Der Atabapo und der Guaviare sind an der Stelle, wo sie sich in den Orinoco ergie?en - der freundliche Leser verzeihe diese Hypothese bis zur weiteren Klarlegung der Sache - durch eine Art Halbinsel von einander getrennt. Die Betten beider Nebenflusse begrenzen, der erste an der Ost-, der zweite an der Westseite, diese Halbinsel, deren Spitze nach Norden zu hervortritt.

Hier erblickt man also den »Platz am Kreuzwege« den M. E. Reclus mit Recht das »wahre hydrographische Centrum der ganzen Landstrecke zwischen den Antillen und dem Amazonenstrome« genannt hat.

San-Fernando nimmt den westlichen Theil der genannten, gleichzeitig vom rechten Ufer des Atabapo begrenzten Halbinsel ein. Ob dieser Zuflu? unmittelbar in den Orinoco einmundet oder nur einen Nebenarm des Guaviare bildet, war zur Zeit noch eine dunkle Frage, die die bevorstehenden Untersuchungen der Herren Miguel, Felipe und Varinas vielleicht aufhellen sollten.

Die kleine Ortschaft selbst, die Solano 1757 grundete, liegt zweihundertsiebenunddrei?ig Meter uber der Meeresflache. Wenn je ein Flecken begrundete Aussicht hatte, sich in Zukunft zu gro?er Bedeutung zu entwickeln, trifft das gewi? fur San-Fernando zu. Um diesen geographischen Punkt verzweigen sich funf schiffbare Wasserstra?en: Der Atabapo fuhrt an Gavita voruber und durch die Becken des Rio Negro und des

Amazonenstromes nach Brasilien; der obere Orinoco nach den ostlichen Theilen Venezuelas und der mittlere Orinoco nach dessen westlichen Gebieten; der Yrinida vermittelt den Verkehr mit dem Sudwesten, und der Guaviare verlauft durch die Gebiete von Columbia.

Obgleich von San-Fernando aber ein richtiger Stern von Verkehrswegen ausstrahlt, scheint es davon, was den Ort selbst betrifft, doch noch keinen besonderen Nutzen gehabt zu haben. Im Jahre 1887, als Chaffanjon daselbst verweilte, ehe er seinen Zug nach den Orinocoquellen antrat, war es immer noch weiter nichts, als ein gro?es Dorf. Jetzt hatte sich die Zahl seiner Hauser sowohl, als auch die seiner Einwohner in dem Zeitraume von sieben Jahren, aber doch nur in bescheidener Weise, vermehrt.

San-Fernando wird im hochsten Falle funf- bis sechshundert Einwohner haben. Sie beschaftigen sich mit dem Bau kleinerer Fahrzeuge, die hier viel gebraucht werden, oder treiben Handel mit Kautschuk, Gummi und Fruchten, von letzteren vorzuglich mit denen der Piriguaopalme.

Von diesem Dorfe aus ging im Jahre 1882 der von Lejeanne begleitete Doctor Crevaux zu seinem Zuge den Guaviare aufwarts aus - zu jener Erforschungsfahrt, die dem Nekrologe der Entdecker unsers Zeitalters ein weiteres Opfer hinzufugen sollte.

Die Bevolkerung von San-Fernando umfa?t einige Familien von Wei?en, eine gewisse Zahl Neger und au?erdem Indianer, die zum gro?ten Theile dem Stamme der Banivas angehoren. Die Autoritat des Prasidenten der Republik und des Congresses wird hier durch einen Gouverneur vertreten, der nur uber eine sehr kleine Zahl von Soldaten verfugt. Diese Miliz versieht hauptsachlich den Polizeidienst im Gebiete der Provinz und wird durch Heranziehung weiterer Leute verstarkt, wenn es einmal gilt, die Banden, die das Uferland des Orinoco und seiner Zuflusse unsicher machen, zur Vernunft zu bringen.

Die Banivas verdienen unter den autochthonen Rassen Venezuelas besondre Erwahnung. Ihre physische Constitution stellt sie uber die Zugehorigen andrer Stamme. Sie zeigen einen kraftigen Korperbau mit muskulosen Gliedern, intelligentes Gesicht, sozusagen edles Blut, das unter ihrer rothlichen Haut dahinflie?t, und glanzende Augen, die ein wenig schief stehen. Auch vom moralischen Gesichtspunkte aus betrachtet uberragen sie die ubrigen Eingebornen, denn sie sind erwerbsthatig, ob sie nun als Ruderer dienen oder Hangematten oder Estrillas verfertigen, welch letztere zum Schleppen der Flu?schiffe dienen. Die Gutmuthigkeit und Ehrenhaftigkeit dieser Indianer empfehlen sie den Reisenden, die ihrer Dienste bedurfen. Sie sind Fischer, Jager und verstehen sich ebenso auf den Anbau und die Ernte des Kautschuks. Im Vergleich zu den Piaroas sind sie nicht einmal aberglaubisch zu nennen. Doch obwohl Anhanger der katholischen Religion, zu der sie durch glaubenseifrige Missionare bekehrt wurden, haben sie einzelne alte, ortliche Gebrauche beibehalten, die, wie es scheint, nur sehr schwer auszurotten sind.

Obgleich die Wohnstatten in San-Fernando meist auch nur den Namen Hutten oder Strohhauschen verdienen, finden sich darunter doch einige, die einen gewissen Comfort bieten.

Die Herren Miguel, Felipe und Varinas fanden Unterkommen beim Gouverneur. Der hochangesehene Mann bestand darauf, die drei Gelehrten aus Ciudad-Bolivar als Gaste aufzunehmen. Wahrscheinlich wurde die Behausung Seiner Excellenz also noch der Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen, die sie nahezu unbewohnbar machten. Auf diesem Punkte waren Herr Miguel und seine beiden Collegen inde? noch nicht angelangt. Ehe man in ernste Verhandlungen eintreten konnte, mu?ten die in Frage kommenden Oertlichkeiten besichtigt, naher erforscht und jedes Fur und Wider zur Formulierung eines Urtheils gegeneinander abgewogen werden. Die Streitfrage erheischte also eine sorgsame Untersuchung der Mundung der drei Flusse, langeren Aufenthalt an der Vereinigung des Atabapo und des Guaviare, vielleicht auch auf die Strecke von so und so viel Kilometern die Besichtigung ihres Laufes. Vorlaufig hatten inde? die Vertreter und Vertheidiger der drei Wasseradern grundlich auszuruhen, um sich von den Muhsalen einer uber sechswochigen Reise auf dem unteren und mittleren Orinoco zu erholen.

Der Sergeant Martial und Jean von Kermor konnten sich in einer Art leidlichen Gasthauses einmiethen, das unweit des Hafens lag und wo sie weitere Auskunft abzuwarten gedachten, um danach ihre Nachsuchungen in dieser oder jener Richtung fortzusetzen.

Jacques Helloch und Germain Paterne zogen es vor, gleich auf ihrer Pirogue zu bleiben. Einmal an diese schwimmende Wohnstatte gewohnt, glaubten sie sich hier besser untergebracht, als irgend wo anders. Die »Moriche« hatte sie nach San-Fernando gebracht, und die »Moriche« sollte sie nach Caicara zuruckfuhren, sobald ihre wissenschaftliche Mission erledigt ware.

Es bedarf wohl kaum der Erwahnung, da? die Schiffsleute, gleich nachdem die Wuth des Chubasco gebrochen war, sich beeilt hatten, die drei Falcas nach dem Hafen von San-Fernando zu schaffen. Das gelang noch am namlichen Abend, denn jene heftigen Sturme pflegen sich meist schon binnen zwei bis drei Stunden auszutoben. Ganz ohne Beschadigung waren die Piroguen bei den wiederholten Zusammensto?en auf dem Strome und bei dem schlie?lichen Auflaufen am Ufer freilich nicht davongekommen; die erlittenen Havarien waren aber so leichter Natur, da? sie schnell ausgebessert werden konnten. An Zeit jedoch fehlte es weder der »Maripare«, noch der »Moriche«, da ihre Passagiere jedenfalls in San-Fernando verweilen sollten. Mit der »Gallinetta« lag das nur insofern anders, als Jean, ohne einen Tag zu verlieren, weiter fahren wollte, sobald ihn irgendwelche Aufschlusse auf die Spuren des Oberst von Kermor hinwiesen.

Seine Reisegenossen, die sich fur das Unternehmen des jungen Mannes ja so lebhaft interessierten, wollten auch nichts unversucht lassen, weitere Nachrichten zu erlangen. Durch Herrn Miguel und seine beiden Collegen war ferner die Mitwirkung des Gouverneurs von San-Fernando so gut wie gesichert, und kein Besserer als er hatte ja eine genaue Umfrage in die Hand nehmen konnen. Jacques Helloch und Germain Paterne wollten ebenfalls ihr Moglichstes thun, um ihre Landsleute zu unterstutzen. Sie besa?en Empfehlungsbriefe an einen hervorragenden und sehr gefalligen wei?en Bewohner des Ortes, an einen jetzt achtundsechzigj ahrigen Herrn Mirabal, dessen schon Chaffanjon in dem Berichte uber seinen Zug nach den Quellen des Orinoco mit dankbarer Anerkennung Erwahnung thut. Die beiden - oder vielmehr die vier - Franzosen fanden bei dessen hochachtbaren, liebenswurdigen Familie gewi? den besten Empfang.

Ehe wir jedoch von den Schritten erzahlen, die die Reisenden nach ihrem Eintreffen in San-Fernando unternahmen, sei noch kurz geschildert, wie sie nach der Strandung der Piroguen den Weg nach der Ortschaft zurucklegten.

Wie erwahnt, trug der Sergeant Martial Jean in den Armen, die Herren Miguel, Felipe und Varinas gingen den Beiden voraus, und Jacques Helloch nebst Germain Paterne folgten ihnen nach. Letzterer hatte versichert, da? eine ruhige Nacht dem jungen Manne alle fruheren Krafte wiedergeben werde. Vorsorglicherweise hatte er gleich seine Reiseapotheke mitgenommen, an Hilfe und Pflege konnte es dem jungen Manne also nicht fehlen. Es war freilich ebenso verletzend wie unbegreiflich, da? der Sergeant Martial Germain Paterne immer in gewisser Entfernung zu halten suchte, wenn dieser sich einmal theilnehmend nahern wollte.

»Es ist schon gut. schon gut! knurrte er dann. Mein Neffe athmet ebenso frei wie Sie und ich, und sobald die »Gallinetta« im Hafen liegt, wird es uns an nichts mangeln.

- In einigen Stunden wird sie da sein, erklarte Jacques Helloch, der von Valdez und Parchal wu?te, da? die Piroguen noch am Abend eintreffen sollten.

- Das ist ja recht schon, erwiderte der Sergeant Martial, doch wenn wir in San-Fernando nur ein gutes Bett finden. Ah, Herr Helloch, ich danke Ihnen auch noch, da? Sie den Kleinen gerettet haben!«

Offenbar hatte er sich schlie?lich gesagt, da? er jenem diesen einfachen und kurzen Dank schuldig sei, und

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