»Sogar als ihm bewusst wurde, dass ihr ihn in die Gummizelle sperren wolltet, war er ruhig und
wehrte sich nicht?«
»So ist es.« Ich verspurte den Drang, das auszuschmucken - Percy wenigstens ein paar Worte
zuzubilligen -, und bezwang ihn. Je einfacher, desto besser, und das wusste ich. »Es gab kein
Theater. Er ging einfach in eine der hinteren Ecken und setzte sich.«
»Sprach er uber Wharton?«
»Nein, Sir.«
»Auch nicht uber Coffey?«
»Auch nicht uber Coffey.«
»Hatte Percy etwas gegen Wharton? Hat er den Mann gehasst?«
»Das kann sein«, sagte ich und senkte die Stimme noch mehr. »Percy war unvorsichtig, Hal. Einmal
packte ihn Wharton, zog ihn an die Gitterstabe und setzte ihm ziemlich zu.«
»Nichts Schlimmeres? Er >setzte ihm nur zu< ... und das war alles?«
»Ja, aber es war trotzdem ziemlich schlimm fur Percy. Wharton sagte, dass er lieber Percy als dessen
Schwester vogeln wurde.«
»Hm.« Moores blickte zu John Coffey, als brauchte er eine standige Bestatigung, dass Coffey eine
reale Person war, tatsachlich auf der Welt »Das erklart nicht, was mit ihm passierte, aber es kommt
einer Erklarung nahe, warum Percy sich Wharton vornahm und nicht Coffey oder einen von Ihren
Mannern. Und da wir gerade von Ihren Mannern sprechen, Paul, werden sie alle die gleiche
Geschichte erzahlen?«
»Jawohl, Sir«, sagte ich.
»Und das werden sie«, sagte ich zu Jan und loffelte die Suppe, die sie zum Tisch gebracht hatte.
»Dafur werde ich sorgen.«
»Du hast gelogen, wenn auch nur ein bisschen«,
sagte Janice. »Du hast Hal belogen.« Nun, das ist eine Frau, was? Immer sucht sie nach
Mottenlochern in meinem besten Anzug und wird oftmals fundig.
»Nun, wenn du es so sehen willst. Aber ich habe ihm nichts gesagt, mit dem wir nicht leben konnen.
Hal ist aus dem Schneider. Er war schlie?lich uberhaupt nicht da. Er war daheim und pflegte seine
Frau, bis Curtis ihn anrief.«
»Sagte er, wie es Melinda geht?«
»Nicht bei diesem Gesprach, dazu war keine Zeit, aber er sprach wieder mit mir, als Brutal und ich
gingen. Melly erinnert sich nicht an viel, aber es geht ihr prima. Sie ist wohlauf und geht herum. Redet
von den Blumenbeeten des nachsten Jahres.«
Meine Frau schaute mir eine Weile beim Essen zu.
Dann fragte sie: »Wei? Hal, dass es ein Wunder ist, Paul? Versteht er das?«
»Ja. Wir alle, die dabei waren, verstehen das.«
»Ein Teil von mir wunscht, ich ware ebenfalls dabei gewesen«, sagte Janice, »aber ich glaube, in
Wirklichkeit bin ich froh, dass ich nicht dabei war. Wenn ich gesehen hatte, wie es Saulus auf der
Stra?e nach Damaskus wie Schuppen von den Augen fiel, ware ich vermutlich an einem Herzanfall
gestorben.«
»Nie«, sagte ich und neigte meinen Suppenteller, um den letzten Loffel voll zu ergattern, »du hattest
ihm vermutlich eine Suppe gekocht. Die ist wirklich hervorragend, Schatz.«
»Gut« Aber sie dachte nicht wirklich an Suppe oder ans Kochen oder an Saulus' Bekehrung auf der
Stra?e nach Damaskus. Sie schaute aus dem Fenster zu den Hugeln, stutzte das Kinn in die Hand, und
ihr Blick war verhangen wie unsere Hugel an einem Sommermorgen, wenn es hei? wird. Wie an
jenem Sommermorgen, an dem die Detterick-Madchen gefunden wurden, dachte ich. Ich fragte mich,
warum sie nicht geschrieen hatten. Ihr Morder hatte sie verletzt; es war Blut auf der Veranda und auf
der Treppe gewesen. Warum hatten sie nicht geschrieen?
»Du denkst, in Wirklichkeit hat John Coffey diesen Wharton umgebracht, nicht wahr?« fragte Janice
und wandte endlich den Blick vom Fenster. »Dass es kein Unfall oder so was war; du glaubst er
benutzte Percy Wetmore als Waffe gegen Wharton?«
»Ja.«
»Warum?«
»Ich wei? es nicht«
»Erzahl mir noch einmal, was geschah, als du Coffey von der Meile fortgebracht hast, ja? Nur diesen
Teil, als ihr zu den Moores gefahren seid.«
Und das tat ich. Ich erzahlte ihr, dass mich der dunne Arm, der zwischen den Gitterstaben
hervorgeschossen war und John am Bizeps gepackt hatte, an eine Schlange erinnert hatte - an eine
der Mokassinschlangen, vor denen wir alle Angst gehabt hatten, als wir als Kinder im Fluss
geschwommen hatten - und dass Coffey Wharton als bosen Mann bezeichnet hatte. Das hatte er fast
geflustert.
»Und Wharton sagte ...?«
Meine Frau blickte wieder aus dem Fenster, aber sie horte zu.
»Wharton sagte: »Stimmt Nigger, so bose du dir nur denken kannst.«
»Und das war alles?«
»Ja. Ich hatte in diesem Augenblick das Gefuhl, dass etwas passieren wurde, aber nichts geschah.
Brutal zog Whartons Hand von John fort und befahl ihm, sich auf die Pritsche zu legen, und Wharton
tat es. Er sagte, dass Nigger ihren eigenen elektrischen Stuhl haben sollten, und das war alles. Wir
machten mit der Arbeit weiter.«
»John Coffey nannte ihn einen bosen Mann.«
»Ja. Das gleiche sagte er auch einmal uber Percy. Ich kann mich nicht genau erinnern, wann, aber ich
wei?, dass er das sagte.«
»Aber Wharton hat John Coffey nie etwas personlich getan, oder? Er hat ihn nie angegriffen wie
Percy, meine ich.«
»Stimmt. Ihre Zellen lagen weit auseinander -Whartons Zelle auf Hohe des Wachpults, Johns Zelle ein
Stuck weiter auf der anderen Seite -, und sie konnten sich kaum sehen.«
»Erzahl mir noch einmal, wie Coffey aussah, als Wharton ihn schnappte.«
»Janice, das fuhrt uns zu nichts.«
»Vielleicht nicht, vielleicht doch. Erzahl mir, wie er aussah.«
Ich seufzte. »Man konnte sagen: schockiert. Er schnappte nach Luft. Wie du es tun wurdest, wenn du
dich am Strand sonnst und ich schleiche mich heran und tropfle dir kaltes Wasser auf den Rucken.
Oder als ob er geschlagen worden ware.«
»Ja, sicher«, sagte Janice. »Er erschrak, als er wie aus dem Nichts gepackt wurde.«
»Ja«, sagte ich. Und dann: »Nein.«
»Was denn nun? Ja oder nein?«
»Nein. Es war kein Erschrecken. Es war wie zu dem Zeitpunkt als er wollte, dass ich in seine
Zelle komme, damit er meine Blaseninfektion heilen konnte. Oder als er mir die Maus reichen wollte.
Es war Uberraschung, aber nicht weil er beruhrt wurde ... nicht
es nicht«
»In Ordnung, belassen wir es dabei«, sagte sie. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum er es
tat das ist alles. Er ist offenbar nicht gewalttatig von Natur aus. Was zu einer anderen Frage fuhrt
Paul: Wie kannst du ihn hinrichten, wenn du mit diesen Madchen recht hast? Wie kannst du ihn auf
den elektrischen Stuhl setzen, wenn ein anderer ...«
Ich ruckte auf meinem Stuhl hoch. Mein Ellenbogen stie? gegen den Suppenteller und warf ihn zu
Boden, wo er zerbrach. Mir war eine Idee gekommen. Es war zu diesem Zeitpunkt mehr Intuition als
Logik, aber die Idee hatte einen gewissen Reiz.
»Paul?« fragte Janice besturzt »Was ist los?«
»Ich wei? es nicht«, sagte ich. »Ich wei? nichts mit Sicherheit aber ich werde es herausfinden, wenn