geschichte, die er mir erzahlte, deckte sich im gro?en und ganzen mit der, die ich an fruherer Stelle erzahlt habe - wie Mrs. Detterick die Veranda leer vorgefunden, die Tur aus den Angeln gerissen, die Decken in einer Ecke, Blut auf der Verandatreppe entdeckt hatte; wie ihr Sohn

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