Der alte Herr Marchal konnte die Erregung nicht verbergen, die er bei dieser Antwort empfand. Er ergriff die Hand Jeans, zog ihn in seine Arme und ku?te ihn auf die Stirn - wobei der
Sergeant naturlich heimlich knurrte. Es schien, als gabe er ihm seinen Segen zu dem glucklichen Erfolge seiner Plane.
»Doch weder Sie, Herr Marchal, noch Sie, Herr Gouverneur, haben von dem Oberst von Kermor reden gehort?« fragte der junge Mann.
Beide verneinten diese Frage.
»Vielleicht hat sich der Oberst, fuhr der Beamte fort, in la Urbana gar nicht aufgehalten. Das wurde mich ubrigens wundern, denn es kommt nur selten vor da? sich die Piroguen hier nicht mit neuem Proviant versorgen. Es war im Jahre 1879, sagen Sie.
- Ja, Herr Gouverneur, antwortete Jean. Wohnten Sie damals auch schon hier?
- Gewi?, ich habe aber kein Wort davon gehort, da? ein Oberst von Kermor hier durchgekommen sei.«
Immer und immer das Incognito, das der Oberst seit seinem Verschwinden streng bewahrt zu haben schien.
»Das hat ja nicht viel zu bedeuten, junger Freund, meinte Herr Miguel, dagegen ist es fast undenkbar, da? sich von dem Aufenthalt Ihres Vaters in San-Fernando keine Spuren nachweisen lie?en. Dort werden Sie gewi? Mittheilungen erhalten, die den Erfolg Ihrer Nachsuchungen sichern.«
Die Gaste des Beamten blieben bis zehn Uhr beisammen und kehrten dann, nachdem sie von der freundlichen Familie herzlichen Abschied genommen hatten, an Bord der Piroguen zuruck, die morgen mit Tagesanbruch weiter fahren sollten.
Jean streckte sich auf seinem Lager im Hintertheile des Deckhauses aus, und der Sergeant Martial sachte nach wie gewohnlich vollendeter Muskitojagd auch seine Schlafstatte auf.
Beide schlummerten zwar bald genug ein, wurden aber nach nicht langer Zeit wieder wach.
Schon gegen zwei Uhr erweckte sie ein entfernter, fortdauernder und wachsender Larm.
Es war ein dumpfes Gerausch, das man hatte mit fernem Donnerrollen verwechseln konnen. Gleichzeitig gerieth das Wasser des Stromes in eine eigenthumliche Bewegung, bei der die »Gallinetta« zu schwanken anfing.
Der Sergeant Martial und der junge Mann standen auf, traten aus dem Deckhause heraus und stellten sich neben den Mast.
Der Schiffer Valdez und seine Leute befanden sich bereits auf dem Vordertheil und beobachteten den Horizont.
»Was bedeutet denn das? fragte Jean.
- Ich wei? es nicht.
- Ist ein Gewitter im Anzuge?
- Nein, der Himmel ist ganz wolkenlos und es weht eine schwache, ostliche Brise.
- Woher ruhrt denn dieser Aufruhr im Wasser?
- Ich vermag ihn nicht zu erklaren,« versicherte Valdez.
Die Erscheinung trotzte in der That jeder Erklarung, wenn nicht etwa stromauf- oder stromabwarts von der Ortschaft eine Fluthwelle heranrauschte, die durch ein plotzliches Steigen des Wassers entstanden war. Auf dem sehr launischen Orinoco war man vor keiner Ueberraschung sicher.
An Bord der »Maripare« herrschte unter den Passagieren wie unter der Mannschaft dasselbe Erstaunen.
Herr Miguel und seine beiden Freunde, die auch herausgetreten waren, versuchten vergeblich, die Ursache der auffallenden Erscheinungen zu ergrunden.
Auch als man sich zwischen beiden Piroguen daruber aussprach, gelangte man zu keiner annehmbaren Erklarung.
Wurde die Bewegung des Wassers in den beiden Falcas wahrgenommen, so machte sich auch eine Unruhe auf dem Uferlande bemerkbar.
Fast in derselben Minute sturzten die Einwohner la Urbanas aus ihren Hutten und Hausern und eilten nach dem Ufer hin.
Herr Marchal und der Beamte erschienen auch unter der Volksmenge, der sich ein nicht geringer Schrecken bemachtigt hatte.
Es war jetzt einhalbfunf Uhr fruh und der Tag begann allmahlich zu grauen.
Die Passagiere der beiden Fahrzeuge gingen ans Land, um den Beamten uber die seltsame Erscheinung zu befragen.
»Was geht denn vor? fragte Herr Miguel.
- Offenbar handelt es sich hier um ein Erdbeben in der Sierra Matapey, erwiderte der Beamte, und die Erschutterungen davon pflanzen sich bis unter das Flu?bett fort.«
Herr Miguel war derselben Ansicht. Es lie? sich kaum bezweifeln, da? die ganze Gegend unter seismischen Erschutterungen stand, die in den Ilanos ja so uberaus haufig vorkommen.
»Es mu? inde? noch etwas andres mit im Spiele sein, meinte Herr Miguel. Horen Sie nicht das grollende Gerausch von Osten her?«
Bei scharfem Lauschen bemerkte man in der That eine Art tiefes Grollen, uber dessen Natur sich niemand klar werden konnte.
»Trotz alledem, sagte Herr Marchal, glaube ich nicht, da? fur la Urbana irgendetwas zu furchten ist.
- Das meine ich auch, erklarte der Beamte, man konnte ohne Gefahr in die Hauser zuruckkehren.«
Das mochte richtig sein, dennoch folgten nur sehr wenige von den Anwesenden diesem Rathe. Uebrigens wurde es jetzt schon heller, und vielleicht konnte man dann mit den Augen die Erklarung einer Erscheinung finden, die mittelst des Gehors nicht zu erlangen war.
Drei volle Stunden nahm das ferne Gerausch ohne Unterla? zu. Es schien so, als ob die Bodenschichten ubereinander hinglitten. Dumpf und taktma?ig setzte sich das Phanomen auch noch nach dem Stromufer fort, als ware der Erdboden torfmoorartig elastisch. Da? die Erschutterungen von einem Erdbeben herruhrten, dessen Centrum sich in der Sierra Matapey befand, war hochst wahrscheinlich, da die Stadt schon wiederholt unter gleichen Umstanden zu leiden gehabt hatte. Was freilich das rollende Gerausch, ahnlich dem Larmen von einer auf dem Marsch befindlichen Armee, anging, konnte niemand dessen wirkliche Ursache errathen.
Der Beamte und Herr Marchal begaben sich, begleitet von den Passagieren der beiden Falcas, nach den ersten Abhangen des Cerro von la Urbana, um die Umgebung in weiterem Kreise uberblicken zu konnen.
Aehnlich einem mit leuchtendem Gase gefullten Ballon, der vom Winde nach den Ufern des Orinoco getrieben wurde, stieg die Sonne am vollig klaren Himmel empor. Nirgends war eine Wolke, nirgends ein Vorzeichen zu erblicken, da? sich ein Unwetter entwickeln konnte.
Als die Herren etwa drei?ig Meter hinauf gelangt waren, richteten sie die Blicke nach Osten hinaus.
Vor ihren Augen lag das ganze grenzenlose Land, die ungeheure grunende Ebene, jenes »schweigsame Grasermeer. wie die poetische Bezeichnung Elisee Reclus' lautete.
Dieses Meer erschien freilich nicht vollig ruhig, es mu?te unter der Oberflache machtig erschuttert werden, denn in funf bis sechs Kilometer Entfernung walzte sich eine Sandwolke daruber hin.
»Das ist dichter Staub, meinte Herr Marchal, Staub, der vom Erdboden aufsteigt.
- Vom Winde wird er aber nicht aufgewirbelt, erklarte Herr Miguel.
- Nein, denn der ist kaum fuhlbar, antwortete Herr Marchal. Sollten nur die Erderschutterungen daran schuld sein?. Nein, eine solche Erklarung ware nicht annehmbar.
- Und dann, setzte der Beamte hinzu, jenes Gerausch, das wie von schwerfalligen Maschinen herzuruhren scheint.
- Ja, was bedeutet das?« rief Herr Felipe.
Da vernahm man, gleich einer an ihn gerichteten Antwort, ein Krachen, das Krachen einer Feuerwaffe, das an dem Cerro von la Urbana und an andern Stellen ein Echo wachrief.
»Flintenschusse! platzte der Sergeant Martial heraus. Das sind doch Schusse, oder ich will Hans Taps hei?en!
- Da mussen drau?en Jager sein, meinte Jean.
- Jager, junger Freund? antwortete Herr Marchal. Die wurden nicht eine solche Unmasse Staub verursachen, sie mu?ten denn gleich zu Tausenden sein.«