Politik zuruckgezogen, um sich der Viehzucht zu widmen, und hat einen Hato begrundet, dessen Corral gegen hundert Thiere enthalt, die von einigen Bauern und deren Familien gepflegt werden. Rund um den
Hato liegen Felder mit Mais, Manioc und Zuckerrohr, schon eingefa?t von herrlichen Bananen, die alle Bedurfnisse dieser glucklichen und stillen Welt befriedigen.«
Dieser Herr Marchal, der sich gerade in Geschaftsangelegenheiten nach la Urbana begeben hatte, befand sich hier also beim Eintreffen der Piroguen. Er war auf seinem eignen, von zwei Leuten bemannten Curiare gekommen und bei dem obersten Beamten abgestiegen, mit dem er befreundet war. Naturlich gehorte er deshalb zu den Personen, die zur heutigen Soiree eingeladen wurden.
In dem kleinen Orte, schon hoch oben in den Ilanos des Orinoco, darf man naturlich nicht an einen Gesellschaftsabend unsrer vornehmen Welt denken. An Stelle seiner Pasteten, kostlichen Zuckerwerks, gewahlter Weine und beliebter Liqueure gab es hier Kuchen, den die Hausfrau selbst mit ihren Tochtern gebacken hatte - vor Allem aber einen aufrichtig herzlichen Empfang. Dazu wurden einige Tassen des vortrefflichen Bruquilla-Kaffees aufgetragen, der von einer krautartigen, auf dem Hato des Herrn Marchal selbst angebauten Leguminose gewonnen wird.
Dem bejahrten Herrn machte es ein gro?es Vergnugen, mit Jean von Kermor in der Landessprache zu plaudern. Er erwahnte auch, da? dessen Landsmann vor funf Jahren, leider nur gar zu kurze Zeit, sich auf seinem Hato aufgehalten habe.
»Er war aber einmal voller Ungeduld, seine abenteuerliche Fahrt fortzusetzen, fugte Herr Marchal hinzu. Das ist ein kuhner Pionier, lieber junger Freund. Jede Gefahr verachtend, hat er unsern Landesstrom selbst mit Lebensgefahr bis an seine Quellen verfolgt. Wahrlich, ein Franzose, der Frankreich Ehre macht!«
Diese mit lebhaftem Ausdrucke gesprochenen Worte zeigten, da? das Herz des ehrwurdigen Venezuolaners seinem einstigen Gast noch ein gutes Andenken bewahrte.
Als die Herren Marchal und der Beamte horten, welches Ziel die Herren Miguel, Felipe und Varinas verfolgten, glaubte Jean von Kermor zu bemerken, da? sie sich etwas verwundert ansahen. Fur sie war ja die Frage wegen des Orinoco, entsprechend der Anschauung des Herrn Miguel, schon zweifellos gelost.
Obwohl Herr Marchal nun San-Fernando recht gut kannte und sein Urtheil bezuglich des Atabapo und des Guaviare schon lange feststand, unterlie? er es doch nicht, die drei Mitglieder der geographischen Gesellschaft dahin anzuregen, da? sie ihre Untersuchungen ja bis zum Zusammenflusse der drei Wasserlaufe ausdehnen sollten.
»Die Wissenschaft kann dadurch nur Vortheil haben, sagte er, und wer wei?, meine Herren, ob Sie von dieser Expedition nicht auch noch neue, personliche Entdeckungen mitbringen.
- Das hoffen wir wenigstens, antwortete Herr Miguel, denn es handelt sich um den Besuch einer noch sehr unbekannten Gegend, und wenn wir selbst uber San-Fernando hinausgehen mu?ten.
- So gehen wir eben. fiel Herr Felipe ein.
- So weit wie es nothig scheint,« vollendete Herr Varinas den Satz.
Der Sergeant Martial verstand von diesem Gesprach nur sehr wenig, so da? ihm Jean dann und wann als Dolmetscher diente. Es erregte in ihm ein gewisses Erstaunen, da? Menschen -insofern sie nicht ihres Verstandes beraubt waren - eine solche Neugier zeigten, genau auszukundschaften, »aus welchem Loch ein Flu? sprudelt«.
»Nun ja, murmelte er, wenn alle Menschen verstandig waren, brauchte man nicht so viel Narrenhauser zu bauen!«
Das Gesprach wandte sich spater den beiden Franzosen zu, deren Ruckkehr nach la Urbana man bisher vergebens erwartet hatte. Der erste Beamte des Ortes hatte sie bei ihrem Eintreffen hier empfangen. Herr Marchal kannte sie ebenfalls, denn bei ihrer Abreise hatten sie sich einen Tag lang auf seinem Hato aufgehalten.
»Und seit ihrer Abreise, fragte Herr Miguel, haben Sie nichts wieder von ihnen gehort?
- Nicht das Mindeste, erklarte der Beamte. Die Ilaneros, die von Osten her heimkehrten und die wir wiederholt darum befragten, versichern alle, ihnen nicht begegnet zu sein.
- Hatten sie nicht auch die Absicht, nahm jetzt Jean von Kermor das Wort, den Orinoco hinauszugeben?
- Ja wohl, junger Freund, antwortete Herr Marchal, sie wollten dabei in den verschiedenen Ortschaften am Ufer Halt machen. Wie sie mir sagten, reisten sie ein wenig aufs Geradewohl. Der eine, Herr Germain Paterne, sammelte Pflanzen mit dem Eifer eines Naturforschers, der das Leben daran setzen wurde, eine noch unbekannte Art zu entdecken. Der andre, Herr Jacques Helloch, ein Jager vor dem Herrn, widmete sich leidenschaftlich geographischen Fragen, der Aufnahme einer Gegend oder der Bestimmung eines Flu?laufes. Solche Leidenschaften fuhren die Leute weit hinaus, oft sehr weit. vielleicht zu weit. und wenn sich's dann um die Ruckkehr handelt.
- Nun wir wollen hoffen, lie? sich Herr Varinas vernehmen, da? den beiden Franzosen kein Unfall zugesto?en ist!
- Ja, diese Hoffnung darf man nicht aufgeben, meinte der Beamte, obwohl ihre Abwesenheit nun schon etwas gar zu lange dauert.
- War es bestimmt, fragte Herr Felipe, da? sie nach la Urbana zuruckkehren sollten?
- Zweifellos, denn ihre Pirogue erwartet sie ja hier mit den Sammlungen, die sie schon zusammengebracht hatten, und mit allem Lagermaterial.
- Hatten sie bei ihrer Abreise, sagte Jean, einen Fuhrer oder Bedienungsmannschaften mit sich?
» - Ja, einige Yaruros, die ich ihnen selbst besorgt hatte, antwortete der Beamte.
- Und das waren Leute, zu denen Sie Vertrauen haben konnten? fragte Herr Miguel.
- Gewi?, soweit das moglich ist, wenn es sich um Indianer aus dem Innern handelt.
- Wei? man vielleicht auch, fuhr Jean fort, welchen Landestheil sie besuchen wollten?
- So weit ich ihre Absichten kenne, antwortete Herr Marchal, begaben sie sich zunachst nach der Sierra Matapey, im Osten des Orinoco, in nur wenig bekannte Gegenden, wo nur die Yaruros- und die Mapoyos-Indianer umherstreifen. Ihre beiden Landsleute und der Fuhrer der Begleitmannschaften waren zu Pferde, die andern Indianer, etwa ein halbes Dutzend, begleiteten sie als Gepacktrager zu Fu?.
- Ist das Land ostlich vom Orinoco wohl Ueberschwemmungen ausgesetzt? fragte Jean von Kermor.
- Nein, erwiderte Herr Miguel, die Ilanos liegen schon ziemlich hoch uber der Meeresflache.
- Das ist wohl richtig, Herr Miguel, erklarte der Beamte, dagegen kommen dort haufig Erderschutterungen vor, und Sie wissen ja, da? solche in Venezuela uberhaupt nicht selten sind.
- Das ganze Jahr hindurch? fragte der junge Mann.
- O nein, versicherte Herr Marchal, nur zu gewissen Zeiten; gerade seit einem Monat haben wir aber ziemlich heftige Erdsto?e bis zum Hato von la Tigra hinauf verspurt.«
In der That ist es bekannt, da? der Boden von Venezuela haufig von vulcanischen Erschutterungen betroffen wird, obgleich sich in den Bergen daselbst kein thatiger Vulcan vorfindet. Humboldt hat es sogar »das Erdbebenland par excellence« genannt. Diese Bezeichnung erhalt eine traurige
Bestatigung durch die im sechzehnten Jahrhundert erfolgte Zerstorung der Stadt Cumana, die funfzig Jahre spater noch einmal stark verheert wurde und deren Umgebungen funfzehn Monate lang nicht zur Ruhe kamen. Noch eine andre Stadt im Gebiete der Anden, Mesida, wurde durch schreckliche Erdbeben hart mitgenommen; ferner wurden 1812 nicht weniger als zwolftausend Bewohner von Caracas unter dessen Ruinen begraben. In den spanisch-amerikanischen Provinzen sind Unfalle, die gleich Tausende von Opfern kosten, stets zu befurchten, und auch jetzt fuhlt man den Fu?boden im ostlichen Theile des Orinoco fast fortwahrend erzittern.
Nachdem man sich uber Alles, was die beiden Franzosen betraf, hinreichend ausgesprochen hatte, wendete sich Herr Marchal fragend an den Sergeanten Martial und dessen Neffen:
»Wir wissen nun, zu welchem Zwecke die Herren Miguel, Felipe und Varinas ihre Fahrt auf dem Orinoco unternommen haben. Mit Ihrer Reise verfolgen Sie doch wohl nicht die namliche Absicht?«
Der Sergeant Martial machte eine deutlich verneinende Bewegung, auf einen Wink Jeans von Kermor mu?te er jedoch davon abstehen, seiner Verachtung solcher geographischen Fragen Ausdruck zu geben, die seiner Meinung nach nur fur Herausgeber von Lehrbuchern und Atlanten Interesse haben konnten.
Der junge Mann erzahlte darauf seine Geschichte, bekannte, warum er sich gedrangt gefuhlt habe, Frankreich zu verlassen, und welchem inneren Gefuhle er gehorchte, indem er den Orinoco hinauffuhr in der Hoffnung, in San-Fernando einige weitere Auskunft zu erhalten, da der letzte Brief seines Vaters von dort aus abgesandt worden war.