viele Urlaubstage, aber er nahm alle, die er hatte, damit er ihr bei dem, was sie zu tun hatte, helfen

konnte.

Meine Frau und ich besuchten Melinda drei oder vier Tage nach ihrer Heimkehr. Ich rief vorher an,

und Hal sagte ja, ein Besuch sei prima, Melinda habe einen ziemlich guten Tag und wurde sich freuen,

uns zu sehen.

»Ich hasse solche Besuche«, sagte ich zu Janice, als wir zu dem kleinen Haus fuhren, in dem die

Moores die meiste Zeit ihrer Ehe verbracht hatten.

»So geht es jedem, Schatz«, erwiderte sie und tatschelte meine Hand. »Wir werden es tapfer ertragen

- und sie wird es ebenfalls ertragen.«

»Das hoffe ich.«

Melinda sa? im Wohnzimmer in einem Streifen Oktobersonne, die fur die Jahreszeit erstaunlich warm

war, und meine erste entsetzliche Wahrnehmung bestand darin, dass sie neunzig Pfund verloren

hatte. Das stimmte naturlich nicht - wenn sie so viel Gewicht verloren hatte, ware sie kaum dort im

Wohnzimmer gewesen, aber das war die erste Reaktion meines Gehirns auf das, was meine Augen

meldeten. Ihr Gesicht war eingefallen, und ihre Haut war wei? und wirkte wie Pergament, das uber

die Knochen gespannt wurde. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Und zum ersten Mal sah ich sie

in ihrem Schaukelstuhl, ohne dass sie irgendwelche Stoffreste zu einem Flickenteppich verarbeitete.

Sie sa? einfach nur da. Wie jemand in einem Bahnhof. »Melinda«, sagte meine Frau herzlich. Ich

denke, sie war genauso geschockt wie ich - vielleicht noch mehr -, aber sie verbarg es hervorragend,

wie manche Frauen das eben konnen. Sie ging zu Melinda, lie? sich neben dem Schaukelstuhl auf ein

Knie nieder und ergriff eine Hand der Frau des Direktors. Wahrend sie das tat, fiel mein Blick zufallig

auf den blauen Kaminvorleger.

Es kam mir in den Sinn, dass er die Farbe von verschrumpelten alten Limonen haben sollte, denn jetzt

war das Zimmer einfach eine andere Version der Green Mile.

»Ich habe Ihnen etwas Tee mitgebracht«, sagte Janice. »Die Sorte, die ich selbst zusammenstelle.

Man kann gut danach schlafen. Ich habe ihn in der Kuche gelassen.«

»Vielen Dank, meine Liebe«, sagte Melinda. Ihre Stimme klang alt und bruchig.

»Wie fuhlen Sie sich?« fragte meine Frau.

»Besser«, sagte Melinda mit ihrer bruchigen, heiseren Stimme. »Nicht so, dass ich tanzen gehen

mochte, aber heute habe ich wenigstens keine Schmerzen. Sie haben mir einige Tabletten gegen

Kopfschmerzen mitgegeben. Manchmal wirken die sogar.«

»Das ist doch gut, nicht wahr?«

»Aber ich kann nicht richtig zugreifen. Irgend etwas ist mit meiner Hand passiert.« Sie hob sie an und

betrachtete sie, als hatte sie die Hand noch nie gesehen, und dann lie? sie sie auf ihren Scho? sinken.

»Irgend etwas ist geschehen ... mit meinem ganzen Korper.« Sie begann lautlos zu weinen, und ich

musste an John Coffey denken. Ich glaubte ihn wieder sagen zu horen: Ich habe geholfen, nicht

wahr? Ich habe geholfen, nicht wahr? Wie ein Reim, den man nicht vergessen kann. Hal kam ins

Wohnzimmer. Er zog mich zur Seite, und glauben Sie mir, ich war froh daruber. Wir gingen in die

Kuche. Er schenkte mir wei?en Whiskey ein, hei?e Ware, frisch aus dem Destillierapparat irgendeines

Farmers. Wir stie?en an und tranken. Das Feuerwasser schmeckte grauenhaft, aber die Warme im

Magen war himmlisch. Dennoch winkte ich ab, als Moores gegen den Tonkrug tippte und wortlos

fragte, ob ich noch einen Schluck wollte.

Wild Bill Wharton war nicht mehr in der Gummizelle - jedenfalls im Augenblick nicht -, und man

konnte sich in seiner Nahe noch weniger sicher fuhlen, wenn man vom Alkohol benebelt war. Nicht

einmal mit den Gitterstaben zwischen uns.

»Ich wei? nicht, wie lange ich dies ertragen kann, Paul«, sagte Moores leise. »Ein Madchen kommt

morgens und hilft mir mit ihr, aber die Arzte sagen, dass sie vielleicht die Kontrolle uber ihren Harn

und Stuhl verliert und ... und ...« Er konnte nicht weitersprechen, schluckte und kampfte gegen die

Tranen an.

»Sie mussen da durch, so gut es geht«, sagte ich, griff uber den Tisch und druckte kurz seine zittrige

Hand mit den Leberflecken. »Sagen Sie sich das Tag fur Tag, und uberlassen Sie den Rest Gott. Sie

konnen ja gar nichts anderes tun.«

»Vermutlich nicht Paul. Aber es ist hart. Ich bete, dass Sie nie selbst herausfinden mussen, wie hart«

Er versuchte, sich unter Kontrolle zu bekommen.

»Erzahlen Sie mir jetzt was es Neues gibt. Wie kommen Sie mit William Wharton zurecht? Und wie

werden Sie mit Percy Wetmore fertig?«

Wir sprachen eine Zeitlang uber den Job und uberstanden so den Besuch.

Danach, auf der ganzen Heimfahrt bei der meine Frau die meiste Zeit stumm, mit feuchten Augen und

in Gedanken versunken auf dem Beifahrersitz sa?, gingen mir Coffeys Worte durch den Kopf - etwa so

schnell, wie Mr. Jingles durch Delacroix Zelle flitzte: Ich habe geholfen, nicht wahr?

»Es ist schrecklich«, meinte meine Frau irgendwann. »Und keiner kann ihr helfen.«

Ich nickte beipflichtend und dachte: Ich habe geholfen, nicht wahr? Aber das war verruckt und ich

bemuhte mich, diese Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Als wir auf unserem Hof hielten,

brach Janice zum zweiten Mal ihr Schweigen - sie sprach nicht uber ihre alte Freundin Melinda,

sondern uber meine Blaseninfektion. Sie wollte wissen, ob sie tatsachlich weg war. Tatsachlich weg,

versicherte ich. Geheilt.

»Das ist schon«, sagte Janice und kusste mich uber der Augenbraue, auf die Stelle, wo es auch jetzt

wieder prickelte. »Wei?t du, wir hatten eine Menge nachzuholen. Wenn du Zeit und Lust hast, meine

ich.«

Da ich viel von letzterem und genug vom ersten hatte, nahm ich sie an der Hand, fuhrte sie ins

hintere Schlafzimmer und zog sie aus, wahrend sie den Teil von mir streichelte, der anschwoll und

pochte, jedoch nicht mehr weh tat. Und als ich in sie hineintauchte, auf die langsame Weise

hineinschlupfte, die sie mochte - die wir beide mochten -, dachte ich an John Coffeys Worte. Ich habe

geholfen, nicht wahr? Ich habe geholfen, nicht wahr? Wie ein Liedfetzen, der einen erst in Ruhe lasst

wenn die Zeile komplett ist.

Als ich spater zum Gefangnis fuhr, dachte ich daran, dass wir bald fur Delacroix Hinrichtung proben

mussten. Das erinnerte mich daran, dass Percy diesmal in der ersten Reihe stehen wurde, und ich

erschauderte. Ich sagte mir, dass ich mich damit abfinden sollte. Noch eine Hinrichtung, und wir

wurden Percy ein fur allemal los sein. Aber die Gansehaut blieb, als ob die Infektion, unter der ich

gelitten hatte, uberhaupt nicht geheilt war, sondern nur den Ort gewechselt hatte und jetzt nicht mehr

meinen Unterleib kochte, sondern mein Ruckgrat vereiste.

7

»Komm schon«, sagte Brutal am nachsten Abend zu Delacroix. »Wir machen einen kleinen

Spaziergang. Du und ich und Mr. Jingles.«

Delacroix schaute ihn misstrauisch an und griff dann in der Zigarrenkiste nach der Maus. Er hielt sie

auf der Handflache und schaute Brutal aus schmalen Augen an. »Wovon reden Monsieur?«

»Es ist ein gro?er Abend fur dich und Mr. Jingles«, sagte Dean, als er mit Harry zu ihnen stie?. Die

Wurgemale um seinen Hals hatten eine hassliche gelbliche Schattierung angenommen, aber Dean

konnte wenigstens wieder sprechen, ohne dass es klang, als belle ein erkalteter Hund eine Katze an.

Er sah Brutal an. »Meinst du, wir mussen ihm die Ringe anlegen, Brutal?«

Brutal gab vor, daruber nachzudenken. »No«, antwortete er schlie?lich. »Er wird brav sein, nicht

wahr, Del? Du und die Maus, ihr werdet beide brav sein. Schlie?lich tretet ihr heute Abend vor ein

paar hohen Tieren auf.«

Percy und ich standen beim Wachpult und beobachteten die Szene. Percy hatte die Arme verschrankt,

und ein leichtes verachtliches Lacheln spielte um seine Lippen. Nach einer Weile nahm er seinen

Hornkamm aus der Tasche und begann, sein Haar damit zu bearbeiten. John Coffey verfolgte das

Geschehen ebenfalls aufmerksam. Stumm stand er hinter den Gitterstaben seiner Zelle. Wharton lag

auf seiner Pritsche, starrte an die Decke und ignorierte die ganze Show.

Er war immer noch >brav<, obwohl das, was er brav nannte, von den Arzten in Briar Ridge als

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